Dohlenfelder Thronfolgestreit - Kajax
Das Putzen seiner Schwungfedern bereitete dem stolzen Kajax stets großes Vergnügen, er liebte es, mit seinem kräftigen Schnabel durch Außen- und Innenfahnen seiner festen Federn zu streichen und Dreck und Ungeziefer zu entfernen. Auf einem benachbarten Ast der prächtigen Feldulme, die die steinerne Wohnstatt der kurzlebigen, nackten Zweibeiner beschirmte, saß Kajax’ würdevolle Gattin Nakaja, die mit ihrem prächtigen, silbrig schimmernden, tiefschwarzem Federkleid wahrhaft eine Königin war.
Über der lückenlosen Bewölkung dieses Hochsommertages war fernes Donnergrollen zu hören, ab und zu waren – höher, als ein Vogel fliegen konnte – Wetterleuchten zu sehen. Im gerodeten Land auf der Sonnenuntergangsseite des Darlin hatte sich, nur ein paar Dutzend Schwingenschläge gen Mitternacht, eine erkleckliche Zahl von kurzlebigen, nackten Zweibeinern und wiehernden, grasfressenden Vierbeinern versammelt, des gleichen war gen Mittag geschehen.
Bald schon, so gut hatte Kajax diese hilflos an den Erdboden gefesselten Geschöpfe in den letzten Jahrtausenden kennengelernt, würden sie sich gegenseitig zu Tode stechen, schneiden und schlagen. Und da sie nicht nur keine Flügel hatten, sondern zudem weder über kräftige Schnäbel noch über scharfe Krallen verfügten, brauchten sie dazu Hilfsmittel, die aus Holz sowie verlockend blitzendem Metall gefertigt waren. Um sich wiederum vor diesen Mordwerkzeugen zu schützen, mussten sich die kurzlebigen, nackten Zweibeiner blitzendes Metall über ihre Körper ziehen – eine abstruse Idee, auf die wahrhaftig nur Geschöpfe kommen konnten, die sich noch nie vom Erdboden in die unendliche Freiheit der Lüfte erhoben hatten!
Der Speichel floss Kajax, dem Dohlenkönig, im Schnabel zusammen, wenn er daran dachte, welch Festmahl ihm in Kürze bereitet würde: Hunderte seiner Kinder, Kindeskinder und deren Nachkommen hatten sich in den Bäumen und Hecken um die Walstatt versammelt, unbemerkt von den tumben zwei- und vierbeinigen Kriegern und nur bemerkt von dem einen oder anderen vierbeinigen Vogeljäger, der im Unterholz herumschlich.
Auch die Könige der Raben und Krähen hatten ihre Kinder und ihr Gefolge geschickt, um dem Dohlenkönig und der Dohlenkönigin die Aufwartung zu machen und sich an den toten Leibern der Zwei- und Vierbeiner zu laben. Kajax und Nakaja würden Augen aus den Schädeln picken, leckeres Muskelfleisch aus den Armen und Beinen reißen und sicherlich auch Hirn aus gespaltenen Schädeln und Innereien aus geöffneten Bäuchen genießen, bis sie sich vor Völlerei kaum noch in die Lüfte erheben könnten. Ein königliches Festmahl!
So eine Freude bereiteten die kurzlebigen Zweibeiner hier in Kajax’ Königreich zwischen den uralten Granitbergen und dem ewigen Fluss nur alle hundert Jahre, die letzten Jahre hatte er für vergleichbare Schlemmereien zumeist viele Stunden gen Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang, gen Mitternacht oder Mittag fliegen müssen.
Baron Garmwart von Quakenbrück hatte sein Schwert gezogen und reckte es senkrecht in die Höhe. Würde er es senken, würde sein Hornist das vereinbarte Angriffssignal blasen. Er selbst würde, auch wenn es ihm schwer fiel, bei der Reserve bleiben. Das Kämpfen in der ersten Reihe musste er wohl oder übel den übrigen Adligen überlassen.
Garmwarts Blick wanderte zum letzten Mal über seine eigene, dann Hagens Schlachtreihe. Es sah gut aus, es würde ein rondragefälliger Kampf werden, seine Streiter waren begierig darauf, Hagens Leuten das gemeine Attentat vor wenigen Stunden ehrenhaft heimzuzahlen. Und am Ende würde sein Heer – er meinte natürlich: das Heer Angronds – triumphieren.
