Dohlenfelder Thronfolgestreit - Indomabilis
Kaum dass der Praiosschild am Horizont erschien, erschallten überall im Lager Angronds und seiner Verbündeten die Signalhörner und Weckrufe. Binnen Kürze herrschte größte Betriebsamkeit, Frauen und Männer, Kämpfer und Trossknecht, waren auf den Beinen, alles musste für die große Schlacht bereitet werden. Hier nahm einer ein kräftigendes Frühstück zu sich, während erfahrene Söldner eben davon abrieten. Dort wurden Rüstungen angelegt und Waffen überprüft und Rondra zur Ehre auf Hochglanz poliert.
Rondra hatte ein gnädiges Einsehen mit Hagen sowie Angrond – und ihren alveranischen Gefährten Efferd überzeugt, seine Pforten geschlossen zu halten: Es hatte am Abend zuvor hoch oben am Himmelszelt kräftig gedonnert und geblitzt, doch waren nur wenige Tropfen Regen gefallen. Somit hatte die Nacht zwar kaum Abkühlung gebracht, das Schlachtfeld war aber nicht aufgeweicht und schlammig, die Gefahr für die galoppierenden Rösser war damit deutlich vermindert. Zur großen Freude aller war zudem der Himmel immer noch dicht bewölkt, so dass die Ritter in ihren Plattenrüstungen nicht fürchten mussten, vom Hitzschlag zu Boron geschickt zu werden, noch bevor sie dem Feinde gegenüber standen.
Ardare von Sturmfels kam in das geschäftige Feldlager Angronds geritten. Sie hatte keinen Sinn für den Trubel und wich ihrerseits neugierigen Blicken aus. Ihr Pferd war schweißnass wie von einem langen und anstrengenden Ritt, sie selbst wirkte übernächtigt. Die Baroness zu Dohlenfelde und Heroldin Angronds wurde sofort zu Angrond vorgelassen. Der ließ sich in seinem Zelt gerade von seinen Knappen kleiden und rüsten.
„Rondra zum Gruße, Ardare!“ begrüßte Angrond seine Tante. Der fast vierzigjährige Baron wirkte voller Eifer und beinahe jugendlich, er schien die Schlacht gegen Hagen kaum erwarten zu können.
Ardare hingegen, obwohl nur zehn Jahre älter als ihr Neffe, wirkte wie eine alte Frau. Sie schaute äußerst ernst, ihre tiefen Augenringe verstärkten diesen Eindruck noch.
Dann erwiderte sie, mit ungewohnt leiser Stimme: „Rondra zum Gruße, Angrond.“
Die Heroldin griff nach einem gut schrittlangen Bündel, das sie über ihren Rücken geschnürt trug, und nahm es vorsichtig herunter. Angrond war neugierig. Er hatte schon gemutmaßt, ob Ardare dort Pfeil und Bogen verstaut hatte, war sie doch eine leidenschaftliche Jägerin auf die Weise der Firungeweihtenschaft, den Sauspieß hingegen schätzte sie weniger. Doch nicht der erwartete Jagdbogen kam zum Vorschein, sondern ein Langschwert. Die Schwester Bernhelms wog die offensichtlich kostbare Klinge, deren Griff der fein ziselierte Leib einer Löwin war, aus dessen Maul die Klinge stieß, vorsichtig in den Händen.
Angrond schaute die Klinge an, blickte danach fragend zu seiner Tante, und die sprach, immer noch ungewohnt leise für eine ehemalige Offizierin: „Das ist Indomabilis. Das Schwert Deiner Urururgroßmutter Leumine Hagfrieda von Sturmfels. Es führte sie in der Kaiserlosen Zeit von Sieg zu Sieg. Und es wird auch Dich zum Sieg über Hagen und dessen Schwert Hlûtharhilf führen!“
Angrond schaute Ardare ratlos an, er schickte die Knappen mit einem Wink nach draußen. Selbstverständlich kannte er den Namen seiner Vorfahrin, der Jungfer zu Erzweiler, deren Erfolge als Söldnerführerin es ihrem Sohn Rondradan Leodegar von Sturmfels ermöglichten, die Baronskrone Dohlenfeldes zu erlangen. Er, Angrond, war der vierte Baron aus dem Hause Sturmfels, der über Dohlenfelde herrschte. Leumine Hagfrieda war vor beinahe einem Jahrhundert verstorben. Burgvogt Muragosch hatte sie persönlich gekannt, jedoch nicht allzu viel von der „närrischen Kriegerin“ gehalten.
Leumine Hagfrieda lag, wie die meisten Sturmfelser, in der Gruft seines Hauses unter dem Rondratempel zu Erzweiler bestattet. Sollte „Indomabilis“ tatsächlich Leumines Klinge sein – den Namen hatte er noch nie gehört oder wieder vergessen – musste sie wohl aus dem Erzweilerer Tempel stammen.
