Dohlenfelder Thronfolgestreit - Im Heerlager der Verbündeten Hagens

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Texte der Hauptreihe:
K28. Sieg
K95. Kajax
K118. Rückzug!
K121. Im Kosch
K122. Frieden!
K123. Epilog
1033 BF
Im Heerlager der Verbündeten Hagens
Siobháran oder Hartsteen


Kapitel 110

Im Lazarett am Darlinufer II
Autor: Reichskammerrichter, Geron, weitere

Nordmarken, 1033

In voller Gefechtsbereitschaft und wohl geordnet erreichten erst einhundert leichte Reiter und Ritter, dann dreihundert Fußsoldaten das Heerlager Hagens und seiner Verbündeten an der Via Ferra, alle trugen die Farben der Herzoglichen Vogteien Fuchsgau und Arraned sowie der Baronie Eisenstein.
Das Lager war vor zwei Tagen auf der Eckbertshöhe errichtet worden war. Viele Hundert Trossmägde und -knechte, Ehepartner, Geliebte und Kinder der Kämpfer sowie erkrankte und verletzte Streiter hatten an der Nordflanke des Hügels den bisherigen Schlachtverlauf mit Entsetzen beobachtet. Und nun marschierten die Truppen, die vor einer Viertelstunde noch die stolze linke Flanke von Hagens Heer gebildet hatten und nun für die absehbare Niederlage gegen Angronds Truppen verantwortlich sein würden, in aller Seelenruhe am Tross vorbei.
Die Trossleute Eisensteins und Fuchsgaus schienen genauso überrascht von der Wende zu Beginn der Schlacht wie alle übrigen im Lager, machten sich aber, nachdem ihnen der Profos die entsprechenden Anweisungen gegeben hatte, sogleich daran, die Zelte abzubauen und die Wagen und Tragtiere zu beladen.
„Feiglinge!“, „Verräter!“, „Schande!“, „Wendehälse!“ schallte es den sich vom Schlachtfeld entfernenden Truppen entgegen, es dauerte nicht lange, bis Steine und Unrat in Richtung der Fuchsgauer, Arraneder und Eisensteiner Reiter flogen.
Die ersten Trossleute, voller Wut und nicht selten sogar hasserfüllt, rotteten sich zusammen und bewaffneten sich, um gegen die sich zurückziehenden Kämpfer vorzugehen. Doch schien ihnen der Mut zu fehlen, die hochgerüsteten Reiter und die ihnen folgende Infanterie anzugehen, so dass es nur zu vereinzelten Übergriffen gegen die Trossknechte aus den Vogteien und Eisensteins kam, die dabei waren, ihre Zelte übereilt abzubrechen. Die wenigen Geweihten im Lager hatte große Not, ein Hauen und Stechen zwischen den Mägden und Knechten der verschiedenen Parteien zu verhindern.
Eine kleine Gruppe junger Frauen und Männer, Trossleute vor allem aus den Koschbaronien Sindelsaum und Dunkelforst sowie der Stadt Salmingen, zur Hälfte mit Armbrüsten und zur Hälfte mit langen Spießen bewaffnet, drängte plötzlich auf die Via Ferra – und versperrte, nachdem die leichtere Kavallerie bereits passiert hatte, den gut zwei Dutzend Rittern Fuchsgaus, Arraneds und Eisensteins den Weg. An der Spitze der Ritter fand sich der Baron zu Eisenstein höchstselbst, knapp hinter ihm die beiden herzoglichen Vögte.
In Windeseile waren die Ritter von vielen Dutzend Trossleuten umringt, die ersten Pferde scheuten, Steine flogen und prallten scheppernd an den Plattenrüstungen ab, nervöse Ritter zogen ihre Schwerter, gleich würde der erste Reiter vom Ross stürzen, von einem Dutzend Hände heruntergerissen. Die nachrückende Infanterie war aufgrund der schieren Zahl an Trossleuten nicht in der Lage, zu den Reitern aufzuschließen und ihnen beizustehen – womöglich ahnte man bei den Fußtruppen nicht einmal, wie sehr sich die Lage weiter vorne zuspitzte.
