Entführung des Prinzenpaares - Boronsdienst

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Wengenholm, 1031

Lyeria nickte ernst.
"Ja, Ihr solltet nachher die Botschaft verkünden, die Euch in dieser Nacht zuteil wurde, Schwester Antara. Aber zunächst gilt es den Dienst am Herrn zu vollziehen."
Die so Angesprochene nickte.
"Es wird eher eine kurze Andacht. Es werden viele anwesend sein, die dem Herrn Boron nur am offenen Grab gedenken und nicht vertraut sind mit den Riten. An Euch, Brüder und Schwestern, ist es, ihnen ein Vorbild zu sein, an das sie sich halten können."
Ein zustimmendes Nicken antwortete ihr. Die Boronstunde würde gleich anbrechen, und noch lag Dunkelheit über dem Schloß. Der kleine Schrein war nur schlicht hergerichtet, keiner der Boronis hatte Kultgegenstände im Gepäck gehabt. Der Altar war mit einem einfachen schwarzen Tuch abgedeckt. Darauf standen fünf Kerzen als Symbol für den Gott des Todes und der Träume. Dahinter hatte Antara ihre Ikone von der heiligen Etilia gestellt. Um den Raum etwas zu erhellen waren jeweils fünf Kerzen in Ecken plaziert und bildeten so mit den Kerzen auf dem Altar eine Art Fünfeck aus fünf mal fünf Kerzen.
Antara stand, in ihre schwarze Kutte gewandet und die Kapuze halb ins Gesicht gezogen, vor dem Altar und war in stille Andacht versunken. Die beiden Ritter Golgaris flankierten stumm den Schrein links und rechts. Der Knappe Timokles stand am Eingang und wies stumm die ankommenden Gläubigen auf ihre Plätze.
Schweigend nickte Answin von Boronshof dem Knappen zu, als er den Schrein betrat und dem stummen Hinweis Timokles folgte. Der Vogt sah ob der frühen Stunde noch etwas blass aus, unter seinen Augen zeichneten sich dunkle Ringe ab. Er hatte sich eng in den gelben Umhang gehüllt, auf dessen Rücken das Wappen des Boronshofes prangte, das unter anderem auch ein gebrochenes Rad aufwies, wenn auch in leichter Abwandlung vom Zeichen der Boronkirche nur ein Viertel des Rades fehlte und es somit noch sieben Speichen aufwies...
Langsam verstummte die Unruhe durch die Ankommenden, und als kein weiterer Teilnehmer mehr zu kommen schien drehte sich die Borondienerin um. Sie nickte Timokles kurz zu, und der Knappen schloß die Tür. In Antaras Hand war ein Gefäß an einer Kette zu sehen, von dem Rauch aufstieg. Mit langsamen Schritten ummaß sie den Raum, schwenkte das Gefäß und schon bald hatte sich der schwere Duft des Weihrauch im ganzen Raum ausgebreitet. Als sie wieder am Altar angekommen war übergab sie den Schwenker an Timokles, der ihn abdeckte und unauffällig in eine Ecke stellte.
Antara stellte sich vor dem Altar auf, breitete ihre Arme aus und hob sie dann auf etwa halbe Höhe. Die Ärmel der Kutte hingen herunter und gaben der Geweihten so das Aussehen eines Raben, der seine Flügel ausbreitete.
"Ehre und Furcht gebühren dem Herrn des Endes. Ihr Gläubigen, beuget das Haupt vor unserem Herrn BORON!"
Die Worte waren nicht sehr laut gesprochen, aber in der Stille der Andacht hallten sie trotzdem. Antara senkte die Arme wieder, faltete sie und beugte das Haupt. Die Ritter des Golgari taten ihr nach. Stille erfüllte den Raum. Nachdem sie einige Minuten das Haupt gesenkt in stiller Andacht verbracht hatten, sah die Borongeweihte wieder auf. Die beiden Ritter sahen ebenfalls wieder auf und klapperten dabei absichtlich ein klein wenig mit ihrem Rüstungen, um so den Gläubigen ein Zeichen zu geben.
"Zu Beginn, als die Lebewesen, die von Los kamen, die Welt besiedelten, kannten sie keinen Schlaf, kein Vergessen und keinen Tod. Die Pflanzen bühten, wuchsen und wucherten, bis der Boden nicht mehr zu sehen war, die Tiere vermehrten sich und ihre trampelnden Hufe und Pfoten schlugen Sumus Leib tiefe Wunden. Und die Menschen zeugten Kinder, die heranwuchsen und wiederum Kinder hatten, und es war kein Platz mehr zwischen ihnen. Die Geister der Menschen sammelten in ihren endlosen Tagen Erfahrungen über Erfahrungen, und unter der Last der Erinnerungen waren sie kaum noch zu einem Gedanken fähig. Das Leben dehnte sich aus, überfüllte die Welt bis zum Ersticken und konnte doch nicht sterben.
Da sprach BORON ein Wort, und das Wort war der Tod.
Doch BORON befreite die Menschen nicht allein von der Bürde der Unsterblichkeit, die nur die Götter zu tragen wissen, sondern schenkte ihnen den süßen Schlaf, damit sie sich von den Mühen des Tages erholen konnten, und das Vergessen, damit sie erlittenes Leid nicht auf immerdar tragen müssen. So steht es geschrieben.
Und so wollen wir Trost darin finden, daß alles Leiden, daß wir hier auf Dere erdulden müssen, ein Ende findet und alsbald dem süßen Vergessen anheim fällt. Ein jeder tritt den Flug über das Nirgendmeer an und muß sich vor Rethon verantworten für seine Taten. Dem Aufrechten wird seine Belohnung in den Paradiesen der Zwölfe zuteil, den Sünder aber wird seine ewige Strafe ereilen, gleich wie sehr er bislang ihr zu entrinnen versuchte. Verzagen wir also nicht angesichts der Leiden Schrecken auf dieser Welt, wird es doch trotz allem ein gutes Ende für uns nehmen. Lasst uns nun alle jener gedenken, die bereits auf Golgaris Rücken den Flug über das Nirgendmeer angetreten haben."
Sie senkte wieder Haupt im Gedenken an die Toten. Der Vogt von Boronshof hatte lange nicht mehr so intensiv zum Herrn des Todes gebetet, und als das lange Schweigen im Gedenken an die Toten jetzt auf den Anwesenden lastete, stand er eine Weile wie gelähmt. Schließlich brach ihm der Schweiß aus, sein steifes Bein zitterte, vielleicht vom langen Stehen herrührend. Doch barg der Boronshofer schließlich gar den Kopf in beiden Händen, und das gepresste Flüstern, eigentlich nur ein kurzer Stoßseufzer, das er dabei ausstieß, war ob der Stille zumindest für in der Nähe stehende zu hören und zu verstehen:
"Schenke ihnen Ruhe!"
Das Stille dauerte an. Unter den Gläubigen, die das lange Schweigen nicht gewohnt waren, breitete sich langsam Unruhe aus. Die Ruhe wurde immer beklemmender. Antara hob wieder ihr Haupt, ebenso die anderen Golgariten. Unvermittelt erklangen ihre Stimmen zu einem Choral und durchbrachen die Stille:

