Dohlenfelder Thronfolgestreit - Das zweite Heer

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Texte der Hauptreihe:
K28. Sieg
K95. Kajax
F25. Epilog
27. Bor 1032 BF
Das zweite Heer
Belagerungshandwerk


Kapitel 22

Ein Ritter
Autor: Reichskammerrichter, weitere

Nordmarken 27. Boron 1032 BF

Nach dem Feldgöttinendienst war das Gros der Adelstruppen mit Hagen von Salmingen-Sturmfels an der Spitze über die Pervalsbrücke auf Dohlenfeldsches Territorium marschiert, während die Stadtwehr Herzoglich Twergenhausens – 21 schwergerüstete Reiter, gefolgt von 37 Armbrustern und 58 Spießkämpfern unter Führung des Sohnes des Bürgermeisters – der Via Ferra folgend durch die der Stadt gehörende Growinsmark marschierte.
Nur wenige Adlige waren diesem Kontingent gefolgt, darunter Ihre Hochgeboren Praiodara von Wolfsstein-Föhrenstieg, die Baronin zu Wolfsstein mit ihrem kleinen Gefolge. Hagen selbst hatte nur eine Jungfer aus seinem Koscher Lehen Dunkelforst, Thalia von Eichhain, zur Wahrung seiner Interessen mitgeschickt. Die Niederadlige wusste um ihren Platz in der praiosgefälligen Ordnung der Welt und hielt sich daher mit den fünf von ihr befehligten leicht bewaffneten Reitern hinter der Gratenfelser Baronin.
Nach nicht langem Marsch war die Wolkenfolder Warte, ein städtischer Wachturm an der Brücke, die über die Grüngischt hinüber ins Edlengut Wolkenfold – ein Unterlehen der Baronie Dohlenfelde – führte, erreicht. Auf dem Turm wehte das blau-grüne Banner Twergenhausens, vier Stadtgardisten waren mit polierten Stiefeln vor ihrem Posten angetreten und grüßten die Truppen mit einem zackigen „Für die Zwölfe, für den Herzog, für den Magistrat!“, was die stramm marschierenden Stadtwehrkämpfer lautstark, aber nicht sehr wohlklingend erwiderten.
Während in der Growinsmark die Äcker vom Straßenrand so weit reichten, wie man blicken konnte, rückte in Wolkenfold schon nach wenigen Dutzend Schritt dichtes Unterholz an die Via Ferra, gepflastert und mit Randsteinen versehen, heran. Nach hundert Schritt konnte man den grauen Himmel nur noch sehen, weil die mächtigen Bäume ihr herbstlich buntes Laub bereits zu einem guten Teil verloren hatten.
Eine gute halbe Stunde hinter der Wolkenfolder Warte stand hinter einer Biegung ein schwerer Heuwagen auf der Straße. Offensichtlich hatte der Wagen Radbruch erlitten, die beiden Ochsen waren ausgespannt worden und kauten friedlich an einem kleinen Heuballen herum. Ein kräftiger älterer Bauer hockte, Pfeife rauchend, auf einem moosbewachsenen Findling und ließ die Soldaten mit aller Seelenruhe näher kommen.
Ein Korporal der Stadtwehr ging auf den Bauern zu, und forderte ihn auf:
„Bei Praios! Macht den Weg frei für die Wehr Twergenhausens, die hier marschiert auf Wunsch des rechtmäßigen Barons Dohlenfeldes, Seiner Hochgeboren Hagen von Salmingen-Sturmfels!“
Der Bauer erwiderte, ohne aufzustehen und die Pfeife aus dem Mund zu nehmen:
„Baron Hagen? Ist der Baron nicht Herr Angrond? Ich verstehe nicht. Den Weg würde ich Euch natürlich gerne freiräumen, aber wie soll ich das tun, Herr, denn das Rad am Wagen, der voller Heu für Eure Stadt ist, ist gebrochen, das seht Ihr, und das Ersatzrad ist morsch, das müsst Ihr mir glauben, und meine Tochter, die sehr hübsch für ihr Alter ist, auch das müsst Ihr mir glauben, habe ich bereits nach Pappelhof zurückgeschickt, auf dass sie den Schmied…“
Der Korporal, ein kräftiger Bäckersgeselle, winkte, nachdem er kurz zu Throndwig Gliependiek geschaut hatte, seine Leute herbei, die unter dem Zetern des Bauern – vom kräftigen Bäcker in Schach gehalten –, den Wagen anhoben und scheppernd von der Straße kippten. Eine junge Schmiedegesellin zog sich dabei einen üblen Splitter in den linken Handballen, das erste Blut des Feldzuges war geflossen. Mit einem Knirschen brachen mehrere Seitenstreben des Heuwagens, dann brach sogar die Vorderachse des alten und insgesamt sehr instabilen Gefährts.