Während der Vogt zu Fuchsgau einem allzu forschen Knecht vom Pferd herab einen kräftigen Tritt versetzte, baute sich der Eisensteiner, sein Schwert noch in der Scheide, zutiefst erbost im Sattel auf und donnerte den Trossleuten entgegen, was sie ohnehin alle wussten:
„Ich bin Seine Hochgeboren Rajodan von Keyserring auf Eisenstein!“
Ein Koscher Trossknecht richtete seine gespannte Armbrust auf den Baron und rief: „Beim Heiligen Baduar! Für Deinen Verrat an Baron Hagen wirst Du bezahlen, elender Hinterkoscher!“
Gleichzeitig versuchte eine Magd, den Zügel des Streitrosses des Eisensteiners zu packen.
Von seinem Streitross herab fuhr der Baron in seiner prunkvollen, von Zwergen gefertigten Rüstung den Armbruster an: „Was wagt der einfältige Bengel es, seine ehrlose Waffe auf einen Adligen zu richten? Soll ich etwa absteigen und ihm Manieren beibringen? Und das Weib nimmt sofort seine Dreckfinger von meinem edlen Elenviner, es bleibe bei seinen stinkenden Ziegen und Schafen – oder ich vergesse mich!“
Den Nachsatz schrie Baron Rajodan mit größter Schärfe so laut heraus, dass er den Lärm, der um ihn herum aufgebrandet war, mit Leichtigkeit übertönte.
Es wurde so still, dass man den Kampfeslärm vom einige hundert Schritt nördlich liegenden Schlachtfeld, das Waffengeklirre, das Wiehern der Pferde, die Kampf- und Schmerzensschreie der Streiter, mehr als deutlich hören konnte. Der sichtlich verwirrte Trossknecht mit der Armbrust schaute sich um, die Blicke der meisten seiner Kameraden wichen ihm aus, viele schauten zum Boden. Der Bursche ließ seine Armbrust sinken, die Magd hatte sich leichenblass vom Streitross des Barons entfernt und war bemüht, so wenig wie möglich aufzufallen.
Rajodan von Keyserring, wie immer vor Standesbewusstsein und Arroganz strotzend, hielt seine Zügel nun wieder fest in beiden Panzerhandschuhen, sprach weiter, immer noch laut und befehlsgewohnt, aber nun ohne die Aggressivität, die eben noch in seiner Stimme gelegen hatte:
„Macht den Weg für die Vögte des Herzogs und mich frei! Sofort!“
Binnen weniger Wimpernschläge bildeten die Koscher Trossleute, die eben noch den Weg versperrt hatten, eine schmale Gasse, der Elenviner Hengst des Eisensteiners ging ruhig und im langsamen Schritt weiter. Der Baron würdigte sein Spalier keines Blickes, stattdessen schaute er ernst zu einem seiner Ritter, einem jungen Burschen, der erst kürzlich den Ritterschlag erhalten hatte, und sprach:
„Steckt Euer Schwert ein. Das hier sind keine Feinde. Im Gegenteil, es sind nur ein paar unbelehrbare Gemeine, die vergessen haben, wo ihr Platz ist. Es ist unsere göttergegebene Pflicht, sie vor Dummheiten zu bewahren. Zudem sind es Koscher, bekanntermaßen nicht die klügsten Gesellen auf dem Derenrund.“
Die herzoglichen Vögte zu Fuchsgau und Arraned setzten ihren Ritt regungslos fort.

Ansoalda von Leihenhof, die Baronin zu Dunkelforst, Baruns Pappel und Dohlenfelde, war hoch zu Ross am Rande des Feldlagers und schaute gen Norden, zur Walstatt, wo die Entscheidungsschlacht tobte. Die hochgewachsene, schwarzhaarige junge Hochadlige wollte nicht wahrhaben, was dort vor sich ging – wie konnte es sein, dass die Himmlische Leuin dieses Mal nicht mit ihrem Gatten war, den sie bislang so zuverlässig beschirmt hatte?
Ansoalda trug keine Rüstung, sondern ein ebenso edles wie bequemes Gewand aus Elfenbausch. Ihr Schwert war gegürtet, unruhig spielten ihre Finger mit dem Knauf. Wäre es nicht unter ihrer Würde gewesen, hätte sie den Eisensteiner und die beiden Vögte für deren schändlichen Verrat zur Rede gestellt. So hatte sie den Zwischenfall nur von Ferne verfolgt.
