Eine alte Weissagung erfüllt sich

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Ausgabe Nummer 76 - Efferd 1046 BF

Eine alte Weissagung erfüllt sich

Garrensander Abt und fürstliche Hofgeweihte verstorben

DRIFT, Praios 1046 BF. Der Abt des Golgaritenklosters Garrensand, Calamun ya Sfardas de Ysarti, ist tot. Boron rief ihn am 28. Rahja letzten Jahres zu sich. Der Gott selbst hatte dem 90-Jährigen im Hesinde den Tag seines Todes offenbart. So nutzte der Abt seine letzte Frist, um seine Dinge in Ordnung zu bringen. Wie es kam, dass dabei auch die Praiosdiener Ilbofred und Ulabeth vom Pfade die Reise übers Nirgendmeer antraten, berichtet Euch im Folgenden der KOSCH-KURIER.

Calamun ya Sfardas hatte die Nachricht seines bevorstehenden Todes weit und breit verkünden lassen und alle zu sich gerufen, die noch eine Rechnung mit ihm offen oder eine Schuld zu begleichen hatten. Die Besucher kamen zahlreich nach Garrensand, hoher Adel und einfaches Volk. Manche erregten Aufsehen, etwa die Kalesche einer verschleierten Dame mit ihrem norbardischen Kutscher und großen Bornländer Hunden, von der man munkelte, es sei die Witwe des letzten Barons von Twergentrutz. Oder der kraftstrotzende Recke mit Flügelhelm, der sich allenthalben als Parzalon von Streitzig vorstellte und ausgiebig von seinen Heldentaten berichtete, aber kein Wort darüber verlieren wollte, was ihn nach Garrensand führte. Noch geheimnisvoller war die Ankunft Dregos von Angenbruch, einst der persönliche Adjutant des Reichsgroßgeheimrats Dexter Nemrod. Herr von Angenbruch verbrachte drei Tage in der Kammer des Abts und ließ in der Zeit über zwei Dutzend Briefe durch Kurierreiter in alle Richtungen versenden.

Wer nun dachte, all die Geschäftigkeit müsse an den Kräften eines Greises zehren, sah sich getäuscht. Calamun ya Sfardas schien bei bester körperlicher Gesundheit – doch als die Monde vergingen, kam eine Unruhe über seinen Geist. Offenbar wartete er auf etwas, und endlich hörte man ihn immer wieder fragen: „Ist denn Bruder Ilbofred endlich gekommen?“

Doch stets mussten die Pförtner des Klosters verneinen. Ilbofred tat seinen Dienst als Priester im Tempel des Götterfürsten zu Angbar und schien nicht daran zu denken, den Weg ins Driftsche anzutreten. Endlich ließ ihm der Abt eine persönliche Botschaft zukommen – und damit der Adressat sie nicht ignorieren konnte, ließ er sie zugleich an die Neuwe Mur anschlagen, wo jeder sie lesen konnte: „Bruder Ilbofred, die Zeit der Buße ist gekommen! Gedenke der Vision des Kalchas, komm nach Garrensand und tu, was zu tun ist!“

Das gab nun freilich viel Gerede in der fürstlichen Capitale. Wofür hatte der allseits bekannte Praiospriester, auch schon weit über 70 Jahre alt, Buße zu tun? Wie war der Abt von Garrensand darin verwickelt, und vor allem: Was hatte der heilige Kalchas der Seher, Märtyrer und Vorgänger Calamuns im Amt, prophezeit?

Letzteres konnte der KOSCH-KURIER ermitteln – nicht im eigenen Archiv, denn Sankt Kalchas starb schon vor der Gründung unseres Blattes; auch nicht im Angbarer Borontempel, wo man sich in gottgefälliges Schweigen hüllte. Doch gelang es uns, einige Angroschim ausfindig zu machen, die zu jener Zeit in Drift zu tun hatten und sich bestens an die Angelegenheit erinnerten.

Es war das Jahr 1010 BF. Das Kloster Garrensand war eben aus den Fängen des verräterischen Abts Vurian, der sich dem Namenlosen verschrieben hatte, befreit worden und Kalchas der Seher als neuer Abt bestimmt. Um das Kloster von allem unheiligen Werk des Apostaten zu befreien, waren auch zwei Diener des Praios vor Ort, der Drifter Tarjok Boquoi und Ilbofred, damals noch vom Tempel zu Koschtal. Eines Tages ließ Kalchas Bruder Ilbofred zu sich rufen. Er erzählte ihm von einer Vision, die der Herr Boron ihm gesandt hatte: Ilbofred werde „den Mantel des Herrn Praios ablegen und dem Raben folgen“.

Der Praiosdiener wies dies streng von sich – wie sollte es angehen, dass ein Geweihter seinen Gott verlässt und sich einen andern erwählt? Doch hatten die Visionen des Kalchas noch nie gefehlt, und er wurde nicht müde, sie zu wiederholen. Unterstützung fand er beim Circator (dem Sittenwächter) des Klosters, keinem anderen als Calamun ya Sfardas. Nach einigen Monden hatte Ilbofred endlich genug und ließ sich nach Fürstenhort versetzen.

