Dohlenfelder Thronfolgestreit - Des Schnakenseeers Tod
Die Schlacht war verloren, das war Baron Nerek von Schnakensee klar geworden.
Von seiner nicht weit vom Schönbundhof entfernten Stellung hatte er beobachten können, wie die linke Flanke des Heeres Hagens zusammengebrochen war, kämpfte doch dessen Reserve nun hinter den eigenen Linien gegen die Leute Angronds. An der eigenen, der rechten Flanke sah es nur wenig besser aus, an mehreren Stellen war den Streitern Angronds der Durchbruch gelungen, der Rückzug auf breiter Front war nur noch eine Frage der Zeit.
Ebenso im Zentrum hatte die zahlenmäßig deutlich überlegene Kavallerie der Verbündeten Angronds die Reiter Hagens weitgehend überwältigt. Einer berittenen Abteilung Angronds war es gelungen, die Geschütze der Koscher auszuschalten. Andere fielen bereits den Fußkämpfern Hagens in den Rücken.
Und nun näherte sich ein solches Détachement den tapferen Schnakenseer Schützen.
Der Baron brüllte: „Rückzug! Alle Mann, Rückzug! Dort den Hügel hinauf, ins Unterholz!“
Nerek wusste, dass dies die einzige Chance für seine verbliebenen zwanzig Schützen war, die fast alle ihre Pfeile verschossenen hatten. Im Nahkampf würden sie sowohl gegen schlachterprobte Streiter, erst recht jedoch gegen Ritter untergehen.
Zu gewinnen hatten seine Leute nichts mehr – und der Blutzoll war bereits hoch genug. Seiner Verpflichtung gegenüber Hagen beziehungsweise Frylinde war allemal genüge getan. Wenn jeder von Hagens Schützen so gut getroffen hätte wie seine Leute… nunja, es war müßig, darüber nachzudenken.
Die Schnakenseer Schützen ließen sich den Befehl ihres Barons nicht zweimal geben und setzten sich ab. Nerek von Schnakensee hatte noch genau einen Pfeil im hölzernen Köcher mit den zahlreichen Kerben, für jeden getöteten Feind eine. So der grimmige Herr Firun es wollte, würde in dieser Schlacht noch eine Kerbe hinzukommen.
Seelenruhig nahm der Baron seinen letzten Pfeil in beide Hände, küsste den Schaft. Er legte das Geschoss auf und musterte die sich schnell nähernden Reiter. Deren Anführer sollte sein letztes Ziel für diese Schlacht sein. Nerek blickte über seine Schulter, sah, wie seine Leute seinen Befehl ausführten und in Richtung der schutzbietenden Büsche und niedrigen Bäume eilten. Einzig seine getreue Weibelin war in zehn Schritt Entfernung stehengeblieben, wartete auf ihren Herrn.
Der firungläubige Baron drehte sich zu den Reitern um. Er richtete seinen Bogen auf den an der Spitze galoppierenden Ritter aus. Ein anspruchsvolles Ziel, aber so liebte es der Herr Firun! Wahre Größe war nur in der Herausforderung zu erlangen, jedes Scheitern konnte den Tod bedeuten.
Nerek durchfuhr ein Schreck, als er gewahr wurde, wer sich ihm da näherte: Die brünnierte Rüstung, auf dem schwarzen Schild ein roter Wolfskopf auf weißem Rund – Lechdan Mykena von und zu Wolfsstein! Verhöhnten die Zwölfe ihn gerade?
Lechdan einen Freund zu nennen, das wäre ihm wohl ein wenig weit gegangen: Es war nicht Nereks Art, Freundschaften zu pflegen. Aber er kannte Lechdan recht gut und achtete ihn.