„Woher…“
„Von der Herrin Rondra selbst!“, antwortete Ardare voller Inbrunst, bevor der staunende Angrond seine Frage auch nur fertig formulieren konnte: „Nachdem ich die Urkunde mit der Schlachtenvereinbarung zurück in Hagens Lager gebracht hatte, legte ich mich dort zur Ruhe. Doch nach wenigen Stunden wurde ich wach, ich hatte von einer prächtigen Leuin geträumt, die mich rief, laut und eindringlich. Ich erkannte den Ort, an dem die Leuin auf mich wartete, es war der Hang unterhalb des alten Junkersturms Sturzwacht. Also machte ich mich umgehend, noch mitten in der Nacht, auf den Weg dorthin.“
Angrond kannte natürlich den über der Via Ferra gelegenen Junkersturm. Er war der alte Stammsitz seines Hauses, wurde aber seit mehr als hundert Jahren nicht mehr als herrschaftlicher Wohnsitz genutzt und auch nur noch notdürftig in Schuss gehalten. Angrond war erst zwei- oder dreimal in dem zugigen, alten Gemäuer gewesen. Ihn verband wenig mit dem Turm hoch oben im Gebirge, sein Zuhause war die standesgemäße Baronsburg Dohlenhorst über dem Großen Fluss.
Ardare fuhr fort: „Und tatsächlich, vor dem Turm stand eine prächtige Berglöwin, wie von einem Feuerschein umspielt! Ein Wunder, es war ein Wunder! Die Löwin begann zu mir zu sprechen, die Stimme klang wie von weiter Ferne, aber doch sehr nah und auch vertraut, ich kann es gar nicht beschreiben. Sie sprach jedenfalls, dass ich auserwählt sei, Dir, Angrond, Indomabilis, das Schwert Leumines, zu überbringen. Ich fiel auf die Knie und dankte der Herrin Rondra.“
Es schien, als würde sich Ardare ihr wundersames Erlebnis zurück ins Gedächtnis rufen, sie wirkte fast wie in Trance: „Das Schwert steckte bis zum Knauf in einem mächtigen Felsblock. Dazu ermutigt von der stolzen Löwin, packte ich es und zog es heraus. Die Löwin sprach noch einmal, dass ich wüsste, was nun zu tun sei – und verschwand mit einigen mächtigen Sätzen in der Dunkelheit.“
Die Heroldin wiegte die Klinge in ihren Hände, streckte sie Angrond entgegen: „Angrond, Rondra selbst befahl mir, Dir Indomabilis zu bringen, auf dass Du in der Schlacht gegen Hagen triumphieren wirst!“
Zögerlich nahm Angrond, nachdem Ardare ihre Erzählung beendet hatte, die Klinge entgegen. Als er sie packte, spürte er, entgegen seiner Erwartung, keine Kraft, die ihn aus der Klinge oder Alveran durchströmte. Das Schwert lag gut in der Hand, überraschenderweise besser als sein eigenes. Indomabilis, die „Unbezähmbare“, war leicht und trotz des Alters der Klinge war die Schneide scharf. Das Familienschwert Hlûtharhilf hatte er vor Jahren einmal von seinem Vater gereicht bekommen, es lag bei weitem nicht so gut in der Hand.
Der skeptische Reichskammerrichter war bereit, Ardare, die ihn noch nie belogen hatte, zu glauben. Doch er war durchaus misstrauisch: Solche Geschichten gab es zwar zu Hunderten, die Zwölfe offenbarten sich den Gläubigen immer und überall, gesegnete Schwerter mussten bereits in allen möglichen Felsen in ganz Aventurien gesteckt haben. Auch die heilige Klinge am Grund eines Weihers kam in den vielen Volksheiligengeschichten dutzendfach vor. Aber warum sollte Ardare, wenn sie die Geschichte erfunden haben sollte, dies tun? Warum so eine Allerweltsgeschichte, wie man sie von jedem zweiten Rondraheiligen kannte?
Aber sollte Ardare wahr gesprochen haben – warum sollte Rondra nicht ihn direkt zu dieser Klinge geführt haben? Warum seine Tante? Er schaute Ardare tief in die alt und müde erscheinenden Augen. Es musste ihr tiefer und unkritischer Glaube sein, ihre große, selbstlose Hingabe an Rondra! Ardare war spätestens seit ihrem schweren Turnierunfall 1022 BF sehr gläubig, oft fand er seine Tante im stillen Gebet vertieft.
