Die Vogtei Zwischenwasser
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Die Vogtei Zwischenwasser
Des Grafen Lehen am Angbarer See — Unser Kosch Teil VI
„Wahrlich, der Graf zum Grauen See wird zuweilen mit argem Spott bedacht. Mag die Grafschaft um Angbar auch mindestens ebenso bevölkert und wohlhabend sein wie wie Ferdoker Lande, so hört man doch in den Niederungen des Großen Flusses allerorten, daß in Wahrheit der Ferdoker Herr den wichtigsten Sitz auf der Koscher Grafenbank innehabe. Dies aber darf mit Fug und Recht bezweifelt werden – schließlich ward Graf Orsino zum Groß-Siegelbewahrer des Reiches bestallt und weilt gar oftens am Garether Hofe, so daß sich die beiden Herren an Macht und Ansehen wohl gleich kommen. Doch ist kaum zu verhehlen, daß er es ganz gewiß nicht mag, wie die Angbarer Städter sich selber den Vogt aus ihren Reihen wählen, und zudem in seiner Herrschaft der niedere Landadel um einiges mächtiger sein mag als anderswo.“
(aus den Lebenserinnerungen der Schatzinspecteurin Nortgrima, Tochter der Nortigal, bislang nur eine Abschrift)
Einleitung
In der Tat verfügt Seine Hochwohlgeboren Orsino von Falkenhag nicht über eine derart gefestigte Domäne wie beispielsweise die Grafen zu Wengenholm mit ihrer gleichnamigen Baronie. Gerade die Hälfte des gräflichen Lehens Zwischenwasser untersteht direkt seiner Verwaltung. Denn groß ist die Zahl der unterbelehnten Edlen — wie vielerorts im stetig prosperierenden Angbarer Land haben sich auch hier bedeutende Ritterschaften und Junkergüter etabliert.
Nicht ganz zufällig gehen diese mit den geographischen Gegebenheiten des Lehens einher: im Südwesten liegen die Seeauen (zu denen auch die Insel Nispe gerechnet wird), an das sich im Norden die schon wesentlich kleineren (und bis vor kurzem beständig miteinander in Fehde befindlichen) Ritterschaften Steenback und Lutzenstrand anschließen.
Das westlich gelegene Gormeler Grün ist dagegen flächenmäßig erheblich ausgedehnter und umfaßt neben besagten Wald auch die Rodungen an der Ferdoker Grenze. Ähnlich sieht es im Norden aus: der Forst bis zur Ortschaft Gôrmel, Falkenhag genannt, und das fruchtbare Höfsche bilden als gräfliche Besitzungen eine Einheit von Wald- und Weideland.
Die historischen Ursachen für diesen Status sind hinlänglich bekannt. Erst unter Kaiser Perval ehrte Fürst Holdwin vom Eberstamm seinen langjährigen Gefolgsmann und mehrmaligen Lebensretter, den alten Lands-Jagdmeister Jörch von Falkenhag mit dem Grafentitel. Zuvor übte ähnlich der kaiserlichen Praxis meist der Fürst selbst (oder seltener der Thronfolger) die Herrschaft in Personalunion aus, um sich so eine starke Hausmacht zu sichern.
Die eigentliche Administration wurde allerdings von einem Vogt wahrgenommen, der theoretisch dem fähigsten Vertreter des Niederadels zufiel, aber oft genug dem Geschlecht derer vom See, seltener dem Haus Falkenhag entstammte.
Als die ursprüngliche Aufgabe der Vögte nach der Erhebung des neuen Grafen wegfiel, schrumpfte ihr Machtbereich rasch auf die Baronie Zwischenwasser. Nach dem Tod der letzten Amtsinhaberin Govena vom See überging dann der neue Graf stillschweigend die Ansprüche seiner alten Konkurrenten und kehrte praktisch zur erblichen Vergabe des Postens zurück, mit der er sich der Unterstützung des Hauses Gormel (und den Unmut derer vom See) versicherte.
Das Höfsche
Fruchtbar ist das Land im Norden des großen Sees, und wird darob auch von fleißigen Bauern bestellt. Hof reiht sich an Hof und Acker an Acker, und man spricht allenthalben von einem der Frau Peraine wohlgefälligen Landstrich, wo Roggen, Dinkel und vielerlei andere Feldfrüchte im Gegensatz zu den rauhen Bergländern Wengenholms und Schetzenecks im Übermaß gedeihen.