Lechdan war wie er einer der wenigen grafentreuen Barone in der Landgrafschaft Gratenfels, zudem teilten sie den Glauben an Firun und eine große Jagdleidenschaft. Nicht viel häufiger als ein, zweimal im Jahr waren sie einander begegnet, zumeist auf Grafentagen in Gratenfels oder auf Herzogentagen in Elenvina. Aber im Laufe der Jahre waren sie einige Male zusammen auf der Pirsch gewesen, Nerek und Lechdan schätzen ihre Fähigkeiten und kannten ihre Schwächen, beide wussten, sich aufeinander verlassen zu können, wenn es darauf ankäme. Sie waren Jagdbrüder.
Und nun, dürfte Nerek von Schnakensee seinen Jagdbruder Lechdan von Wolfsstein töten, nur weil dieser in diesem irrsinnigen Streit um das Erbe eines ermordeten Barons und Reichskammerrichters die falsche Seite gewählt hatte? Nerek dachte nur einen Augenblick nach. Sentimentalitäten waren hier fehl am Platze.
Er war der Jäger, Angronds Streiter die Beute. Und für wen Lechdan in dieser Schlacht kämpfte, daran gab es keinen Zweifel. Dass Lechdan nun auf ihn zuritt, war ein Fingerzeig des grimmen Herrn der Jagd und des Winters. Denn der Gläubige wusste, dass sich die Beute ihren Jäger aussuchte, und nicht etwa umgekehrt, wie dies der unbedarfte Gelegenheitsjäger nicht selten annahm.
Lechdan hatte sich also dafür entschieden, seine derische Existenz durch die Hand Nereks zu beenden. Auf nur knapp unter hundert Schritt Entfernung spannte er seinen Bogen, zielte genau. So genau, wie er es seit dem Zwölfender vor drei Jahren nicht getan hatte. Es war seine Pflicht als Jäger, seiner Beute einen gnädigen Tod zu gewähren.
Er wartete, bis er sich sicher war, sein Ziel exakt zu treffen. Dann ließ er die bis zum Zerreißen gespannte Sehne los, der Pfeil sauste unerbittlich auf sein Ziel zu.
Lechdan von Wolfsstein ritt an der Spitze seiner Getreuen, hinter ihm seine Ritter Magorn Fenwasian und Gero von Schwingenbach, kurz dahinter sein Knappe Folcrad und die berittenen Waffenknechte.
Das Ende der Schlacht und damit der Sieg waren nahe! Der Wolfssteiner focht wie ein Berserker, gedachte er doch seines verkrüppelten Sohnes, der ehedem der Knappe von Hagen gewesen war. Diesem hochmütigen Großmaul würde er eigenhändig die Klinge in den Wanst treiben, wenn er ihn zu fassen bekommen würde!
Einige Schritt vor sich sah er Hagens Fußtruppen wie die Hasen davon laufen. Hasen waren sie fürwahr, und wie Wölfe würden die Wolfssteiner unter sie fahren.
Kurz kam ihm der seltsame Traum der letzten Nacht in den Sinn, der sich bereits mehrfach in den letzten Tagen wiederholte. Ein grauer Wolf auf einem kahlen Berg, dahinter eine brennende Burg. Im nächsten Augenblick lag der Wolf in seinem Blute und der Himmel wurde von einem Rabenschwarm verdunkelt.
„Vorsicht, Hochgeboren!“, riss ihn die warnende Stimme Geros aus seinen Gedanken.
Das Geschoss traf Lechdan von Wolfsstein genau in den Visierschlitz, der Baron fiel seitwärts aus dem Sattel seines Streitrosses. Nerek sprach ein stummes Gebet zu Firun – er dankt dem Gnadenlosen für den schnellen Tod seiner Beute, die diesmal sein Jagdbruder Lechdan Mykena von Wolfsstein gewesen war.
Für das Ritual mit dem Jagdmesser, das Schnitzen der Kerbe in den Köcher, war jedoch keine Zeit mehr. Nerek würde dies nachholen, sobald er oben auf dem Hügel bei seinen Leuten wäre. Er drehte sich um und sprang auf, er rannte los. Das rettende Unterholz kam näher und näher, hinter ihm hörte er die ihn verfolgenden Reiter ihren Abstand verkürzen.
