Das Ende einer Ära - Kosch-Kurier 83

Das Ende einer Ära
Auf Stippwitz folgt Markwardt – Vieska Markwardt!
ANGBAR, Ingerimm 1047 BF. Für Angbar kam es einem Erdbeben gleich, in Ferdok und Steinbrücken sprach man tagelang von nichts anderem, dem guten Fürsten entfuhr bei der Neuigkeit ein erstauntes „Ach!“, und selbst im fernen Gareth dürfte die Kaiserin noch eine Braue gehoben haben, als die Nachricht bei ihr eintraf: Nach über einem halben Jahrhundert trägt der Reichsvogt zu Angbar nicht mehr den Namen Stippwitz – sondern Markwardt!
Eine besondere Wahl
Schon im Vorfeld war klar: Diese Wahl war etwas Besonderes, allein schon deswegen, weil es nach dreißig Jahren ohne Wenn und Aber einen neuen Reichsvogt geben würde, denn der bisherige Amtsinhaber Bosper zu Stippwitz stand nicht mehr zur Wahl – dafür aber viele andere bekannte Persönlichkeiten. Manche von ihnen hatten schon mehrfach versucht, die Ära Stippwitz zu beenden; andere warfen nun erstmals ihren Hut in den Ring.
Für Unruhe sorgte besonders die konkurrierende Kandidatur von Vieska und Odoardo Markwardt, welche nicht nur die Familie, sondern auch die Partei der „Rechtschaffenen“ im Rat zu spalten drohte. Hinzu kam der plötzliche Tod von Morand Siebenbeutel, des Vorstands der Hutmacherzunft, nur wenige Tage vor der Wahl. Auch die als „Quertreiberin“ bekannte Gidiane Caramos sorgte mit einem unerhörten Antrag für Aufsehen: Sie forderte eine geheime Stimmabgabe, damit niemand im Rat befürchten müsse, einen der Bewerber mit seinem Votum zu kränken oder sich gar zum Feind zu machen. Dieser „allzu phexische“ Vorschlag wurde jedoch mit großer Mehrheit abgewiesen. „Ein Ratsmitglied sagt frei und offen, wen es wählt. So war es, ist es und wird es auch bleiben“, erklärte Odoardo Markwardt grimmig. Vielleicht wäre alles anders gekommen, hätte man dem Antrag zugestimmt …
Angbar im Wahlfieber
Die Frage, wer im Praiosmond in die Neue Vogtei einziehen sollte, sorgte auch außerhalb des Wappensaals für hitzige Diskussionen – und artete manchmal sogar in einen handfesten Streit aus. Fast täglich fand man an der Neuwen Mur und anderen Orten großformatige Anschläge, in denen Werbung für den einen oder anderen Kandidaten gemacht wurde.
Vor allem in Bezug auf Garbo zu Stippwitz war die Meinung in der Bürgerschaft gespalten – sein Name schien gleichermaßen Vorteil und Last für den Kaufmann zu sein: Während die einen ihn gerade darum gerne im Amt gesehen hätten, weil er ein Stippwitz war („Man hat sich schon so an den Namen gewöhnt“), war eben dies in den Augen anderer ein Grund, ihn nicht zu wählen: „Irgendwann muss auch mal Schluss sein“, wurde gewettert, „man hat ja fast den Eindruck, dieses Amt sei erblich und die Angbarer Bürger hätten gar keine Wahl mehr.“ Im Grunde haben sie das auch nicht, denn wählen dürfen nur die etwa siebzig Ratsmitglieder – doch der Großteil des Rates besteht nun einmal aus den Vertretern der Handwerke, und diese pflegen natürlich im Sinne ihrer Zunftgenossen abzustimmen. So war die Sache also offen bis zuletzt, und man fieberte dem alles entscheidenden Tag im Feuermond entgegen.
Der große Tag
Dieser kam mit Regen, Blitz und Donner. Die Ratsmitglieder fanden sich nach dem Praiosdienst mit triefenden Mänteln und Hüten im Haus der Zünfte ein – und nahmen erst einmal eine wärmende Brühe zu sich. Manch einer nutzte die Gelegenheit, um seine Meinung nochmals kundzutun und sich ein letztes Mal für seinen Favoriten starkzumachen. An dieser Stelle sei erwähnt, dass es der Schriftleitung des KOSCH-KURIER dank der Fürsprache des Hauses von Stedtler erlaubt war, dem ganzen Ereignis beizuwohnen, so dass wir unseren geneigten Lesern alles aus erster Hand berichten können.