Der Korporal rief Gliependiek zu: „Der Weg ist frei, geehrtester Herr!“ – und sah nicht, wie der alte Bauer einen Knüppel erhoben hatte, um ihm diesen über den Schädel zu ziehen. Die Jungfer Thalia von Eichhain war sofort mit ihrem Pferd heran und schlug dem verdutzten Bauern den Knüppel mit der blitzartigen Reaktion einer Veteranin vieler Kämpfe aus der Hand. Sie hoffte, mit den Städtern in keinen echten Krieg ziehen zu müssen, und sprach daraufhin zu dem alten Bauern:
„Bringe Er kein Unglück über sich und die Seinigen, der Alte! Sein Feind ist nicht die Stadt und schon gar nicht Hochgeboren Hagen. Der zerbrochene morsche Wagen soll Sein Schaden nicht sein, Herr Hagen wird Ihn dafür angemessen entschädigen. Nun kümmere Er sich um Seine Ochsen und belästige keine anständigen Leute.“
Gleichermaßen eingeschüchtert wie erstaunt ging der Bauer drei Schritte zurück, fiel rückwärts ins Unterholz und blieb dort mit qualmender Pfeife liegen, bis auch der letzte Kämpfer an ihm vorbeigezogen war. Die Ochsen ergötzten sich weiterhin an ihrem kleinen Heuballen.
Nach diesem Zwischenfall war Wolkenfold recht schnell durchquert, die Bauern des großen Guts Pappelhof gafften nicht schlecht, als das kleine Heer passierte. Nicht weit hinter Pappelhof führte die Pappelbrücke über den Weihlbach, direkt an dessen Mündung in den Darlin lag das zu Freiherrlich Dohlenfelde gehörende Dorf Mühlenheim. Die Ortschaft lag am Nordrand der Kernlandschaft der Baronie, der eigentlichen „Dohlenfelde“, einem fruchtbaren Hügelland rechts des Darlin, wo vor über 1000 Jahren – auch an einem tristen Tag im Boronmond – die Schlacht von Heiligenfurt gegen die Goblins geschlagen wurde. Nicht weit von hier hielten Kajax und Nakaja, Tierkönig und Tierkönigin der Dohlen, Hof. Wo genau, das wussten aber nur die Götter, die Feen und die alten Weiber.
Im tristen Borongrau stieg der Rauch aus den Schornsteinen der schmucken Häuser der gut 250 Einwohner Mühlenheims, allesamt freie Bauern, auf. Kein Mensch war auf der Via Ferra zu sehen, die das Dorf zerschnitt. Zur Rechten, wo man die namensgebende Mühle am Darlin sehen konnte und klappern hörte, stand ein großer Perainetempel im klassischen Bergbauernstil, darin schienen zahlreiche Menschen versammelt zu sein, mehrere Kinder weinten, Säuglinge schrien.
Zur Linken die dem Heiligen Gilborn geweihte hochaufragende Praioskapelle. Auch in der Kapelle schienen mehrere Gläubige versammelt zu sein. Achtlos auf der Straße liegendes Arbeitsgerät, ein zerbrochener Milchkrug und ein einsamer Schuh ließen erkennen, dass die Mühlenheimer offensichtlich in großer Eile in den Tempel geflüchtet waren.