Ruckartig ließ der Baron zu Eisenhuett seine Klinge sinken, bis sie genau auf das Zentrum von Hagens Kavallerie zielte, wo er Hagen, den Sohn seines guten, vor mehr als drei Jahren gemordeten Freundes Bernhelm vermutete. Denn so gut waren seine alten Augen nicht mehr, dass er dort, in fünfhundert Schritt Entfernung, Wappen und Banner erkennen oder auch nur erahnen konnte.
Das Schwert war noch nicht in der Waagerechten, da erschallte das Hornsignal über dem Schlachtfeld, und aus mehr als tausend Kehlen hörte man ein „Für Rondra, für Baron Angrond!“ – den vereinbarten Schlachtruf.
Die Infanterie auf beiden Flanken von Angronds Heer setzte sich mehr oder minder gleichmäßig in Bewegung, bestrebt Schritt zu halten. Im Zentrum galoppierten die geübten Streitrösser aus dem Stand an, während die Ritter gleichzeitig ihre Kriegslanzen senkten.
Von der Südseite des Schönbunder Grüns hörte man den Schlachtruf „Für Rondra, für Baron Hagen!“ herüberhallen. Es würde nur noch Augenblicke dauern, bis die Reiter beider Seiten aufeinanderprallten, bis die ersten Reiter und Rösser von den Lanzen der Gegenseite durchbohrt würden. Schon flogen die ersten Geschosse.
Der Knappe an Garmwarts Seite zeigte plötzlich verwundert zur linken Flanke Hagens. Er hatte das rechte Alter bereits erreicht und diese Schlacht würde ihm die Schwertleite einbringen, sobald er die Gelegenheit erhielt, sich in dieser zu bewähren. Er hatte an der Seite seines Schwertvaters schon reichlich Erfahrung gesammelt, doch Aufregung lag in seiner Stimme angesichts der kommenden Ereignisse: „Hochgeboren, was geschieht dort?“
Der Baron zu Eisenstein sowie die herzoglichen Vögte zu Arraned und Fuchsgau hatten sich unmittelbar nach dem Hornsignal von ihren schweren Lehnstühlen erhoben, waren aufgesessen – marschierten aber nicht, wie erwartet, auf die rechte Flanke Angronds zu, sondern hielten inne. Mehr noch, die Truppen des Eisensteiners und der beiden Vögte machten auf der Stelle kehrt und zogen sich geordnet zurück!
Der ganze linke Flügel Hagens verließ das Schlachtfeld gen Süden, sogar die Hälfte von Hagens Reitern – diejenigen in den Farben Arraneds, Eisensteins und Fuchsgaus – machten kehrt. Zwischen Hagens verbliebenem Zentrum und dem Darlin würde in Kürze eine Lücke von 300 Schritt klaffen! War es eine List? War es Verrat? War es womöglich nur ein fatales Missverständnis?
Eines wusste der Baron zu Eisenhuett jedoch mit Sicherheit: Wenn es mit dem Eisensteiner zuging, konnte nichts Gutes daraus erwachsen, und es hatte sich bereits gezeigt, dass bei den Verbündeten Hagens mit jeder List jedem Hinterhalt zu rechnen war.
Es war bedauerlich, dass sich Hagen mit solcherlei Gelichter eingelassen hatte, es beschmutzte das Erbe und die Ehre seines Vaters. Es bewies um eines mehr, wie falsch es wäre, wenn Hagen die Baronskrone Dohlenfeldes erhielte. Dies würde jedoch Hagen dereinst selbst mit seinem Vater ausmachen müssen. Doch Hagen selbst erinnerte den Baron sehr an die jungen und ungestümen Tage seines verstorbenen Freundes, ihm grollte er nicht, doch seine Berater waren ihm ein Abscheu.
Für Angrond galt es hier jedoch zu streiten und Bernhelm in Ehren zu halten. Der Baron überblickte die Heerscharen beider Seiten, dieser Tag würde Rondra eine Freude sein, befand er.
Der Dohlenkönig und die Dohlenkönigin flatterten ungeduldig mit ihren schwarzen Schwingen und riefen wie aus einem Schnabel ihr lautes, metallisch-scharfes „Kaja! Kaja!“ über das gerodete Land, nachdem sich die weit mehr als zweitausend Vier- und Zweibeiner auf beiden Seiten in Bewegung gesetzt hatten und Hunderte bald sterben würden. Die Vorfreude auf das Festmahl hatte sich ins Unermessliche gesteigert.
Der Dohlenhofstaat antworte vielhundertfach, auch die Krähen und Raben stimmten ein, die jungen Vögel hüpften aufgeregt herum.
Nicht mehr lange, nicht mehr lange!