Dohlenfelder Thronfolgestreit - Praios‘ Auge abgewandt
Roklan stapfte vom Fenster seines Gemachs zur Tür. Runzelte missmutig
die Stirn. Und stapfte wieder zurück. Mit Nachdruck stützte er sich auf dem
schmalen Fenstersims mit beiden Händen auf.
„Das darf nicht sein!“ fauchte er und starrte hinaus, hinaus über die Ländereien
rund um die Burg Dohlenhorst. Er fuhr herum. „Bei Nandus, nein!“
Der hochgewachsene Mann ihm gegenüber verschränkte die Arme vor
seiner breiten Brust und nickte barsch. „Doch, Euer Hochgeboren.“
Roklan seufzte.
Der breitschultrige Halbelf mit dem weißblonden Haar rückte seinen Ornat zurecht. Das
Grün des schlichten Überwurfes mit der silbernen Borte hob sich deutlich vom Grau
der Leinentunika ab. „Unsere Ermittlungen haben sehr eindeutige Ergebnisse erzielt.“
Koradin von Rothammer sprach mit betont ruhiger Stimme. Sein scharf geschnittenes
Gesicht mit den hohen Wangenknochen zeige keinerlei Regung. „Zeugenaussagen
sowie verschiedene Spuren am Tatort beweisen, dass Lindos von Lilienthal in
Twergenhausen und mehr noch, an der Entführung des Bürgermeister Gliependiek
beteiligt war.“
„Wie?“
Ungerührt fuhr der Nandusgeweihte fort. „Unser Informant befragte verschiedene Personen,
darunter auch seine sicherste Quelle, den Stellmacher Alder Holzmann.“
Roklan hob die rechte Augenbraue. Koradin lockerte seine verschränkten Arme und
warf einen Blick zur ebenfalls anwesenden Magierin. Heidruna von Galebfurten stand
kerzengerade, steif mochte man fast sagen, und hielt ihren knorrigen Stab fest umfasst.
Sie schwieg, lauschte dem Bericht. „Besagter Holzmann war zu dieser späten
Stunde unterwegs von einer Kaschemme in seine Stube.“
„Betrunken?“ hakte Roklan ein und hob nun statt der linken, die rechte Augenbraue.
Koradin nickte. „Weshalb unser Informant eine gezielte Befragung unterstützt durch die
magischen Fähigkeiten Magistra Heidrunas durchführte.“
„Zauberei?“ Roklan konnte nicht anders, er blieb einfach einsilbig.
„Korrekt.“ erwiderte Koradin.
Roklan schaute zu Heidruna. Er runzelte wieder seine sonst jugendlich glatte Stirn. „Ihr
wart in Twergenhausen?“ Die Angesprochene nickte und schwieg.
„Ich hielt die Notwendigkeit für gegeben, Euer Hochgeboren.“ Erklärte Koradin und
schaute seinem Baron und seinem Schüler offen in die Augen. „Wir sind auf verwertbare
Informationen angewiesen.“
Der junge Baron lehnte sich an die Wand neben dem Fenster. Sein Blick heftete sich
abwechselnd auf Koradin und Heidruna. „Wie habt Ihr…?“ Der Halbelf sah die Zauberin
an.
Diese nickte kurz und antwortete dann mit kühler Distanz. „Eine Variation des klassischen
Canti Blick in die Gedanken, gemeinhin Tiefentelepathie genannt. Mir gelang es,
während der langen Befragung des Subjektes dessen Erinnerungen genau zu studieren.
Durch gezielte Fragen unseres Informanten traten die Erinnerungen klar an die
Oberfläche. Es gelang mir, deutliche Bilder zu empfangen. Das Subjekt traf während
seines Heimweges vom Ogertod auf eine Gruppe vier dunkel gekleideten Gestalten,
welche eine weitere Person mit sich führten. Aus den Erinnerungen besagten Subjektes
konnte ich eindeutig das Gesicht Lindos von Lilienthals dezidieren.“
„Lindos von Lilienthal war also in Twergenhausen?“ Roklans Stimme vibrierte.
Die Magierin nickte. „Dem ist so. Seine Wohlgeboren war, zumindest den Erinnerungen
des Befragten zufolge, in Begleitung einer jungen Frau. Ich schätze sie auf etwa
siebzehn bis höchstens zwanzig Sommer. Das Gesicht kommt mir bekannt vor,
aber…“
„Beschreibt es!“ fiel Roklan ihr ins Wort.
Heidruna schloss die Augen, ihre Stirn runzelte sich. „Dieses Bild konnte ich nicht klar
erkennen. Offenbar hat der Proband die junge Frau nicht so deutlich wahrgenommen
wie Ritter Lindos. Es ist eine junge Frau mit spitzem Gesicht und einer Haut von vornehmer
Blässe. Die Haare sind unter der dunklen Kapuze nicht zu erkennen. Die Nase
ist schmal und leicht emporgezogen…“
Der Baron wartete einige Augenblicke, doch dann merkte er, dass die Beschreibung
seiner Leibmagierin beendet war. Roklan verfiel nun ebenfalls ins Grübeln. „Diese Beschreibung
ist nicht wirklich … aussagekräftig.“ Sowohl die Magierin als auch der
Nandusgeweihte stimmten zu. „…und die anderen Gestalten?“
Heidruna zuckte mit den Achseln. „Der Statur nach hätten es sowohl Männer als auch
Frauen sein können, Gesichter hat der Proband nicht erkennen können und gesprochen
haben sie nicht.“
Roklan seufzte. „Es wäre möglich, dass es sich bei der Frau um Odrud von
Gernebruch handelte. Aber ebenso trifft die Beschreibung auf mindestens fünfzig von
hundert jungen Damen im ganzen Herzogtum Nordmarken zu.“
„Wieso sollte die Baronin von Gernebruch mit ihrem Ritter gemeinsam in den Bürgermeister
entführen?“ wandte Koradin ein. Er stand immer noch steif wie ein Stock neben
der Magierin und rührte sich kaum.
Diesmal zuckte Roklan mit den Achseln. „Hm… berechtigte Frage.“ Er seufzte. „Ich
weiß es einfach nicht. Wir wissen nun, dass Lindos an der Entführung beteiligt war. Ich
vertraue auf Eure Fähigkeiten, Magistra Heidruna.“ Die Angesprochene neigte dankend
das Haupt. „Aber das ist nichts, was wir vor Gericht verwerten können.“
„Korrekt, Baron.“ antwortete der Nandusgeweihte. „Vor Gericht sind die Ergebnisse
unserer Ermittlungen nicht zu verwerten. Aber darauf aufbauen, werden wir weitere
Ermittlungen durchführen, um Beweise zu sammeln. In jedem Fall wissen wir – Ihr,
Magistra Heidruna und ich – nun aber, dass Lindos von Lilienthal Bürgermeister
Gliependiek entführt und möglicherweise auch einen Mord durchgeführt hat, zumindest
aber mittelbar beteiligt war. Praios‘ Recht hat er also gebrochen.“
Roklan drehte sich um, sah aus dem Fenster der Burg hinaus. Gen Norden, jenseits
des Darlin, konnte er die Mauern und Türme der Stadt Twergenhausen erkennen. Dort
saß irgendwo Lindos von Lilienthal in einem Kerker und harrte seines Schicksals. Der
junge Baron seufzte noch einmal…