In einem Haus am Ortseingang, in dem ein baronieweit bekannter Kräuterhändler lebte und arbeitete, hörte man von innen Hammerschläge. Der furchtsame Eigentümer vernagelte die Haustür oder die geschlossenen Fenster.
Die gespenstische Leere der Via Ferra ließ manch einen der Twergenhäuser Stadtwehrkämpfer erschauern. Als die ersten Reiter auf Höhe der Praioskapelle waren, öffnete sich deren Tor, ein Pferd scheute. Der Dorfschulmeister zu Mühlenheim, Edorian Schirrbauer, im reinweißen Gewand eines Akoluth des Ordens vom Bannstrahl Praios’ trat, ein vergoldetes Abbild des Heiligen tragend, aus der Kapelle heraus und sprach mit lauter Stimme, nein, er schrie fast:
„Gepriesen sei der Herr Praios, Tod seinen Feinden, Verderben allen Feinden des Reiches und der Reichskirche!“
Edorian war der bekannteste Bannstrahler in Dohlenfelde, und seine eifernden Predigten wurden auch in Twergenhausen gerne gehört. Der Akoluth fuhr fort, seine ganze Kraft benötigend, um das Standbild des Gilborn gen Himmel zu recken:
„Kniet nieder, um dem Herrn Praios für Seine unerschöpfliche Gerechtigkeit, seine Weisheit und seine Güte zu danken! Herr, wir loben Dich! Tilge der Herr Praios alle Ketzer und Sünder mit Deinem gleißenden Bannstrahl vom Derenschild!“
Dann begann der Prediger den praiosgefälligen Tageschoral zu singen, wie ihn Priesterkaiser Gurvan vor vielen Jahrhunderten in seinem al’anfanischen Exil gedichtet hatte.
Bleiern lag der Boronhimmel über der Szene. Zwei Dutzend Gläubige kamen aus der Kapelle, knieten sich auf den kalten Boden, stimmten in den Praioschoral ein. Auch die Reiter hielten inne. Als mehrere Twergenhäuser Stadtwehrkämpfer – darunter sicherlich der eine und andere, der den Lehren des Bannstrahl Praios’ nahe stand – sich ebenso niederknieten und mitsangen, stiegen auch zahlreiche Reiter ab.
Manch einem Städter, der Bosparano verstand, erschien es als böses Omen, dass der Gurvanische Choral des 27. Boron davon handelte, dass kein Stand fordern solle, was einem anderen Stande sei – es kamen die Zeilen vor:
„Treu und fest stehen wir für den Herrscher Alverans: Wir Ritter, wir wachen für Praios in den Burgen! Wir Bürger der Städte, wir wachen für Praios auf den Mauern! Treu und fest wachen wir für den Herrscher Alverans, jeder an seinem Platze!“
War man nicht gerade dabei, durch die Eroberung der Burg Schwarzfels diese Ordnung umzustoßen?
Nach diesem bizarren Zwischenspiel drängten die Offiziere, den Vormarsch gen Burg Schwarzfels fortzusetzen, hatte man doch erst die Hälfte der Strecke zurückgelegt. Kaum hatten die letzten Kämpfer der Twergenhäuser Stadtwehr Mühlenheim verlassen, sammelten sich mehrere Dutzend kräftige, junge Freibauern am Ortsausgang, auf dem Schützenfeld, wo vor einem guten Mond, am vorletzten Praiostag im Travia, das größte Schützenfest der Baronie stattfand. Der hohe Mast, auf dem der gekrönte Fisch prangte, stand noch in einem kleinen Teich, wie es die sonderbaren Rituale dieses Festes vorsahen. Die Mühlenheimer Bauern riefen:
„Verschwindet von unserem Land, Pfeffersack-Knechte! Verschwindet in Eure von den Göttern verlassene Stadt!“
Und eine einzelne Stimme schrie heraus:
„Unser Baron heißt Angrond von Sturmfels! Wir haben nichts zu tun mit Hexenbaron Hagen! Bei Praios!“
In den Anruf des Sonnengottes stimmten die renitenten Bauern allesamt ein, nun konnte man sehen, das nicht wenige von ihnen Mistgabeln und Dreschflegel bei sich trugen, einige führten gar Armbrüste mit sich, und die meisten waren sicherlich wohlgeübte Schützen.