Hatte er, Angrond, Rondra durch seinen geringeren Glaubenseifer erzürnt? Die Herrin Rondra war für Angrond die wichtigste Gottheit, er hielt ihre Ideale in hohen Ehren. Insbesondere die Rittertugenden, die schließlich von Rondra gegeben waren, betrachtete er als das höchste Gut des Adels überhaupt, Rondra und ihre Alveraniare behüteten die Welt und hatten unzählige Male zum Guten in die Geschicke Deres eingegriffen. Angrond war jedoch die mystische Glaubenserfahrung, die unmittelbare Nähe zur Gottheit, wie Ardare sie erlebt hatte, ebenso fremd ebenso wie die heuchlerische Frömmelei, die ihm gerade in Elenvina und Gareth so oft begegnet war, oder der unreflektierte Glaube des einfachen Volkes, dem man natürlich seine Kleingeistigkeit nicht vorwerfen konnte, half ihm diese doch, sein nicht immer einfaches, aber götterbestimmtes Los zu ertragen.
War die Tatsache, dass Rondra sich Ardare, und nicht ihm unmittelbar offenbart hatte, womöglich eine Warnung der alveranischen Leuin? Was dar indirekte Überreichen der Klinge seiner Vorfahrin ein Wink Rondras? So musste es wohl sein.
Angrond steckte Indomabilis in seine Schwertscheide, umarmte fest seine Tante, die Tränen in den Augen hatte, und sprach: „Ardare, ich danke Dir, die Du mir immer treu warst, auf die ich mich in jedem Augenblick verlassen konnte. Die alveranische Herrin hat Dich zu ihrem derischen Werkzeug gemacht, dafür danke ich Rondra. Ich werde die Klinge Leumines in der Schlacht führen, dies verspreche ich Dir. Sie wird uns zum Sieg führen.“
Diese Worte waren Angrond leichter gefallen, als er selbst erwartet hatte. Die Göttin Rondra war seit undenklichen Generationen die Schirmherrin seiner Familie. Ihm stand es nicht zu, einem Wunsch Rondras zu entsprechen. Seine letzten Zweifel waren verflogen.
Dann ergänzte Angrond: „Ardare, Du legst Dich jetzt noch eine Stunde hin. Nach dem Rondradienst werde ich Dich wecken lassen. In der Schlacht möchte ich Dich an meiner Seite haben. Du solltest ein wenig ausgeruht sein.“
Angronds Tante dankte dem Baron und zog sich zurück. Als Ardare sich in einem nahen Zelt – es war das ihres Neffen Rondred von Sturmfels, der schon vor Sonnenaufgang aufgestanden war – zur Ruhe legte, fing sie an zu schluchzen. Angrond musste die Tränen in ihren Augen für ein Zeichen ihrer Rührung gehalten haben, aber er lag falsch. Sie weinte, weil sie ihn angelogen hatte, weil sie sein Vertrauen sträflich missbraucht hatte. Sie war eine Grabfrevlerin und eine Mörderin. Wie konnte die Herrin Rondra so viel von ihr verlangen?
Sie hatte tatsächlich den Weistraum gehabt, in dem Traum sah sie aber den Rondratempel zu Erweiler, die feuerumspielte Löwin befahl ihr, das Schwert aus dem Grab zu nehmen, um es Angrond zu überreichen. So ritt sie noch des Nachts dorthin. Als sie in tiefster Dunkelheit den schon seit Jahren vakanten Rondratempel im Zentrum Erzweilers betrat, wusste sie nicht so genau, wie sie nun vorgehen sollte.
Ardare stieg die Treppe hinab in die Familiengruft des Hauses Sturmfels, hier war sie zuletzt zur Beisetzung der Asche ihres Bruders Bernhelm vor ziemlich genau drei Jahren gewesen – der Beginn des Streits zwischen Angrond und Hagen. Die Heroldin betrachtete in der großen, von zwergischen Handwerkern tief in den Granit des Eisenwaldes gehauenen Gruft die Sarkophage, Urnen und steinernen Votivtafeln. Auf dem Sarkophag der Jungfer Leumine Hagfrieda von Sturmfels ruhte seit dem Jahre ihrer Beisetzung, 940 BF, Indomabilis. Ardare schickte ein Stoßgebet zu Rondra und nahm die Klinge an sich. Schnell eilte sie die Stufen in die Tempelhalle hinauf. Sie erschrak fast zu Tode, als sie plötzlich von einer Laterne geblendet wurde und ein „Raubgesindel!“ vernahm. Ohne nachzudenken schlug Ardare mit Indomabilis in Richtung der Laterne, diese fiel zu Boden, sie hörte Schmerzenslaute und Röcheln. Der Mann, der die Laterne gehalten hat, wand sich vor ihr am Boden – in seinem eigenen Blut, sich voller Verzweiflung seine Gedärme im Leib haltend. Sie hatte den Abstand zur Lichtquelle falsch eingeschätzt und dem Mann mit ihrer Klinge eine klaffende Wunde am Bauch zugefügt, er war dem Tode geweiht.
