Ein Angbarer läßt sich bitten
Ein Angbarer läßt sich bitten
Überraschende Wende bei der Wahl zum Reichsvogt
„Und wem gilt Eure Stimme, Ratsfrau?“ Der amtierende Reichsvogt von Angbar, Herr Bosper zu Stippwitz, stellte die Frage an die eben vorgetretene Sattlerin Travine Brumsrüb mit einer gewissen Lässigkeit. Denn nicht nur die erste, sondern auch die dritte und vierte des Tages hatten seiner höchsteigenen Person gegolten (die zweite ging an Meister Anghalm Eisenstrunk) und der Reichsvogt hatte jeden Strich, den der Stadtschreiber Born von Stedtler hinter seinem Namen in die Schiefertafel ritzte, mit Befriedigung zur Kenntnis genommen. Diese jedoch wich jetzt einiger Verblüffung: „Herrn Odoardo Markwardt“, erklärte die Brumrüb nachdrücklich.
Gelächter erhob sich aus den Reihen der Ratsherren, vor allem unter den Parteigängern des amtierenden Reichsvogts. „Der steht nicht zur Wahl, gute Frau!“ und „Wo kommt die denn her? Wohl aus Koschtal, was?“ riefen sie. Der Reichsvogt selbst bewies Geduld und Diplomatie. „Herr Markwardt hat seine Kandidatur zurückgezogen. Mögt Ihr Euch für einen der anderen Kandidaten entscheiden?“
„Nein, ich will für Herrn Markwardt stimmen“, erklärte die Sattlerin, eine ehrbare Alt-Angbarerin jenseits der Siebzig, die eben erst für ihren im Firunmond verstorbenen Schwiegersohn in den Rat der Zünfte nachgerückt war. „Der hat das Vogteihaus vorm Verfall bewahrt und hält sich an das, was in Alt-Angbar gut und zünftig ist.“
Bei diesen Worten nickten einige der Ratsherren, die ihm Markwardt ebendies hoch anrechneten, und natürlich jene, die ihm stets die Treue gehalten hatten, und raunten einander zu, warum er denn nicht antrete.
Andere aber wurden ungeduldig. Meister Barnabox, der zur Gefolgschaft Eisenstrunks gerechnet wurde, hämmerte mit seinem Humpen auf die eichene Sitzbank und machte seinem Ärger Luft: „Hört, gute Frau, wir haben nicht auf ewig Zeit hier, und Ihr wollt für Markwardt stimmen, aber das geht nicht. Also sucht Euch jemand anderen! Den Meister Anghalm rat ich Euch, Angrosch mit ihm!“ Sprach’s und blickte sich beifallsheischend um.
Da traf ihn ein harter Blick, der schon manchem im Rat hatte schweigen lassen, und Ratsherr Odoardo Markwardt erhob selbst seine Stimme: „Verzeiht, Ihr Herrschaften, wenn meine Person für Unruhe im Rat gesorgt habt — aber Ihr, Barnabox, haltet Euren Mund oder gießt meinetwegen Bier hinein, aber stört nicht wie ein Garether Gassenstrolch. Wir halten hier eine gewichtige Wahl ab, und unser Herr Reichsvogt wird Mütterchen Brumsrüb die Wahlordnung schon erläutern.“
Kühl und ruhig nickte dieser: „Die Vorschriften kennt Ihr gewiß ebenso gut wie ich, Herr Markwardt. Euer Name stand am Stichtag auf der Liste der Kandidaten. Also mag man für Euch stimmen, auch wenn Ihr erklärt habt, Ihr wolltet nicht antreten.“ Im Saal war wieder Ruhe eingekehrt, und die Ratsfrau wiederholte ihre Absicht zum dritten Mal: „Für Herrn Markwardt will ich stimmen.“
Nun machte sich erneut Unruhe breit, mehr noch als zuvor. Ratsleute steckten die Köpfe zusammen und riefen sich über die Bänke etwas zu. Die Kandidaten berieten sich mit ihren engsten Parteigängern. Da tönte eine zweite Stimme: „Ich stimme für Markwardt! Er soll wieder antreten!“ und schon fielen andere Rufe ein, zumeist aus den Reihen der Parteigänger Eisenstrunks. Markwardt selbst wehrte gelassen die Glückwünsche seiner Unterstützer ab.