Zwischen den Bauern konnte man Ihre Hochwürden Heiltrude Bachenthal, die Hüterin der Saat des Perainetempels zu Mühlenheim, erkennen. Aber ob die Geweihte die jungen Rabauken in ihrem Zorn anstachelte oder sie von üblerem zurückhielt, war nicht zu erkennen.
Auf den umliegenden Feldern und Äckern, die für die Überwinterung vorbereitet waren, saßen zahllose Dohlen und Raben, die gekommen waren, um Kajax und Nakaja ihre Aufwartung zu machen. Das „Schack-schack“ und „Kja-Kja“ der Dohlen und das „Kraa-Kraa“ der Raben übertönte fast die wütenden Rufe der Menschen. Den Rabenvögeln würde sich über ein großes Blutvergießen sicherlich freuen. Und ihnen waren die Gründe herzlich egal, so lange nur genügend Leiber für sie zurückblieben.
Als die kleine Armee Hagens und seiner Verbündeten in Twergenhausen anlandete, war im Junkergut Erzweiler in aller Eile und zugleich jedweder möglicher Ruhe die Landwehr ausgehoben worden. Kurz zuvor war eine Brieftaube Hagens von Sturmfels bei Ritter Rondrian von und zu Maringen, dem loyalen Gefolgsmann des jungen Barons, eingetroffen. Umgehend hatte der Ritter seine Tochter Aliena auf seinem schnellsten Pferd zum Markt Erzweiler geschickt, um der dortigen Ingerimmgeweihten, die dem über die Ortschaft herrschenden Erzrat vorsaß, die Aushebung der Landwehr des Junkergutes im Namen des Barons zu befehlen. Hagen hatte seinem treuen Ritter noch auf der Versammlung in Salmingen ein entsprechendes von ihm gesiegeltes Dokument überreicht, zu genau diesem Behufe.
Aliena, die vor gerade erst zwei Jahren ihren Ritterschlag in Weiden erhalten hatte, war in Gambeson und Reiterharnisch gewandet und überragte mit ihren 190 Halbfingern den bürgerlichen Befehlshaber der Garde des Junkers zu Erzweiler, Ingbald Bertenschlag, deutlich.
Dieser, ein erfahrener Veteran vieler Schlachten, hatte sein Ross satteln lassen und den schwarzgelben Umhang mit dem Wappen Erzweilers übergeworfen, an seiner blauen Reichsschärpe prangte sein größter Stolz, die Kaiser-Rauls-Schwerter in Bronze, die er in den Orkkriegen als junger Mann nach der Befreiung Greifenfurts von den Orken verliehen bekommen hatte. Aliena und Ingbald trieben die Landwehrkämpfer zur Eile an und marschierten nach dem Segen der Ingerimmhochgeweihten – so viel Zeit musste sein – die Via Ferra hinab zum Gutshof Maringen. Dort hatte derweil Ritter Rondrian seine zwei Waffenknechte ausgeschickt, um die Landwehrkämpfer des Gutes zu sich zu befehlen.
Als die Truppen der Herzogenstadt Twergenhausen, die den Darlin gen Dohlenfelde hinaufzogen, gerade das Dorf Mühlenheim verlassen hatten und durch die Darlinhügel zogen, trafen die von Aliena und Ingbald angeführten Erzweilerer beim Gutshof Maringen ein. Insgesamt waren dort nun neben zwei Rittern – Rondrian und seine Tochter – zehn berittene Waffenknechte in den Farben Erzweilers und Maringens sowie vier berittene und 33 Landwehrkämpfer zu Fuß versammelt, die zur Hälfte mit langen Spießen und zur Hälfte mit Armbrüsten ausgerüstet und bereit waren, für „Herrn Hagen, unseren einzigen Junker und Baron“ zu streiten.