Soviel Korn wird hier alljährlich geerrntet, daß nicht nur die Speicher der Grafenschlosses, sondern auch die Scheunen der Bauern prall gefüllt sind, und überdies manche Fuhre in die Fürstenstadt geliefert wird, was gutes Silber bringt.
Seit mehr als zweihundert Götterläufen schon ist dieser Forst der Familie des Grafen zu eigen, seit einst ihre Anherrin Bruellis als Falknerin aus ihrer Weidener Heimat den Weg an den fürstlichen Hof des Kosch fand. Bald ward sie mit Amt der Lands-Jagdmeisterin ausgezeichnet (das dieser Praiosläufe immer noch eine Base des Grafen — nämlich die edle Frau Firuna — innehat), und für treue Dieste mit dem Gut Falkenhag belohnt. Auch die Jagdfalken des Kaiserhauses wurden hier — und nicht irgendwo im Garetischen — gehegt, so daß die Jagdmeister mit allem Recht Reichs-Ritter geheißen wurden.
Es will uns heuer als Kurisosum erscheinen, aber in jenen Tagen waren es die Falken (die kaiserlichen und fürstlichen), die man als höchlich-adelig, Baronen gleich, erachtete… und die Ritter für nicht mehr als deren Verweser ansah. Seit jedoch der wack’re Jörch von Falkenhag dem späteren Fürsten Holdwin das Leben rettete, wofür ihm dieser bald die Grafenkrone aufs Haupt setzte, ist seine Linie auch in den Augen der strengsten und altertümlichsten Heraldiker ihren Tieren im Range überlegen.
Nummehr residiert das Geschlecht im neuen Wasserschloß Grauensee, was auch dem Herrn Orsino sehr zupaß kommt. Ist seine Hochwohlgeboren doch als Freund höfischen Lebens bekannt und ein umschwärmter Kavalier der Garether Gesellschaft! Oft weilt er in der Reichshauptstadt, um dortens all seinen Pflichten als Groß-Siegelbewahrer nachzukommen, und findet darob nur wenig Zeit für die täglichen Geschäfte der Grafschaft (die nämlich besorgt seit mehr als dreißig Götterlaufen der Geheime Rat Drolbosch, Drains Sohn, und zuweilen auch des Grafen Bruder, der zaubermächtige Prinz Voltan).
Wenn jedoch einmal der Schloßherr zu Hause weilt, dann kann man sicher sein, daß sich alsbald auch der Koscher Adel auf Grauensee versammelt.. Denn niemand verweigert sich dem Ruf, wenn der Graf zu einem seiner prunkvollen Feste lädt…
Das alte Ritter-Gut wird derweilen noch bewirtschaftet und die Bauersleute des Dorfes sorgen wie eh und je für die Versorgung der Herrschaften. Der Falkenturm jedoch ist verlassen, denn auch die Tiere haben auf Grauensee ein neues Domizil gefunden.
Die unbestritten größte Ortschaft des Lehens liegt direkt an der gut ausgebauten, aber recht wenig genutzten Straße von Steinbrücken nach Ferdok, und ist mit seinen heuer 734 Einwohner kaum kleiner als Koschtal oder Eisenhütt. Seit jeher aber leiden die Gormeler darunter, daß niemand außerhalb des Ortes diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen scheint. Sogar das nicht einmal sechshundert Bewohner zählende Steinbrücken im benachbarten Vinansamt darf sich Städtchen nennen, während das stolze Gormel oft mit Mißachtung zu kämpfen hat. Oft genug wird es sogar mit dem viel kleineren, ebenfalls in der Nachbarbaronie gelegenen Dorf Gaschenk verwechselt. Selbst die große Schnapsbrennerei Brenskis & Fischholer, die sogar Hoflieferant ist, konnte erst Absätze außerhalb der Vogtei (und sogar im Ferdokschen und Schetzeneck) verbuchen, seit der alte Raul Brenskis zum 10. Thronjubiläum Seiner Durchlaucht den „Gormel-Geist“ in „Zwischenwasser Fürsten-Schlückchen“ umgetauft hat.