"Schweigen umfängt die sterbliche Hülle,
harrend in der Vergänglichkeit.
Hör das Lied der Schwingen,
die klingen vom Niergendmeer!
Frieden bringen sie der Seele!
Träume bis in Ewigkeit."

Die Stimmen verklangen und die Geweihte machte eine Geste, daß der Borondienst beendet war. Timokles öffnete wieder die Tür. Erleichtert wandten sich die Besucher zum Gehen, als ein vernehmliches Räuspern der Geweihten sie einhalten lies.
"Eines noch: Bishdariel überbrachte heute Nacht einen Traum, über den wir gleich noch werden beraten müssen."
Answin, der den Raum schon fast verlassen hatte - möglicherweise noch etwas blasser als beim Betreten - wandte sich um und musterte die Geweihte fragend. Antara sah einige fragende Gesichter auf sich gerichtet.
"Später, wenn wir uns beraten", flüsterte sie mehr als sie sprach, "hier ist nicht der richtige Ort für viele Worte."
Nach der Messe wurde das borongefällige Schweigen nur schwerlich aufrechterhalten. Allenthalben flüsterte man miteinander, während die Messebesucher den Schrein verließen. Man sprach über die Vision der Boroni, der nahen Aufbruch und die hoffentlich gute Situation der Vorhut. Nur mit Mühe konnte der Knappe Timokles die Männer mit strengen Blicken und Weisungen zur Ruhe bei der kontemplativen Stille halten, wie es sich nach dem Gottesdienst gehörte, zu aufgebracht waren die Gemüter.
Nachdem die Golgariten den Schrein nach einem abschließenden Moment der Ruhe wieder soweit in Ordnung gebracht hatten, gingen die zwei Ritter mit den beiden Knappen würdevoll in der großen Saal, in der sich bereits der Rest der Gruppe versammelt hatte und auf die ersehnte Aufklärung der Vision wartete. Antara stellte sich also vor die versammelte Menge, während sich die anderen Golgariten zu den Zuhörern gesellten.