Ritter Rondrian verlas eine Botschaft Hagens von Salmingen-Sturmfels, von der nur er wusste, dass diese von dessen Mutter Frylinde verfasst worden war: Der Baron danke „seinen treuen Erzweilern“ für ihren Mut und ihre Opferbereitschaft, und zollte ihnen Respekt dafür, ihm auch in seiner viel zu langen Abwesenheit stets die Treue gehalten zu haben. Nun sei die Stunde der Entscheidung gekommen, und die Schlacht wieder Angrond sei zu schlagen. Den stolzen und seit Generationen unbesiegten Truppen Erzweilers käme dabei die Schlüsselaufgabe zu, den Hauptort der Baronie, den Markt Dohlenfelde, im Handstreich zu besetzen und jeden Widerstand schon im Keime zu ersticken.
Danach sei Burg Schwarzfels entweder im Handstreich einzunehmen oder zu belagern. Es gelte nun endlich, das Testament Baron Bernhelms von Sturmfels zu vollstrecken, bei Rondra.
Rondrian, der auf die sechzig zuging, las den Brief Hagens laut und in aller Ruhe vor, und zog, nachdem er geendet hatte, sein Schwert, reckte es in den bleigrauen Himmel. Seine Tochter und Ingbald Bertenschlag taten es ihm gleich, daraufhin reckten auch alle Waffenknechte und Landwehrkämpfer ihre Klingen und Spieße in die Höhe. Ein vieldutzendfaches „Für Hagen, für Erzweiler, für Rondra und Ingerimm!“ ertönte, und die vereinte Streitmacht des Junkerguts Erzweiler setzte sich in Bewegung, wieder der Via Ferra folgend, nun auf dem Wege zur Ochsenbrücke, die beim Markt Dohlenfelde über den Darlin führte.
Die Twergenhäusener und die sich in ihrer Begleitung befindenden Adelstruppen ließen die unfreundlichen Mühlenheimer hinter sich und zogen weiter auf den Hauptort der Baronie, den Markt Dohlenfelde, zu. Dieser lag an der Mündung des kleinen Baches Dorin in den Darlin, hier traf die nordmärkische Via Ferra, über die Ochsenbrücke kommend, auf die almadanische.
Die fast 700 Einwohner des schmucken Ortes befanden sich in großer Unruhe, hatte doch eine Magd aus Mühlenheim sie über das Anrücken des für Hagen streitenden Heeres informiert, und Freiline Mühlenteich, die Marktschulzin Dohlenfeldes, hatte daraufhin umgehend die Dorfversammlung in das Gerichtsgebäude einberufen, um zu beraten, was zu tun sei. Die Hochgeweihten des Travia-, Peraine- und Borontempels waren sofort zugegen, doch Ihre Hochwürden Gratfride Praiodera von Föhrenstieg, Lichtwächterin des Sankta-Lechmin-Tempels zu Dohlenfelde, und bekannt als Unterstützerin des Anspruches Hagens, ließ auf sich warten. Auch dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis ein Großteil der freien Familien des Marktes – die alle in der Dorfversammlung Wort und Stimme hatten – im Gerichtsgebäude eingetroffen waren. Dann wurde die schwere zweiflüglige Tür verriegelt, denn die Dorfversammlung tagte seit ehedem in verschlossenen Räumen, und es war uraltes Gesetz, dass kein in der Versammlung geäußertes Wort je nach außen drang.
Freiline Mühlenteich informierte in knappen Worten über den Sachstand und hielt anschließend eine beeindruckende Rede, in der sie die Bewohner des Marktes Dohlenfelde aufforderte, die Waffen zu ergreifen und sich Hagens unrechtmäßigen Anspruch auf den Baronsthron ebenso entgegenzustellen wie den schändlichen Städtern aus Twergenhausen, mit denen sich der „Salminger“ verbündet hatte. Das sei man Baron Angrond von Sturmfels, der über viele Jahre gut über die Baronie geherrscht hatte, schuldig. Über viele Jahre habe der Baron seine schützende Hand über den Markt gehalten, nun sei es an der Zeit, ihm dafür zu danken. Freilines Schwester, die Hochgeweihte des Perainetempels, erhob sich und applaudierte, und ein großes „Hört! Hört!“ und „Für Angrond!“ erschallte im Gerichtssaal, der aufgrund des grauen Herbsttages von Kerzen hell erleuchtet war.