Bosper zu Stippwitz war als studierter Kundiger der Juristerey auf diesen Moment vorbereitet gewesen. Es mag sein, daß er ihn gefürchtet hatte, doch nach außen schien er so selbstbewußt, als würde ein weiterer Bewerber nur das Lager seiner Gegner weiter spalten. „Ruhe, ihr Herrschaften, Ruhe!“ rief er die Zunftherren zur Ordnung. „Was sagt Ihr dazu, Herr Markwardt?“
Der erhob sich langsam. „Unserer Stadt braucht einen Vogt, aber das Buhlen um Stimmen wollen wir anderen überlassen! Deshalb bin ich bei einer solchen Zahl vortrefflicher Kandidaten nicht angetreten. “ wiederholte Markwardt die Devise, die er bereits einige Zeit vor der Wahl ausgegeben hatte. „Ich will mich deshalb um mein Geschäft kümmern, und nicht, daß ihr mich wählt. Ich habe keinen zu überzeugen versucht und werde es auch gewiß nicht heute anfangen. Doch wenn mich meine Heimatstadt ruft, wenn die Angbarer mich in dieses ehrwürdige Amt wählt, dann kann ich mich dem nicht verschließen.“
„Die Ältestenkammer wird alsbald darüber entscheiden“, befand Vogt Bosper. „Der Rat der Zünfte wird in zwei Stunden wieder zusammentreten.“
Das kann doch wohl nicht wahr sein!“ ereiferte sich die einzige Kandidatin. „Da sieht man wieder einmal, wie wenig Rückrat mein teurer Stiefsohn Bosper hat … “ Ihr Protest nützte nichts, und wer sich erinnerte, daß des Rates ältester Mitglied, der Kesselschmied Lutrhix, Sohn des Luhim, bei der letzten Wahl für Markwardt stimmte, wunderte sich nicht, daß der Ältestenrat sich für die erneute Zulassung Markwardts aussprach. Im Gegensatz zu seiner Stiefmutter akzeptierte Herr Bosper die Entscheidung ohne Vorbehalte: In seinem Revier ging Markwardt nicht auf Stimmenfang, auch wenn er ein harter Gegner sein mochte.
Mit der mühsam erreichten Einigkeit der Schmiedezünfte war es nach Herrn Odoardos Rede aber vorbei, so daß ihr Kandidat Anghalm Eisenstrunk erklärte, er wolle nun nicht mehr antreten: Wie Herr Markwardt ausgeführt habe, schickten sich zuviele Bewerber nicht fürs zünftige Angbar, wessenthalben er nunmehr nur noch für den Posten des Mauergreven zur Verfügung stehe, und seinen treuen Freunden empfehle, für Herrn Markwardt zu stimmen. Daß dieser ihm das Mauergreven-Amt zugesichert hatte, daran zweifelte niemand.
Unter dergestalt veränderten Bedingungen schritten die Herrschaften im Rat der Zünfte ein zweites Mal zur Wahl. Recht behalten hatte damit der Ratsherr Baduar Bröterich, welcher zuvor das Fehlen Markwardts bedauert hatte: „Er hätte der Wahl sicher noch mehr Pfiff verliehen, geradeso wie die Hefe dem guten Backwerke.“ Gleichwohl stimmte Bröterich nicht für den Markwardt, als er aufgerufen wurde, und auch die meisten anderen Kandidaten schienen ihm nicht recht zu behagen.
