Entführung des Prinzenpaares - Durch die Geistmark
Der Sturm ließ in der Tat ein wenig nach, doch noch immer fielen dicke Schneeflocken und wurden von gelegentlichen Böen eisigen Windes in die Gesichter der Gruppe geweht. Recht schweigsam zog man, so schnell es der mittlerweile gut zwei Spann tiefe Schnee zuließ, weiter Richtung Norden.
Tief in Gedanken versunken ritt Ardo von Keilholtz am Schluss der Gruppe durch den winterlichen Kosch. Ohne Frage war es ein glücklicher Umstand gewesen, dass man die betrügerische Kutschfrau hatte dingfest machen können. Das hatte zumindest etwas Licht in die Angelegenheit gebracht und einige Ungereimtheiten beim Verschwinden des Erbprinzenpaares ausgeräumt. Das über die festgelegte Frist andauernde Veschwinden war dennoch ein nicht unbedeutender Grund zur Sorge. Auch wenn die Geschichte als Narrenstreich begonnen haben mochte, so konnten das Wetter und andere Unwägbarkeiten noch immer ein schlimmes Ende herbeiführen. Nicht auszudenken wenn Strauchdiebe die Situation ähnlich für sich zu nutzen versuchten wie die Kutscherin. Oder wenn sie Orks in die Hände gefallen waren. Sein Blick wanderte zur Gruppe der Boroni. Diese waren doch auch auf ihrem Weg zu Prinz Edelbrecht überfallen worden. In diesen Gegenden war man in kleiner Zahl einfach nicht sicher.
Schon am späten Nachmittag erreichte man Bauersglück, das einladend, wie ein Bildnis von einem Winterdorf am Sankt Kupersbach lag. Eine besonders eisige Böe riss Ardo aus seinen Grübeleien heraus. Unwirsch wischte er sich den Schnee aus dem Gesicht und sah sich kurz um. Von ihm unbemerkt hatte man sich einem Weiler genähert dessen niedrige Dächer durch den dichten Schneefall nur schemenhaft zu erkennen waren.
Mit einem Mal fühlte er sich an das väterliche Rittergut erinnert. Fast genauso hatte es ausgesehen, als Ardo vor fast acht Götterläufen mit seinem Vater Wulfhart nach einem Besuch bei Urgroßonkel Lucardus in Greifenfurt zum heimatlichen Gut zurückgekehrt war. Diesen Tag würde er niemals vergessen. Die Geburt seiner kleinen Schwester Lisande eine Woche zuvor hatte seine Mutter Hildelind damals sehr angestrengt und als das Fieber nicht nachlassen wollte, war er trotz des schlechten Wetters mit seinem Vater nach Greifenfurt geritten, um beim Orden der Therbûniten nach einem Heilmittel zu fragen. Doch verzögerten stürmische Schneefälle die Heimkehr, und so mussten sie bei Urgroßonkel Lucardus übernachten, der sie gerne und traviagefällig aufnahm. Als sie spät am nächsten Tag endlich auf dem Rittergut ankamen, war es für jede Hilfe zu spät. Noch in derselben Nacht hatte Boron die Seele seiner Mutter zu sich geholt.
Widerwillig schüttelte Ardo den Kopf, zum Teil um sich von dem Schnee zu befreien der sich inzwischen auf seinem Mantel gesammelt hatte, aber auch um die trüben Gedanken beiseite zu schieben. Ohne Frage ließ einen dieses Wetter mehr als trübsinnig werden, doch davon durfte er sich jetzt nicht ablenken lassen. Die Gruppe war endlich im Weiler angekommen und hielt zielstrebig auf das größte Gebäude im Ort zu.
Im Gutshof des Barons Kordan schlug man nun das Quartier auf. Nachdem die Pferde diesmal einen Platz im wettergeschützten Stall gefunden hatten und versorgt, die Zimmer bezogen waren, versammelte man sich für ein gemeinsames Abendessen (mit dem erwärmten Wildbret) in der "guten Stube" des Gutshofes.
Ohne zögern ließ sich Ardo das gute und wärmende Abendessen schmecken. In seiner Zeit in Kressenburg hatte er zwar auch ähnliche Winter gut überstanden, aber heute fühlte er sich doch ziemlich durchgefroren. Bei diesem Wetter sollte man wirklich nicht so viel draußen unterwegs sein, sondern sich am heimatlichen Herd die Füße wärmen. Aber dazu würde er auch noch kommen, wenn diese Queste nur endlich ihren glücklichen Abschluss gefunden hatte. Denn auf ein glückliches Ende ihres Rittes hoffte Ardo, als er nach dem Essen das Amulett seiner Mutter hervorholte und es in Gedanken versunken betrachtete.
Nach dem guten Essen an diesem Abend - so ließ er sich das Questen gefallen, dachte sich der Junker von Pechackern - ließ er sich auf einem der recht bequemen Stühle nieder und nahm das Schwert, welches er an der Wand deponiert hatte, aus seiner Schwertscheide und sah sich die Klinge gründlich an. Der prächtige Tellerknauf mit dem roten Wappentier Hundsgrabs - dem Hund - und der Greif am Kreuzungspunkt Parier und Klinge machten die Waffe des Junkers zu etwas besonderem. Daher nahm er sich nun die Zeit und begann mit den Pflegemitteln die Klinge zu säuberb und zu ölen, sodass sie für den möglichen, baldigen Einsatz bereit ist und auch von der Feutigkeit der letzten Tage befreit wurde.