Nachdem sich alle gestärkt hatten, zog man vom Ratskeller hinauf in den Wappensaal, und seine Exzellenz Bosper zu Stippwitz eröffnete die Sitzung mit den traditionellen drei Hammerschlägen. In diesem Moment brach die Sonne durch die Wolken, und ein milder Lichtstrahl fiel durch die Butzenscheiben herein, so dass es hell und freundlich wurde im großen Saal. „Wenigstens etwas“, murmelte der Reichsvogt – leise, aber durchaus hörbar. Ihm war die Spannung deutlich anzusehen, doch wirkte er nicht mehr so angeschlagen wie noch vor einigen Monden.
Schließlich erhob er sich von seinem Amtsstuhl und sprach nach einem kurzen Blick in die Runde: „Ehrenwerte Mitglieder des Rates! Wir sind heute hier versammelt, um nach altem Recht und Brauch das Oberhaupt der stolzen Reichsstadt Angbar zu wählen. Viele Götterläufe lag das Geschick der Ehernen in meinen Händen; nun aber ist es an der Zeit, den Platz zu räumen. Sieben Bewerber stehen zur Wahl, sieben würdige und ehrbare Bürger unserer Stadt und Mitglieder unseres Rates. Möge die Herrin Hesinde uns erleuchten, auf dass es eine weise Entscheidung werde, und möge die Frau Travia darüber wachen, dass alles in Eintracht und Harmonie geschieht.“ – „So sei es“, murmelten die Versammelten zustimmend.
Die erste Überraschung
Damit begann die Wahl. Nacheinander traten die Mitglieder des Rates vor, um ihr Votum abzugeben und ihr Täfelchen aus Birkenholz dem Schreiber Born von Stedtler auszuhändigen. Dieser nahm mit einem Nicken jedes Stück entgegen – und machte einen sauberen Strich auf seiner Schiefertafel. Die Erste war Rorgrama Tochter der Ralascha, die Zunftmeisterin der Gold- und Kunstschmiede. „Ich stimme für Nirdamon, den Sohn des Negromon, denn er hat seine Arbeit als Oberst-Wachtmeister von Angbar immer gut gemacht und für die Sicherheit unserer Bürger gesorgt. Oft genug habe ich ihn persönlich bei der Patrouille durch die Stadt und im Gespräch mit besorgten Bürgern gesehen. Und genau das braucht Angbar, um auch in Zukunft gedeihen zu können: jemanden, der die Leute und ihre Sorgen kennt und wie kein anderer für die Sicherheit steht. Wir brauchen keine eitlen Pfeffersäcke, die sich nur die eigenen Taschen vollstopfen, und auch keine unbekannten Windbeutel …“ An dieser Stelle gab es, wie kaum anders zu erwarten, empörte Zwischenrufe, und Bosper zu Stippwitz bat die Meisterin, ihre Wortwahl zu bedenken. Die so Ermahnte zuckte nur kurz mit den Achseln und fuhr dann fort: „Das alles brauchen wir nicht. Wir brauchen Nirdamon.“
Da erhob sich ein vielstimmiges Murmeln und Raunen im Saal. Seit fünfzig Jahren war es nicht mehr vorgekommen, dass die erste Stimme nicht für einen Stippwitz oder Markwardt abgegeben wurde! Hinzu kam die Tatsache, dass Meisterin Rorgrama bislang mit den „Fortschrittlichen“ um Bosper zu Stippwitz gestimmt hatte.