In Angbar nimmt man den Namen „Gormel“ überhaupt nur in einem Zusammenhang in den Mund, „Geh nach Gormel!“ rät der Bürger einem Zugezogenen, der sich dem regen städtischen Leben nicht gewachsen fühlt. Mag dies als freundlicher Spott gemeint sein, haben wohl gar vermögende Angbarer den Weg in das verschmähte Städtlein angetreten, wenn sie ein Zipperlein plagte. Rund um die Ortschaft sprudeln nämlich mehrere Quellen, denen man heilende Wirkung nachsagt. Selbst nach dem Versiegen des „Thobwild-Bornes“, in dessen Wasser sich die letzte verbürgte Wunderheilung ereigntete, nehmen Alte und Kranke aus dem ganzen Land und auch von Außerkosch die oft mühsame Reise hierher in Kauf. So findet man in Gormel neben einem Spital der Therbûniten auch mehr als ein Dutzend gastlicher Häuser hervorragender Qualität, von denen die meisten allerdings nur für begüteterte Gäste erschwinglich sind. Ja, sogar Kaiserin Alara weilte schon eimal hier. Daß bei all den Hofdamen, Leibdienern und Gardisten aus dem Gefolge der Landesmutter die Gegend damals einem mittleren Feldlager glich, erzählen die Gormeler noch heute jedem Fremden.
Einzige wirkliche Besonderheit des Ortes ist ansonsten die mannshohe Gormeler „Schelmenglocke“ aus (sic!), die seit ungezählten Götterläufen an der großem Dorfeiche hängt. Aber gerade sie unterstützt viel eher den Ruf als „langweiliges Nest“, als die Berühmtheit des Ortes zu fördern. Wenn nämlich ein übler Schelm oder anderer Spitzbube bei einem Streich wider die guten Sitten ergriffen wird, sperren die Bürger diesen kurzerhand in die aus Bronze gegossene Glocke und schlagen eifrig Alarm.
Nicht selten ist jemand, dem solcherart „heimgeläutet“, dann fortan und jeglichem Lärmen und Possenreißen abhold. Daß einst ein elbischer Lautenspieler diese Behandlung kaum mit dem Leben überstand und einen Zauberfluch über das Dorf legte, ist gewiß nicht mehr als ein böses Gerücht unter all jenen, die den Gormelern ihren Frieden neiden.
Wie dem auch sei, die Ortschaft wird jedenfalls in den Dokumenten der Reichskanzlei und auch vom zuständigen Seneschalk seit jeher als Hauptort Zwischenwassers gehandelt, zumal seit die Gormeler Junker auch als Vögte der Baronie in Amt und Würden sind…
Der derzeitige Amtsinhaber, Junker Immo von Gormel, befindet sich damit auf einem Posten, den er sich in seiner Kindheit nicht eimmal erträumt hätte. Als Viertgeborener schien er zunächst ohne jede Aussicht auf ein Erbe und begab sich als mittelloser Ritter in die Gefolgschaft seines Cousins, des Barons von Nadorets. Als jedoch seine älteste Schwester Overde bei einem tragischen Turnierunfall viel zu früh vor Borons Richterstuhl gerufen wurde, grämte sich ihr Zwilling Oleande so sehr, daß sie ihr Leben dem Herrrn des Todes weihte und fortan im Kloster Garrensand den Novizen die Gebote des Ewigen Richters lehrte.
Da der zweite Sohn, Andror von Gormel, schon vor langem verkündet hatte, sein Glück in der Fremde zu suchen und fortan ein Leben als wandernder Held führte (seit dem nachweislichen Verprassen des Familiengoldes in einer Garether Spielhölle hat allerdings niemand je wieder etwas von ihm vernommen), erbte Ritter Immo mit einem Mal die elterlichen Güter und wurde zu seiner Überraschung (und nicht ohne Unterstützung Dajins von Nadoret) auch als gräflicher Vogt eingesetzt.
Aber im Gegensatz zu seinem Vetter, mit dem er sich bald überwarf und dessen tragischen „Aufstieg“ vom gelegentlichen Intriganten zum answinhörigen Verschwörer nur noch mit Bedauern verfolgte, wuchs Ritter Immo an seinen Aufgaben, und wandelte sich mit den Jahren vom jugendlichen Heißsporn in einen klugen Verwalter.