Im Kerzenschein stand dann die Praiosgeweihte auf, schaute strengen Blickes in die Runde und legte ihren Zeigefinger so lange auf die Lippen, bis auch der letzte Freibauer und Handwerker Ruhe gab und sich die Perainegeweihte wieder gesetzt hatte. Dann hub sie an und ermahnte die Bewohner des Marktes Dohlenfelde mit strengen Worten:
Durch das Einmischen in die Fehde zwischen den Hochadligen Brüdern Angrond und Hagen würden die sie an den Grundfesten Alverans rütteln, haben sie doch keinen Befehl erhalten, für den einen oder anderen das Schwert zu ergreifen. Wüsste die Versammlung denn, dass es Baron Angronds Wille sein, gegen die Twergenhäuser zu streiten? Was würden sich die Bauern und Handwerker anmaßen, den Wunsch und Willen eines Hochadligen zu erraten? Nein, wer nun voreilig zu den Waffen griffe, würde nicht nur sein Leben unnütz in Gefahr bringen, sondern auch sein Seelenheil.
Daraufhin herrschte eine betretene Stille im Gerichtssaal, viele, die eben noch bereit waren, für Angrond zu kämpfen, schauten betreten zu Boden oder aber zur Perainegeweihten, der Schwester der Dorfvorsteherin. Dann jedoch ergriff Seine Hochwürden Isleif Thorkildson, der Vater des Traviatempels zu Dohlenfelde (er hatte die jüngste der drei „Mühlenteich-Schwestern“, die Traviahochgeweihte war, geheiratet), das Wort. Der rotblonde Hüne aus dem Thorwalschen überragte alle Anwesenden, und jedermann wusste, dass der so friedliebende Geweihte durchaus bereit war, sowohl auszuteilen als auch einzustecken, und dies nicht nur als Spielführer der örtlichen Immanmannschaft. Isleif stützte sich mit seinen muskelbepackten Armen auf den großen Tisch und schaute in die Runde. Er sprach davon, dass Freiheit erfochten sein und verteidigt werden muss. Er sprach davon, dass derjenige, der Angrond verteidigen würde, keineswegs sein Seelenheil gefährden würde, sondern im Gegenteil: Den Göttern seine Treue beweisen würde, denn die Treue sei nicht nur der Kern der Freundschaft und der Familie, sondern auch des Lehenssystems. Es wäre doch ganz sicher nicht im Sinne der Zwölfe, dass ein Bauer nur handeln würde, wenn er einen Befehl erhielte – oder hätte der Adel etwa bei der letzten Aussaat befohlen, das Getreide aus den Lagern zu holen? Oder bei der letzten Ernte das Einbringen der Früchte angeordnet. Nein, wer handele, mache alles richtig. Wer nicht handele, riskiere hingegen alles.
So ging es nun hin und her. Viele Bauern und Handwerker ergriffen für Angrond das Wort, einige wenige aber auch für Hagen. Wieder andere sprachen sich für Neutralität aus, so die große zwergische Gemeinde des Marktes, allen voran der Pächter und Braumeister der örtlichen Brauerei, Brigom Sohn des Brigelosch aus der Sippe der Birnknödels, einer der angesehensten und reichsten Bürger der ganzen Baronie.
Als ein kräftiges Hämmern an die Tür des Gerichtssaales ertönte, wurde es mucksmäuschenstill. Die schwere zweiflüglige Tür erzittere in ihrem steineichenen Rahmen. Der Gerichtsbüttel, der Wache hielt, schaute etwas hilflos zur Marktvorsteherin. Freiline Mühlenteich starrte voller Verbitterung zur Praiosgeweihten, die sich zufrieden und voller Arroganz und Selbstsicherheit zurücklehnte.