Diese erste Überraschung war ein Vorgeschmack auf das, was folgen sollte: Ein wahrhaft nervenaufreibendes Rennen, bei dem bald dieser, bald jener Bewerber um eine Nasenlänge vorn lag. Denn auch die übrigen Kandidaten fanden ihre Fürsprecher: „Erfahrung ist gut und wichtig, aber manchmal braucht es junge Besen, sonst kommt alles zum Stillstand“, erklärte der Panzerschrankbauer Bodrox Doppelbart – und gab seine Stimme Vieska Markwardt. Fendrik Eysenstragler, der Zunftmeister der Armbrustbauer, erklärte hingegen: „Ich wähle Gobrom Barschglatt. Ein wackerer Handwerker, rechtschaffen und im Geiste Ingerimms, kann nur eine gute Wahl sein. Was gibt es da mehr zu sagen?“
Die Wende
So ging es eine ganze Weile – bis der ehrenwerte Anghalm Eisenstrunk vortrat. Niemand erwartete etwas anderes, als dass er seinem langjährigen Weggefährten Odoardo Markwardt seine Stimme geben würde. „Alter Freund“, hob er zu sprechen an, „es wird wohl niemand an meiner Treue zweifeln, und eben deshalb bin ich wohl der am besten Geeignete, um es zu sagen: Wir haben uns all die Jahre wacker geschlagen gegen die Stippwitzens, aber wir sind auch alt dabei geworden. Ich möchte nicht sehen, wie deine Zeit als Reichsvogt so endet wie die vom alten Eberwulf, der immer verwirrter wurde. Deswegen glaube ich, dass der rechte Zeitpunkt gekommen ist, die jüngere Generation heranzulassen – aber nicht, weil sie aufbegehrt, sondern weil wir uns bewusst dazu entschließen. Deine Tochter ist eine Überraschungskandidatin, aber das war deine Ahnherrin Anglinde vor fast zweihundert Götterläufen auch. Vieska steht damit in guter Familientradition, und die Tradition wollen wir ehren. In diesem Sinne: Ich möchte endlich wieder einen Reichsvogt aus dem Hause Markwardt, und ich bin zuversichtlich, dass Vieska ihre Sache gut machen wird. Dass du, lieber Odoardo, Vater der Reichsvögtin sein wirst statt Reichsvogt selbst, braucht dich nicht zu grämen: Du hast mit vielen guten Taten – von dem Erwerb der Alten Vogtei bis hin zur Bastettem nach Markwardts Art – gezeigt, wie man die guten Sitten gegen alle Neuerungen aus dem Außerkosch aufrecht erhält! Du warst als Gegner der Stippwitzens besser als so mancher Reichsvogt! Zuletzt möchte ich an den Grafen Bosper vom Eberstamm erinnern: Auch wenn es erst sein Sohn Bernfred sein sollte, der schließlich wieder die Fürstenwürde erlangte, so war es doch die kluge Arbeit Bospers, die dem Haus Eberstamm zu neuer Blüte verhalf. Wer würde in Angbar den Grafen Bosper vom Eberstamm vergessen? Wie Bosper sollst du sein, Odoardo, und deine Tochter soll die Früchte deiner harten Arbeit ernten!“
Nach dieser Rede herrschte tiefes Schweigen im Saal, so erstaunt waren alle Versammelten ob dieser Worte, mochten sie nun Freunde oder Gegner des alten Markwardt sein. Alle blickten zu dem wackeren Greis hinüber; der aber saß mit versteinerter Miene da, und nur die Götter mochten wissen, was in ihm vorging.
Wahre Größe
Die Wahl jedoch ging weiter, und nun zeigte sich, dass der mutige Schritt des Mauergreven einen Weg geebnet hatte: Diejenigen, die sonst den alten Markwardt unterstützt hatten, wagten es nun, nicht ihm, sondern seiner Tochter ihre Stimme zu geben. Zwar fanden auch Garbo zu Stippwitz und Väterchen Nirdamon noch etliche Unterstützer, auch Gidiane Caramos sammelte eine beachtliche Zahl von Stimmen, doch gegen Ende wurde der Vorsprung Vieska Markwardts immer deutlicher.
Schließlich fehlte noch ein allerletztes Votum. Der Schreiber Born von Stedtler räusperte sich: „Herr Odoardo Markwardt, ich bitte Euch, nun Eure Stimme abzugeben.“ Der Angesprochene sah auf, als habe man ihn aus einem tiefen Traum geweckt. Langsam, fast mühsam erhob er sich und schritt an den Tisch des Schreibers. „Ich kann Euch mein Täfelchen nicht geben, Herr von Stedtler“, erklärte er, „denn es steht noch der falsche Name darauf. Meine Stimme aber“ – er machte eine kurze Pause, und alle hielten den Atem an – „geht an Vieska Markwardt. Möge es denn so sein.“
An dieser Stelle erhoben sich die meisten Mitglieder des Rates und applaudierten anerkennend. Ihr Beifall galt jedoch nicht der Tochter, sondern dem Vater, der sich selbst überwunden und die Hand zur Versöhnung gereicht hatte. „Das ist wahre Größe“, sagte jemand anerkenend.