„Der Eisenstunk stinket mir so sehr nach Qualm und Rauch, daß einem der gesunde Appetit auf Backwerk vergehe. Schlimmer noch ist der Butterbrodt, der zwar nicht nach Rauch, aber nach lieblichem Felde stinket, auf daß jeder Teig sauer wird!“ — so tönte der Brezelbäcker und fuhr fort: „Die Praiodane ist ein bitteres Weib, sagt meine liebe Gattin, und die muß es ja wissen. Und statt koscher Backrezepten bevorzugt die zugereiste Dame zudem garether Zuckertürmlein und Süßmuß. Bei Nirdamon wüßt ich eigentlich nix recht’s auszusetzen. Doch zwei Stimmen habe ich nunmal nicht - und der wack’re Angroschim wird ja noch so manche Wahl erleben dürfen. Somit gehet die meinige Stimme bei dieser Wahl an den alten und — so hoffen wir — neuen Vogte Bosper zu Stippwitz!“
Nicht wenige, die da gleich ihm ihre Stimmabgabe mit ausführlichen Erläuterungen ihrer Beweggründe begleitetem, um solcherart noch einmal kräftig die Trommel für ihren Favoriten zu rühren. „Acht Stammväter hat mein Volk, acht Brüder“, erinnerte Boreg, Sohn des Rolag die Ratsleute. „Auch unter den Menschen gelten die Brüder Aurin Raurin als die besten Schmiede der Zwergenheit. Und regiert nicht auch unser neuer Hochkönig Albrax mit der weisen Hilfe seines Bruders Arombolosch? Drum: Stadt und Land in Brüderhand! Ich stimme für Nirdamon, Sohn des Negromon!“
Knapp und wie nicht anders zu erwarten äußerte sich der einflußreiche Handelsherr Gobrom zu Stippwitz, der einzige Überlebende der drei Gebrüder: „Der Alte soll der neue sein. Eine Stimme allfolglich für unseren Vetter.“
Lautstark waren die Bekundungen der Unterstützer Markwardts, weniger zahlreich die der jungen Witwe Stippwitz, vereinzelt nur jene, die für Tradan Butterbrodt sprachen. So war der Manufakteur auch der, auf den am Ende die wenigsten Stimmen entfielen.
Alle anderen aber — so schien es, als der Stadtschreiber Strich um Strich auf der Tafel auftrug — lagen lange Zeit gleichauf. An solcherlei Ding mochten sich selbst die ältesten der Ratsleute nicht zu erinnern, und nicht minder erstaunt waren die prominenten Zuschauer, die die Abstimmung verfolgten (Freilich war Väterchen Nirwulf, Meister Nirdamons Bruder, zur Wahl erschienen. Auch Hochwürden Tarjok Boquoi von der Halle des Praios, die beiden hohen Geweihten Lorthax und Ibralosch vom Tempel des Feurigen, der Erbgreve, des Fürsten Cantzler Duridan von Sighelms Halm und der darpatische Gesandte, Herr Edric von Firunslicht, harrten während der Wahl im Zuschauerraum aus.
Am Ende hatten der Zwerg und Odoardo Markwardt jeweils ein gutes Sechstel der Stimmen gewonnen — die beiden Stippwitzens jedoch, Herr Bosper und seine Schwiegermutter, jeder ein Drittel! So mußte denn — wie von vielen befürchtetet, eine Stichwahl über den künftigen Träger des steifen Vogthutes entscheiden. Lautstark schimpfend verließen ob dieser Ankündigung vier ehrwürdige Ratsleute empört das Haus der Zünfte — sie hatten als ehemalige Unterstützer Anghalm Eisenstrunks ohnedies die Rechtmäßigkeit der neuen Kandidatenriege angezweifelt. Herrn Bosper zu Stippwitz, dem bewährten Vogt und nicht der jungen Widersacherin, billigten die Ratsleute endlich im zweiten Wahlgang zu, auch künftig die Geschicke der Reichstadt zu leiten — doch konnte er nur auf eine einzige Stimme Mehrheit zählen, was einer wahrlichen Sensation nahekam.
Triumphiert mag er haben, doch verfügt Meister Stippwitz nun nicht über eine ausreichend große Mehrheit im Rat, die seine Entscheidungen unterstützen wird. Wohl muß der alte und neue Vogt sich Unterstützung im Lager des Zwergen Nirdamons Suchen — oder gar dem des alten Opponenten Markwardt, wie dieser nach Wahl in der Ratstrinkstube unverblümt verkündete. Gram scheint der alte Fuchs ob seiner erneuten Niederlage nicht zu sein, hat die Wahl doch gezeigt, auf welches Maß an Unterstützung er auch ohne eigenes Zutun in der Angbarer Bürgerschaft bauen kann …