Exakt vor einem Götter- und elf Praiosläufen, am Tag des Schwurs 1032 BF, hatte Ansoalda Hagen von Salmingen-Sturmfels geheiratet, die rauschenden Hochzeitsfeierlichkeiten in der Stadt Salmingen sollten allen Beteiligten noch lange in Erinnerung bleiben, eine „Brücke über den Kosch“ wurde die Ehe zwischen den Häusern Salmingen-Sturmfels und Leihenhof genannt.
Doch die feierliche und sorglose Eheschließung mit ihren vielen Dutzend hochadligen Gästen war gefühlt nun, am 16. Rondra 1033 BF, schon mehr als eine Ewigkeit her. Ansoalda musste hilflos mitanschauen, wie die auch für Hagen und sie tapfer streitenden, aber schlicht und einfach an Zahl unterlegenen Truppen immer weiter in die Defensive gerieten. Viele Dutzend guter Kämpfer waren dort unten bereits gefallen, noch viel mehr würden für den Rest ihres Lebens gezeichnet sein, sei es an Körper oder Seele oder beidem.
Aber die Frucht, die sie im Leib trug, verbot es ihr, mit ihrer kleinen Leibgarde in den Kampf einzugreifen. Sie ließ die rechte Hand sanft über ihren noch flachen Bauch gleiten. Doch sie wusste: Ein Kind wuchs heran, der erhoffte Erbe, der zwischen ihrer Schwiegermutter Frylinde von Salmingen und ihrem Vater Riobhan von Leihenhof geschlossene Ehevertrag würde bald erfüllt sein!
Nicht nur ihre Mutterinstinkte geboten Ansoalda, das Leben dieses Ungeborenen um jeden Preis zu schützen. Vor nicht einmal drei Wochen hatte Ansoalda sich auf Burg Salmingen Frylinde anvertraut, zusammen hatten sie die Hebamme aufgesucht, die schon bei Hagens Geburt geholfen hatte. Die alte und weise Frau untersuchte Ansoalda und bestätigte die Vermutung: Im Tsamond, wie passend, würde die Baronin niederkommen.
Kurz darauf entschieden Ansoalda und Frylinde gemeinsam, dem werdenden Vater Hagen vorläufig noch nichts zu verraten. Die sich zuspitzende Krise um Dohlenfelde verlangte den vollen Einsatz des jungen Barons, darüber hinaus kam es in dieser frühen Phase der Schwangerschaft nicht selten zum Verlust der Leibesfrucht – gerade, dass Ansoalda von so hagerer Statur war, bereitete der Hebamme durchaus Sorgen. Sie wies die werdende Mutter an, mehr fettes Fleisch zu essen und mehr obergäriges Starkbier zu trinken – wie passend, dass das durchaus genießbare Dohlenfelder Dunkelbräu mit obergäriger Hefe gebraut wurde!
Ansoalda spürte die Unruhe ihres Rosses. Es musste ihre eigene Unruhe sein, die sich auf das ebenso edle wie sensible Tier übertrug, nur wenige hundert Schritt vom Schlachtfeld entfernt. Denn die Baronin machte sich gleichermaßen Sorgen um ihr ungeborenes Kind und ihren Gatten. Es war keine Liebesheirat gewesen, die Ehe war, wie es im Hochadel üblich war, familienpolitisch arrangiert. Aber Ansoalda hatte Hagen mit seinen Eigenarten lieben gelernt.
Weder war sie Offizierin, noch hatte sie Schlachterfahrung, und doch wusste die dreifache Baronin, dass eine verlorene Schlacht nicht bedeutete, dass auch der Krieg verloren war. Und selbst – sie mochte gar nicht daran denken –, wenn Hagen dort im Getümmel etwas zustoßen sollte, dann würde sein Kind dereinst die Herrschaft über das ihm zustehende Erbe erlangen. Doch leider lag diese Möglichkeit gar nicht so fern, für seine Heißspornigkeit war der junge Baron ebenso bekannt wie für sein bedingungsloses Rondravertrauen bekannt. Es hätte ihn schon fast in der Crumoldschlacht sein Leben gekostet.