Das Ergebnis
Der Herr von Stedtler zog den letzten Strich und rechnete zusammen. Dann reichte er die Tafel seiner Exzellenz. Der Reichsvogt warf einen Blick darauf und schluckte. Dann verkündete er das Ergebnis: „Der Rat der Zünfte zu Angbar hat gewählt. Jeweils vierzehn Stimmen gehen an die Herren Garbo zu Stippwitz und Nirdamon aus Aswadurs Sippe.“ Ein kurzes Raunen entstand, und viele Stirnen legten sich in Falten. „Das kann doch nicht sein!“, erklang es von irgendwoher. Doch dann fuhr der Reichsvogt fort: „Gewonnen aber hat, mit sieben Stimmen Vorsprung … Frau Vieska Markwardt.“ Da war die Freude groß und auch die Enttäuschung, je nach Lager und Gesinnung. Manche ließen die Köpfe hängen, die meisten aber drängten sich sogleich an die künftige Reichsvögtin heran und schüttelten ihr die Hand.
Als der Tumult sich gelegt hatte, schickte Bosper zu Stippwitz einen Boten zum Praiostempel, auf dass der große Gong geschlagen werde, um den Angbarern anzuzeigen: Der Rat der Zünfte hat entschieden. Bald darauf traten der noch amtierende Reichsvogt, Vieska Markwardt und die übrigen Kandidaten auf den Balkon, und den Bürgern der freien Reichsstadt Angbar wurde das Ergebnis verkündet. Groß war die Erleichterung – vor allem als man sah, dass Odoardo Markwardt neben seiner Tochter stand und – lächelte. Denn Streit und Zwist in den führenden Häusern können nur Unheil bringen, da waren sich alle einig.
Noch am selbigen Tage wurde ein Bote nach Gareth entsandt, denn die Wahl muss durch die Kaiserin bestätigt werden. Dass dies geschehen wird, bezweifelt niemand, auch wenn die Antwort aus Gareth bis zur Drucklegung des KOSCH-KURIER noch nicht in der Ehernen eingetroffen ist.

Das Ergebnis der Wahl | |
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Vieska Markwardt: | 21 Stimmen |
Garbo zu Stippwitz: | 14 Stimmen |
Nirdamon Sohn des Negromon: | 14 Stimmen |
Gidiane Caramos: | 11 Stimmen |
Kubax Sohn des Doro: | 4 Stimmen |
Gobrom Barschglatt: | 4 Stimmen |
Odoardo Markwardt: | 4 Stimmen |
Die Wahl hat nicht nur dazu geführt, dass zum ersten Mal seit Jahrzehnten kein Mitglied der Familie Stippwitz das Amt des Reichsvogts innehat; sondern sie hat auch die Verhältnisse im Rat der Zünfte mächtig durcheinandergewirbelt.
Schon jetzt ist klar: Die beiden ewigen Kontrahenten Bosper zu Stippwitz und Odoardo Markwardt werden (auch wenn sie nicht ganz von der politischen Bühne verschwinden) in Zukunft keine zentrale Rolle mehr spielen; stattdessen wird die Partei der Rechtschaffenen sich um Vieska Markwardt scharen, während Garbo zu Stippwitz die Galionsfigur der Fortschrittlichen sein wird.
Daneben sind aber zwei weitere Gruppen entstanden – oder sind gerade dabei, sich zu formieren. Da sind zum einen die Unterstützer Nirdamons, bei denen es sich natürlich größtenteils um Zwerge handelt, aber nicht ausschließlich. Sie werden bald unter dem Namen „Die Brüderlichen“ in Erscheinung treten, in Anlehnung an Nirdamons Wahlspruch „Stadt und Land in Brüderhand“. Langfristig haben sie das Ziel, doch noch den Sohn des Negromon in die Neue Vogtei zu bringen – und dazu haben sie Zeit; wenn es nicht in fünf Jahren gelingt, dann vielleicht in zehn. Was das Tagesgeschäft angeht, so werden sie bald mit den Rechtschaffenen, bald mit den Fortschrittlichen stimmen – oder ganz eigene Vorschläge einreichen.
Überraschend ist das Ergebnis von Gidiane Caramos, die lange als Außenseiterin galt. Vor allem mit der (heimlichen) Unterstützung der Phexkirche ist es ihr gelungen, einige Ratsmitglieder auf ihre Seite zu ziehen – insbesondere diejenigen, die auf echte Veränderungen hoffen.
Die Zukunft wird zeigen, ob die neue Verteilung im Rat Bestand hat, ob sie frischen Wind in die Politik der Reichsstadt bringt oder ob sich die vielen Gruppen gegenseitig blockieren.