Der Mann – nun erkannte Ardare den alten, kriegsinvaliden Veteranen der Reichsarmee, der als Akoluth seit Jahren den kleinen Rondratempel betreute – stöhnte flehend: „Bei Rondra, erlöst mich wenigstens von meinem Leid!“
Ardare war verzweifelt. Sie schaute sich wie irre um und kniete neben dem Sterbenden nieder, dann stieß sie ihm ihren Dolch ins Herz. Sie schloss dem Akoluthen, von dem sie einige gute Predigten gehört hatte, die Augen, und betete für seine Seele.
Während der Fürbitte ereilte sie eine weitere Vision, die von Flammen umgebene Leuin sprach erneut zu ihr: Der Tod des alten Mannes sei unvermeidlich gewesen, denn er hätte es ohnehin nur nach einem Zweikampf bis zum dritten Blut zugelassen, dass Ardare das Schwert Indomabilis aus dem Tempel entwendet. Rondra vergab Ardare!
Erleichtert schlug die Heroldin das Schwert in eine Decke ein, band sich diese auf ihren Rücken und ritt, so schnell sie konnte, zu Angronds Heerlager. Auf die „Halt! Wer da?“-Rufe der Nachtwächterin Erzweilers antwortete sie nicht, stattdessen gab sie ihrem Ross die Sporen.
Als Ardare endlich einschlief, fühlte sie zu ihrem eigenen Erstaunen große Genugtuung und Zufriedenheit. Sie hatte, trotz allem, den Willen der Himmlischen Leuin erkannt und erfüllt, sie war ein Werkzeug der Herrin Rondra. Welche Ehre konnte für ein Mitglied des Hauses Sturmfels größer sein? Es stand den Sterblichen nicht zu, Wunsch und Willen der Alveranischen zu hinterfragen.
Währenddessen sammelten sich Angronds Streiter voll gerüstet und bewaffnet zur morgendlichen Rondramesse. Mehrere Rondrageweihte hielten gemeinsam die feierliche Andacht, die vor allem dazu diente, auf die bevorstehende Schlacht einzustimmen – es wurde daran erinnert, dass zur gleichen Stunde eine Messe zu Ehren Rondras auch von den Streitern Hagens zelebriert wurde.
Den Höhepunkt des Feldrondradienstes bildete eine Waffenweihe: Die Schwerter von zwölf rondragefälligen Kämpfern, die sich am Nachtmittag und Abend des Vortages bei den Zweikämpfen zu Ehren der Göttin besonders hervorgetan hatten, wurden von den Rondrageweihten mit dem Segen der Himmlischen Herrin bedacht und feierlich wieder den zwölf Tapferen überreicht. Das Donnergrollen am bewölkten Morgenhimmel wurde während der Zeremonie lauter und von den Geweihten als Zeichen gedeutet, dass die Herrin Rondra mit Wohlgefallen der Schlacht entgegensah. Eine Rondrageweihte entließ die Kämpfer mit den Worten: „Erweist Euch der Herrin Rondra, der Schlachtenlenkerin, auf der Walstatt als würdig!“
Nachdem der Feldrondradienst beendet war, nahm das gewaltige Heer Angronds, deutlich mehr als tausend Streiter, auf der Via Ferra nördlich Dohlenfeldes seine Marschaufstellung ein. Kinder aus dem Markt Dohlenfelde schmückten einige Kämpfer mit Sommerblumen, die Blaskapelle spielte auf der Gemeindewiese auf, man blies und trompete den eingängigen und wohlbekannten Kaiser-Reto-Marsch, der zur Erinnerung an die Eroberung Maraskans im Jahre 987 BF komponiert worden war. Nicht wenige Kämpfer pfiffen die fröhliche Melodie mit, die deutlich älter war als die meisten, die bald auf dem Schlachtfeld stehen und womöglich ihr Leben lassen würden.
Das Heer würde nun, von Angrond angeführt, durch den Markt Dohlenfelde ziehen, dann über die Dorinbrücke und schließlich auf das Schönbunder Grün. Dort würde die endgültige Schlachtaufstellung eingenommen werden. In weniger als einer Stunde würden die Heere aufeinanderprallen, würde das große Ringen um die Krone Dohlenfeldes sein Finale finden. Die Wolken türmten sich noch immer dicht über dem Eisenwald und dem Tal des Großen Flusses auf, hoch oben waren Wetterleuchten zu sehen und sehr fernes Donnergrollen zu hören. Abgesehen von der drückenden Schwüle konnte man sich ein rondragefälligeres Wetter für eine Schlacht kaum wünschen!