Der öffentliche Anschlag des Aufrufs in Angbar tat seine Wirkung: Am 26. Rahja 1045 BF durften die Pförtner des Klosters melden, dass Bruder Ilbofred in Garrensand angekommen sei. Nach der Vesper begab er sich zu Calamun ya Sfardas zur vertraulichen Unterredung. Bei Sonnenuntergang sahen ihn die Golgariten die Kammern des Abtes verlassen, mit grässlich verzerrtem Gesicht, das von Verzweiflung sprach. Ilbofred betrat den Bibliothekstrakt und bestieg von dort aus den Turm des Klosters. Im Glockenstuhl entledigte er sich seines Talars und sprang in die Tiefe, umkreist von den Raben, die auf dem Dach des Turmes hausen.

Zwei Tage später stand erneut eine Dienerin des Praios vor den Pforten Garrensands. Es war Ulabeth vom Pfade, die fürstliche Hofgeweihte. Auch sie wurde bereits erwartet, denn auch sie hatte Calamun ya Sfardas rufen lassen (doch mit vertraulicher Botschaft). Ihr legte er seine letzte Beichte ab, vertraute er das letzte Gewicht an, das noch auf seiner Seele lastete. Als er geschlossen hatte, hauchte er unter ihren Augen das Leben aus, wie es ihm offenbart worden war.

Gerne würden wir den Bericht an dieser Stelle beenden, doch Borons Ratschluss sah noch einen weiteren Tod vor. Ulabeth vom Pfade machte sich schon am nächsten Tag auf die Heimreise. Im Praiostempel zu Nadoret gedachte sie die Namenlosen Tage zu verbringen, doch ein unerwartetes Unwetter und ein Radbruch ihrer Kutsche ließen sie nur bis Grantelweiher kommen. Dort fand sie freundliche Aufnahme im Junkergut. Doch am zweiten Namenlosen Tag kamen die ersten Mitglieder des Haushalts mit einem seltsamen Fieber nieder, das am dritten Tag auch die fürstliche Hofgeweihte ergriff. Die örtliche Perainepriesterin kümmerte sich um die Kranken, doch vergeblich. Unter dem unheilvollen Einfluss der unheiligen Tage schwanden sie dahin. Im Angesicht des Todes stellte sich Ulabeth vom Pfade die Gewissensfrage, ob sie Calamun ya Sfardas’ Geheimnis mit ins Grab nehmen oder ans Licht des Herrn Praios bringen solle. Endlich entschied sie sich für Letzteres und diktierte einen Brief, den sie niemand anderem als unserer Redaktion übersenden ließ. Unser allerhöchster Dank gebührt diesem Beweis des Vertrauens, dem wir umso mehr entsprechen wollen, als Ihre Gnaden Ulabeth vom Pfade am 1. Praios 1046 zu Grantelweiher im 81. Lebensjahr die derische Last ablegte und vor ihren Herrn trat.

Dies also hatte Calamun ya Sfardas der Hofgeweihten berichtet: Beim Aufräumen im Kloster nach dem Sturz Vurians fand er unter dessen Papieren den Abschiedsbrief einer Novizin, die sich zwei Jahre zuvor vom Rabenfelsen gegenüber von Garrensand in die Fluten des Großen Flusses gestürzt hatte. Darin beteuerte sie, kein Wort der Lüge gesprochen zu haben, als sie Bruder Ilbofred vom verdächtigen Treiben ihres Abts erzählte, von dem ketzerischen Gebet, das sie überhört hatte, und der goldenen Maske im Geheimfach. Doch der Praiospriester habe ihr nicht geglaubt und ihre Beichte gar an den Abt verraten. Ihr bleibe kein Weg als der zu ihrem Herrn, bevor sie Vurian in die Hände falle.

Als Calamun Ilbofred mit dem Brief konfrontierte. gab jener zerknirscht zu, einem schweren Irrtum erlegen zu sein. Hätte er damals der Novizin geglaubt, hätte man dem namenlosen Verräter viel früher das Handwerk legen können. Doch verteidigte er sich, er habe in bestem Glauben gehandelt, als er einem Hochgeweihten mehr vertraute als einem Kind, dessen Eltern als Flusspiraten in der Heisenbinge schufteten. Calamun gemahnte Ilbofred an die Vision des Kalchas – offensichtlich fordere Boron Buße von ihm. Der Praiote wies dies von sich. Schließlich habe sein eigener Herr ihm damals keinen Fingerzeig gegeben, um die Wahrheit ans Licht zu bringen. Er bat Calamun, die Sache in borongefälliges Schweigen zu hüllen. Wahrheit sei ein hohes Gut, doch nicht jeder brauche sie zu kennen. Der Boroni ließ sich endlich überreden, doch er beharrte darauf, dass sich Ilbofred eines Tages seiner Schuld stellen und die Weissagung erfüllen müsse.

Als ihm seine letzte Stunde offenbart wurde, wusste Abt Calamun, dass er dieses Geheimnis nicht mit zu Boron nehmen durfte. Er beschloss, es einer alten Freundin, eben Ulabeth vom Pfade, anzuvertrauen, wenn Ilbofred nicht zuvor selbst den Schleier des Schweigens lüftete. Dies legte er dem Praioten in klaren Worten dar und war von all dessen Beschwörungen nicht davon abzubringen. Statt seinen Fehler einzugestehen und seinen Stolz abzulegen, wählte Ilbofred am Ende den Tod als Buße.

„Die Wahrheit kommt irgendwann immer ans Licht“, schreibt Ihre Gnaden Ulabeth. „Klug ist, wer sich ihr in den Dienst statt in den Weg stellt.“ Dem haben wir nichts hinzuzufügen.

Rahjatreu von Cellastein