Urplötzlich knickte ihm der rechte Fuß weg, ein stechender Schmerz raste vom Knöchel den Unterschenkel hinauf, ließ den rennenden Nerek vornüber stürzen. Gerade noch konnte sich der Baron mit den Händen abfangen und dank seiner nur leichten Kleidung gekonnt abrollen. Auf dem Boden kauernd hielt sich Nerek seinen schnell anschwellenden, ungeheuer schmerzenden Fuß. Ihm war sofort klar, dass er auf absehbare Zeit keinen Schritt mehr würde tun könnte. Schwer verstaucht zumindest, vermutlich gebrochen.
Nerek biss die Zähne zusammen, drängte den Schmerz beiseite. Ihm wurde klar, was geschehen war: Er war in einen eigentlich weithin sichtbaren Maulwurfhügel getreten, das hätte ihm nicht passieren dürfen. Reiter hatten Angst vor diesen Löchern – zu Fuß stellten sie eigentlich keine Gefahr dar, zumindest nicht für einen erfahrenen Waldläufer wie ihn.
Aber wie auch immer, nun war er auf Gedeih und Verderb seinen Feinden ausgeliefert. Er rechnete nicht mit Gnade. Der gnadenlose Herr Firun verzieh keine Fehler. Aufgrund einer winzigen Unachtsamkeit war aus dem gefährlichen Jäger eine wehrlose Beute geworden.
Magorn Fenwasian, dem Junker auf Burg Nadelfels, Leibritter des Wolfssteiner Barons und guter Freund Lechdans stand das Entsetzten ins Gesicht geschrieben. So viele gemeinsame Schlachten, so viele gemeinsame Kämpfe, so viele gemeinsame Wagnisse – und nun sollte dieser elende Bruderzwist den Tag für Lechdans Reise über das Nirgendmeer bestimmen? Das konnte nicht sein!
Der Ritter mit Winhaller Wurzeln brüllte vor Wut lauf auf und gab seinem Streitross die Sporen, der Schütze würde ihm nicht entkommen! Magorn hetzte seinen Hengst gnadenlos über die wellige Heide, die Kriegslanze war längst zersplittert, in seiner Rechten lag locker die einhändige Streitaxt, bereits mit Blut besudelt. Mit dem Wolfspelz über seinem Helm und den langen schwarzen Haaren wirkte der Wolfssteiner Ritter selbst wie ein jagender Wolf.
Da war dieser ehrlose Bauernlümmel, der würde keinen Adligen mehr feige morden! Der Mann drehte just in dem Moment den Kopf in Richtung des heranrasenden Ritters, als Magorn mit einem weit ausholenden Schwung die Axt in einem Rückhandschlag niedersausen ließ.
Die nicht sonderlich scharfe und schon recht schartige Schneide der Streitaxt des Winhallers traf Nerek mit voller Wucht mitten auf die Stirn und zerschmetterte den Schädelknochen, so dass sich Blut, Hirnmasse und Knochensplitter im weiten Umkreis verteilten. Der Getroffene war sofort tot. Es waren nur Herzschläge vergangen, seit der letzte Pfeil des Schnakenseers Lechdan von Wolfsstein über das Nirgendmeer geschickt hatte.
In dem Moment, in dem ihn die eisige Kälte des Todes umfing, hatte Nerek daran gedacht, dass er seinen Jagdbruder Lechdan in Firuns Ewigen Jagdgründen wiedersehen würde. Seite an Seite würden die beiden Gratenfelser Barone durch die bis zum Horizont reichenden, schneebedeckten alveranischen Weiten reiten und auf Waidmannsart und Herrn Firun zur Ehr‘ reiche Beute machen. Wie in besseren Tagen – und bis zum Ende aller Tage.