Dann schluckte sie und sprach: „Öffne die Tür, und lass hinein, sei es ein Henker oder ein Edelmann.“
Der Büttel tat wie ihm geheißen, schob den mächtigen Riegel zur Seite, öffnete die Tür. In der Tür stand der stiernackige Throndwig Gliependiek, seine prächtige Rüstung blitzte im Kerzenlicht des Gerichtssaales, das Schwert, mit dessen Knauf er an die Tür gehämmert hatte, in der rechten Hand.
Der Patrizier sprach mit lauter Stimme: „Die Zwölfe zum Gruße, werteste Versammlung! Ich hoffe, bei nichts Wichtigem gestört zu haben. Sollte es so sein, bitte ich vielmals um Entschuldigung.“
Throndwigs Mundwinkel verzogen sich zu einem wissenden Schmunzeln. Nur zu oft hatte der Sohn des Bürgermeisters selbst in ausgedehnten Stadtratssitzungen Stundenglas um Stundenglas von Debatten verfolgt und selbst geführt, bis sich der Gegenstand der Streitigkeiten schlicht von selbst erledigt hatte.
Mit Blick zur Dohlenfelder Praioshochgeweihten fuhr er fort: „Hochwürden, ich denke, Ihr solltet Euch einen Augenblick Zeit nehmen und kurz herauskommen: Eure Schwester, Ihre Hochgeboren Praiodara von Wolfsstein-Föhrenstieg, bittet darum, Euch sprechen zu dürfen.“
Hinter Throndwig sah man zahlreiche berittene Stadtwehrkämpfer Twergenhausens, und einige berittene Adlige. Darunter die Baronin von Wolfsstein, die am Absteigen war, um ihre praiosgeweihte Schwester, die sie mehrere Monate nicht gesehen hatte, herzlich zu begrüßen.
Der ganze Markt Dohlenfelde war bereits fest in den Händen der mit Hagen verbündeten Twergenhäuser und Adelstruppen, als man vom anderen Darlinufer die Landwehr Erzweilers heranrücken sah. Einige Stadtwehrkämpfer eilten zur Ochsenbrück, um ihre Verbündeten zu begrüßen. Erfreut über die kampflose Besetzung des Hauptortes der Baronie begrüßten sich die Bürger der Herzogenstadt und die Freibauern und Handwerker Erzweilers überschwänglich. Wo die Ortschaft nun gefallen war, ohne dass es auch nur einen Verletzten gegeben hätte, war man allerseits zuversichtlich, dass auch Burg Schwarzfels Hagen und seinen Verbündeten wie ein reifer Apfel in den Schoß fallen würde.
Rondrian ritt erhobenen Hauptes an der Spitze des Zuges. Die Muskeln seines Streitrosses spielten unter dem Sattel, er konnte die unbndige Kraft des schönen Hengstes erahnen. Er seufzte und senkte den Blick.
„Vater, was ist den mit dir? Seit Tagen treibt dich doch etwas um, ich sehe es deutlich.“
Rondrian sah auf und erblickte das scharfe Gesicht seiner Tochter. Sie war seit ihrer Knappenzeit in Weiden sehr aus den Kinderschuhen entwachsen.
„Es ist nur die einsetzende Schwermut eines alten Mannes. Ich fürchte die Unbilden des Satinav über mich kommen.“
„So kenne ich dich gar nicht. Es geht in den Kampf und du wirst sentimental?“
„Ach nein, versteh mich bitte nicht miss, es ist nur das ich den unerfüllbaren Wunsch habe, dies möge ohne Grausamkeiten an den Unschuldigen von Statten gehen. Da aber ein Haufen von Soldaten schnell zu einem geifernden, metzelnden und schändenden Mob verkommt, wenn man ihn nicht in der Hand hat, ist es nur ganz schwer erreichbar, diesen Wunsch zu erfüllen. Es ist meine Aufgabe diesen Haufen,“ er blickte sich auf die Kolonne zu um, „diesen Haufen bei Sinnen zu halten, das er sich benimmt. Das kann eine rechte Belastung sein, die ich auf meinen Schultern trage.“
„Sei dir versichert, ich bin dir immer zur Seite!“
Die Kraft in der Stimme seiner Tochter ließ Rondrian den Kopf schütteln.