Auch Urion hatte sich im Speisesaal des Gutshofes eingefunden. Mit leiser Stimme wandte er sich an den Prinzen:
"Verzeiht, mein Prinz. Nach den Strapazen der letzten Nächte und dem anstrengenden Ritt möchte ich mich möglichst schnell zurückziehen. Ich hoffe, Ihr gestattet, dass ich nur ein schnelles Mahl zu mir nehme und dann im Heu über dem Pferdestall mein Lager beziehe? Ich möchte bei den Pferden nächtigen, damit ich sie im Blick habe. Auch für sie war es ein anstrengender Ritt und sie haben sich die Sonderration Hafer wahrlich verdient. Über alles was heute Abend beredet wird, kann mich der Hundsgraber sicherlich morgen früh in Kenntnis setzen."
Nachdem die Pferde versorgt und das Gepäck verstaut waren, hatte sich Antara auch in die Stube gegeben und dem herzhaften Essen ungewöhnlich reichlich zugesprochen. Die Kälte und die langen Ritte machten hunrig. Sogar ein großes Bier hatte sie sich gegönnt.
Die Anstrengung, die Wärme und der Alkohol ließen sie schläfrig in der Ecke sitzen. Müde betrachtete sie die ungewöhnliche Runde. Der Fürstensohn und Gemahl der Markgräfin saß zusammen mit seinen Adligen in einer einfachen Gaststube wie eine Gruppe Mercenarios auf Reisen. Welch ein Unterschied was dies doch im direkten Vergleich zum letzten kaiserlichen Empfang in der prächtigen Eslamidenresidenz, an dem sie teilgenommen hatte. Auch nur in die Nähe das Mondenkaisers zu kommen war undenkbar, und hier trank sie ein Bier mit dem vielleicht neuen Fürsten, falls ihre Mission scheitern sollte.
Timokles hatte zusammen mit Antara die Pferde der Golgariten versorgt und war daraufhin auf Anweisung seiner Mentorin in die warme Stube gegangen, um ein Auge auf die Sicherheit des Prinzen zu haben. Ein Vorwand, damit der Knabe nicht in der Kälte umkomme und sie selbst in der Stille ungestört blieb. Die Kälte machte ihr nicht viel aus, schließlich gab es im Finsterkamm im Kloster Rabenhorst wesentlich kältere Nächte, in denen man auch ausrücken musste. Außerdem war sie unter dem Vordach des Gutshofes leidlich vor dem beißenden Wind geschützt, der an ihrem weißen Mantel zerrte.
Ihre Augen blickten in die Dunkelheit, als sie ihren Gedanken nachhing. Sie betete zum Herrn des Todes und des Schlafes, auf dass aus der Entführung, die als ein Mummenschanz begonnen hat, nicht doch noch blutiger Ernst werde, der den festen Eber-Stamm des Kosch beträchtlich ins Wanken brächte. So saß sie eine gewisse Zeit, bis ihr Magen zu rebellieren und ihre Augen ob der Kälte zu brennen begannen. Also beschloss sie doch in den warmen Gutshof zu gehen, damit sie auch am morgigen Tag frisch gestärkt sei.
Doch als sie soeben ihre Augen auswischte, sah sie, wie sich etwas in der Dunkelheit bewegte. Nicht mehr als einen Wimpernschlag nahm sie die Bewegung wahr, und auch hörte sie ein Rascheln. Mochten ihr ihre geschundenen Augen einen Streich gespielt haben oder war dort wirklich etwas. Sie fasste das Heft ihres Säbels fester und stierte in die Nacht. Dann ging sie einige Schritte vorwärts. Immer auf ihre Deckung gefasst. Mochte wirklich ein Unhold sich hier aufhalten oder war es doch nur ein Tier oder Schnee, der sich von einem überbeladenen Ast gelöst hatte?
Mit unsicheren, seltsam steifen Schritten schälte sich eine pelzige Gestalt aus der Dunkelheit. Lyeria dachte zunächst an einen Bären, doch die größe glich eher der eines Menschen. Tatsächlich erkannte sie im Schein der Gutshoffenster, dass es sich um einen Mann handelte, schwer auf einen langen Stab gestützt, mit einem Rucksack auf dem Rücken und in dicke Fellkleidung gehüllt. Im Pelz hingen große Stücke Eis und Schnee, das Gesicht des Mannes war tiefrot ... erschöpft brach er vor den Füßen der Golgaritin zusammen.
Der Knappe Timokles hatte sich währenddessen an den Ofen gestellt, um seine gefrorenen Finger zu wärmen. Doch er hatte stets ein Auge auf den Prinzen, wie ihm aufgetragen wurde. Der Auftrag war jedoch schnell vergessen, als das Wildbret aufgetragen wurde, welches er mit Genuss verspeiste.
Lyeria hatte ihre Klinge schon halb gezogen, doch sobald sie wahrnahm, wie der Mann stürzte, ließ sie ihre Waffe in den Schnee fallen und fasste dem Mann unter die Arme. Sein Gewicht war durch die feuchte, gefrorene Kleidung um ein Vielfaches höher, als sie vermutet hatte, und so brach sie halb in die Knie, um seinen ausgezehrten Leib vor dem Sturz zu bewahren. Er fühlte sich kalt an, seine Kleidung hart und eisig und auch seine Haut, kalt wie die eines Toten. Lange wird er es nicht mehr aushalten.
"Boron, lass die Seele dieses Mannes nicht über das Nirgendmeer entweichen, er hat so lange den Prüfungen Firuns getrotzt, dass er nun auch die letzten Schritte in die Rettung überleben muss."
Sie zog ihren Mantel von den Schultern und versuchte den Mann mit aller Kraft, mehr als man in dem Körper der dünnen Frau vermutet hätte, um den Hof zu bringen, mehr ziehend, denn tragend. Schließlich gelangte sie bis zur Tür und stieß diese mit einem Stiefeltritt auf und betrat den Gutshof.