Spätestens seit er während des jüngsten Orkensturmes bei der Verteidigung der Baronie im heldenhaften Kampf eine schwere Verwundung erlitt, die ihm wohl Zeit seines Lebens zu schaffen machen wird, ist jeglicher Übermut aus dem Wesen des Vogtes gewichen und hat einer frommen Bedächtigkeit Platz gemacht. Mehrfach schon konnten die Brüder und Schwestern vom Orden des Hl. Therbûn ihrer Göttin für die großzügigen Spenden Seiner Hochgeboren danken…
Der alte Ritter Stordan Steener von Steenback hat sein Lebensziel erreicht: seit Khele von Lutzenstrand die Brautwerbung seines Sohnes Kariel Bosper annahm, sind die zwei Rittergüter seit Generationen erstmals wieder unter einer Familie vereint. Da sich aber beide Ehegatten aufgrund ihrer Ämter (er ist Schatzmeister, sie stellvertretende Kommandeurin der Schlachtreiter) mehr in ihrem Angbarer Stadthaus als auf einem der beiden Familiensitze aufhalten, ist von einer schlichtenden Wirkung auf die verfeindeten Dörfer noch nichts zu verspüren. Kinder und Jungvolk der Dörfer bekriegen sich wie eh und je, und auch Steenbacks Dorfschulze Korsten ist seinem Widersacher Leybwarn immer noch gram ob das Auges, das dieser ihm bei Streit vor vielen Götterläufen ausschlug.
So schnell wird also die jahrzehntelange Fehde kein Ende finden, zumal sich Prea von Lutzenstrand, die als Offizierin in der Kaiserlichen Armee irgendwo im fernen Darpatien stationierte Tante Kheles, geschworen haben soll, nicht eher heimzukehren, als „bis der alte Sturdan leichenstarr im Grabe liegt.“
Bemerkenswert an diesem Weiler ist gewiß der trotz der doch vergleichsweise geringen Einwohnerschaft vorhandene Praiostempel. Die Gründe hierfür sind, wie so oft, in der Vergangenheit zu suchen, genauer gesagt im Jahr 189 v. Hal, als eine gerade rechtzeitig des Weges kommender Geweihte des Sonnengottes die frommen Lutzenstrander von dem Übel erlöste, das im Klippenwald hauste. (Genauere Schilderungen enthalten uns die Chroniken jener Zeit vor, und auch die alten Lutzenstrander erzählen nur selten und ungern aus der Tagen ihrer Ahnen.)
Heute wird der Tempel von den Angbarer Geweihten betreut, die hier einmal in der Woche einen Gottesdienst abhalten. Dennoch sind die Dorfbewohner überaus fromm geblieben, wie sich jüngst an ihrer Begeisterung für die hilberianischen Predigten ersehen ließ. Nun aber hat der Inquisitorius Silberling Sorge dafür getragen, daß die verwirrten Seelen von ihrem Irrwege abkamen. Die übelsten Ketzer, denen Prinz Voltan in seiner Gnade nicht mehr als einige Taler Strafe auftrug, wurden von ihm zur Beichte angeleitet, worauf sie reuig in sich gingen und Buße taten. Der falsche Priester aber, der störrisch blieb und die Irrlehren des Hilberianischen verkündete, hat die gerechte Marter erfahren, um seine Verfehlungen zu büßen.
Seeauen
Ruhmreich und alt ist das Geschlecht derer vom See, doch ist den letzten Nachfahren der einst mächigten Vögte wenig mehr als ihr unbändiger Stolz und die Stammburg auf Nispe geblieben. In unseren Tagen stellt die Familie nicht einmal mehr einen Freiherrn. Einzig der Junker Ermst vom See haust mit wenigen ergrauten Dienstboten im alten Gemäuer, und hat wohl selbst auch mehr als 60 Sommer gesehen. Sorgsam führt der alte Gevatter Buch darüber, wo sich die die verstreuten Angehörigen seines Hauses befinden — seine Schwester Vrinege als Haushofmeisterin am Grafenhof, die Base Vana bei den Ferdoker Lanzerinnen, Cousin Heriad unterwegs als Kapitän einer Flußbarke … Es will scheinen, als ob Praios der Herr nicht mehr wie einst über das Geschlecht vom See wache — wer aber die ruhmreiche Ahnenlinie des Hauses kennt, kann sicher sein, daß ihm früher oder später ein erneuter Aufstieg beschert sein wird.
Hier endet nun das bewaldete Kernland der Vogtei. Die Auen und saftigen Wiesen am Rande des Seeufers sind fruchtbar wie im Norden (auch wenn man hier der Viehzucht den Vorzug gibt), und laufen bei Xennarode schließlich in die sanften Hügel der Ferdoker Mark über. Ganz in der Nähe kreuzen sich schließlich mit der Nord–Süd–Landstraße und dem Weg zum Vulpurger Fähranleger die beiden Routen, auf denen Reisende von Angbar in die Grafenstadt ziehen.
Hinweis: Eine Karte derselben Baronie soll mitsamt einer ausführlichen Descriptio des größten Sees der Mittellande, namentlich dem zu Angbar, in der nächsten verfügbaren Ausgabe dieses Journals nachgereicht werden. — Die Schriftleitung