Etwas entfernt sah Ansoalda den fetten Trossmeister der Baronie Dunkelforst Maulaffen feilhalten und winkte ihn herbei:
„Mögen Er und die Anderen umgehend mit dem Abbau des Lagers beginnen! Die Schlacht ist verloren, es gilt zu retten, was zu retten ist.“
Der Angesprochene teilte offensichtlich die Lageanalyse seiner Baronin und antwortete:
„Wie Ihr befiehlt, Frau Hochgeboren. Wir werden uns beeilen.“
Dann wandte sich sie sich der Dunkelforster Jungfer Thalia von Eichhain zu, die voll gerüstet neben ihr auf einem mächtigen Kaltblüter saß. Hagen hatte seiner ranghöchsten Vasallin den persönlichen Schutz seiner Gattin anvertraut – und sie für diese Aufgabe von der Würde entbunden, das Feldzeichen der Baronie in den Kampf zu führen. Ansoalda war es nicht verborgen geblieben, dass die rondragläubige Veteranin vieler Schlachten enttäuscht darüber gewesen war, ihrem Lehnsherrn nicht auf dem Schlachtfeld beistehen zu dürfen.
Ansoalda sprach mit ruhiger Stimme und sehr ernst zu der Landadligen, die ihre Mutter sein könnte:
„Wohlgeboren, auch für Euch habe ich einen Auftrag. Ich weiß, dass Hagen Euch angewiesen hat, nicht von meiner Seite zu weichen. Dennoch wüsste ich niemanden sonst hier im Lager, der meine Anweisung ausführen könnte: Reitet in den Trubel dort unten und sucht zuerst Ihre Hochgeboren Alvide von Eichental auf. Unterrichtet sie darüber, dass die Schlacht meiner Ansicht nach verloren ist. Und dass ich Anweisung gegeben habe, das Feldlager aufzulösen. Nach Eurer Meldung an die Baronin zu Sindelsaum werdet Ihr versuchen, Hagen zu finden. Sagt ihm – und nur ihm –, dass seine Gattin einen lebenden Ehemann und sein ungeborenes Kind einen lebenden Vater wiederzusehen wünschen. Bittet ihn, sich möglichst schnell zu mir zu begeben. Er weiß noch nichts von meiner Schwangerschaft.“
Thalia war ebenso überrumpelt wie überrascht, es war das erste Mal überhaupt, dass Ansoalda ihr einen Befehl erteilte. Zudem fühlte sie sich geehrt, das Vertrauen der Baronin zu genießen und antwortete:
„Jawohl, Hochgeboren, ich werde Euren Wunsch erfüllen oder in treuer Pflichterfüllung den Tod finden.“
Die Jungfer befahl den vier mit Armbrüsten und Schwertern bewaffneten Waffenknechten, die ihre Farbe trugen, in einem Ton, der keinen Widerspruch duldete:
„Es ist nun an Euch: Verteidigt die Baronin mit Eurem Blut!“
Nach ein paar gemächlichen Schritten ihres Pferdes in Richtung Schlachtfeld drehte sie sich noch einmal um, zu Ansoalda:
„Ich bin selbst Mutter. Ich kann mir sehr gut vorstellen, wie Ihr Euch fühlt. Ich verlor meinen Ehemann vor 21 Götterläufen in der Schlacht am Nebelstein. Während er gegen die Tordochai kämpfte, war ich zuhause, hochschwanger mit meinem vierten Kind. Es waren die schrecklichsten Tage meines Lebens.“
Die Jungfer von Eichhain schluckte.
„Falls ich scheitern sollte, sagt Eurem Gatten bitte, dass es mir immer eine große Ehre war, dem Hause Salmingen zu dienen. Rondra mit Euch!“
Bei diesen Worten gab die Landadlige ihrem Ross die Sporen und galoppierte der Schlacht entgegen.
„Rondra mit Euch!“, rief Ansoalda der Jungfer hinterher, so laut sie nur konnte. Über dem Schlachtfeld kreisten mittlerweile zahllose Dohlen und andere Rabenvögel – die Aasfresser warteten auf ihr Festmahl, während die Wolkendecke dicht und grau war und Wetterleuchten das heldenhafte Kämpfen und das erbärmliche Sterben in ein unwirkliches Licht tauchten.