„Wie könnte ich je daran zweifeln!“
Er reichte ihr die linke Hand und sie legte ihre Rechte hinein. Der Händedruck währte nur kurz, übertrug aber beiderseits Kraft und Zuversicht.
„Na dann, sehen wir zu, das wir nicht den ganzen Tanz verpassen“, knurrte der alte Maringer , winkte der Kolonne zu und rief den Weibeln zu, sie sollten aufpassen, dass keiner trödele.
Praiodara von Wolfsstein-Föhrenstieg ging gemessenen Schrittes an dem Patrizier aus dem Hause Gliependiek vorbei, ohne diesen auch nur eines Blickes zu würdigen. Die beiden Edlen Rhela von Föhrenstieg und Phelinda von Gernebruch folgten ihr auf dem Fuße.
„Schwesterherz, es erfreut uns in höchstem Maße, dich nach langen Monden wiederzusehen“, begann die Wolfssteiner Baronin.
Dann senkte sie die Stimme, so dass nur ihre Begleiterinnen sowie der Herr Gliependiek und Gratfride sie verstehen konnten.
„Und um so mehr, da ich dich auf der richtigen Seite in dieser Sache wähnen kann. Sind die Beratungen bereits beendet? Oder bedarf es noch einiger Überredungskünste?“
Auch Gratfrides Base Rhela grüßte die Praiosgeweihte, wenn auch etwas förmlicher und eher militärisch knapp.
„Praios mit euch, Hochwürden. Wir haben gehofft, euch hier anzutreffen.“
Die Praiosgeweihte antwortete der Baronin zu Wolfsstein: „Praios’ Segen mit Dir, Praiodara! Wie gut, dass Du hier bist, Schwesterherz! Ich freue mich so!“
Und an den Blicken der Bürger war zu erkennen, dass es keiner Überredungskunst mehr bedurfte, die Dorfversammlung im Hauptort der Baronie war beendet. Die meisten Teilnehmer verließen geduckt und mit sehr gemischten Gefühlen das Gerichtsgebäude und kehrten in ihre Häuser zurück oder gingen ihrem Tagwerk nach. Es gab nun weder einen besonderen Grund, Heldenmut zu beweisen, noch einen Anlass, Dummheiten zu begehen. Die Schlacht um Dohlenfelde war verloren, bevor sie geschlagen wurde. Den mit Hagen verbündeten Adligen und Patriziern begegneten die Freien zuvorkommend bis zur Unterwürfigkeit. Einzig die Marktvorsteherin und die beiden Traviageweihten Dohlenfeldes blieben im Gerichtsgebäude und begannen damit, einen Brief an Hagen von Salmingen-Sturmfels zu verfassen.
Nachdem klar war, dass Throndwig Gliependiek kein Interesse daran hatte, seinen Stadtwehrkämpfern eine längere Mittagsrast im Hauptort Dohlenfeldes zu gönnen – Marschproviant war genügend aus Twergenhausen mitgenommen worden – begannen die findigen Gastwirte der Ortschaft, auf dem Marktplatz Bier, belegte Brote und sogar Suppen in Holzschalen an die Städter zu verkaufen, Kinder brachten den Pferden der Berittenen für einen Kreuzer Heu und für einen Heller sogar Karotten. Die Offiziere ließen sich von Mägden die Stiefel nachpolieren. Kleinere Zankereien zwischen den Städtern und den Dohlenfeldern – zumeist wegen vermeintlich überhöhter Suppenpreise oder schalen Bieres – wurden rasch von den Landwehrkämpfern aus Erzweiler geschlichtet.