Wahltag zu Angbar
Angbar. Wer neuer Reichs-Vogt der Kapitale am See wurde, ist längst bekannte Kunde, auch über die Mauern der Seestadt hinaus im Koscher Land. Wie es sich nun genau begab an jenem Tage, als der Rat zur Wahl zusammentrat, das mag der Leser der folgenden Schilderung entnehmen, welche — der Ereignisse im Wengenholmschen eingedenk — in der letzten Ausgabe dieses Journals nicht gebührend hätten Platz finden können. — Die Schriftleitung.
Wahltag in Angbar
Klares Ergebnis: Reichsbehüter bestätigte Bosper von Stippwitz
Die Spannung im Wappensaal des Bürgerhauses von Angbar war dem Zerreissen nahe. Die Anhänger der beiden Favoriten in dieser Wahl zum Stadtvogt waren gereizt, laut und aufgebracht, drückten den Gegnern die Argumente fast schon mit der Hand ins Gesicht, wohingegen die beiden selbst sich kühl gaben.
Odoardo Markwardt saß an seinem Platz bei seinen Anhängern und starrte seinen Gegner unverwandt an, als wollte er ihn damit noch in die Knie zwingen. Seine hohe Stirn glänzte im hereinfallenden Tageslicht, der pelzverbrämte Ratskragen machte ihn wohl schwitzen —- oder die Aufregung? Weiß traten die Knöchel seiner Hände hervor, die den eleganten Ebenholzstock umschlossen wie ein Schraubstock das Kantholz.
Bosper zu Stippwitz saß ebenfalls bei den Seinen, rechterhand sein Vetter Gobrom zu Stippwitz, der reichste Händler der Stadt, linkerhand sein Neffe Garbo zu Stippwitz. Bosper trug ruhige Miene, doch spielten seine Finger unablässig und nervös mit den gehaltenen Handschuhen. Sein Blick hatte sich — um nicht Odoardo anzustarren wie dieser ihn — an einer Fliege festgebissen, die über das Geländer vor ihm krabbelte.
Gidiane Caramos war ebenfalls sehr nervös und verbarg ihre Aufregung auch kaum, wurde jedoch immer wieder von ihrer Nachbarin, der Tsageweihten, zur Ruhe gerufen. Galosch, Gindrums Sohn, war bisher noch gar nicht im Saal erschienen, was die Gaffer aus der Brauergilde äußerst beunruhigte, so daß sie gar kurz Aufschub der Wahl verlangten. Ein glühender Blick des alten Vogtes machte sie schweigen.
Unter lauten Kommentaren der Umsitzenden gaben die Gildenmeister nacheinander ihr Birkenholztäfelchen ab, auf das sie den Namen dessen geschrieben hatten, den die Gilden unterstützten. Unter den Namen waren die Gildenzeichen eingebrannt, die sonst nur von der Güte einer Ware kündeten.
Eberwulf zu Stippwitz auf dem Vogtsessel nahm die Täfelchen entgegen, las sie, ohne dabei die Miene zu verziehen, und gab sie dan an den Secretarius weiter, der hinter dem betreffenden Namen die Stimme eintrug. Die Herren Räte nahmen sich teils sehr gewichtig bei der Stimmabgabe, teils waren sie es, teils aber verloren sie in hitziger Anhängerschaft auch die Beherrschung.
So jauchzte Bolzer Glödig, Braumeister aus Angbar Obersee auf, als er seines Favoriten angesichtig wurde: Galosch, Gindrums Sohn, trampelte gerade durch das Portal des Wappensaals, eine Schubkarre mit zwei Fässern schiebend. Gröhlend Glückwünsche und Begrüßungen von sich gebend, schob er die Karre vor seinen Sitz zwischen den übrigen Wirten und Brauner, hievte sich umständlich darauf und grinste alsbald in die Runde. Bolzer Glödig aber sprang nun auf, drängelte sich am Zuckerbäcker Caldros, Sohn des Caramis, vorbei und kommentierte seinerseits selbst die Abgabe seiner Stimme: „Meine Stimme gilt dem Herrn Galosch, Sohn des Gindrum! Nicht zuletzt da er die Gilde der Brauer und Wirte vertritt und als solcher aus ordentlichem Stalle entsprossen ist. Nur möchte ich tunlichst darauf hinweisen, daß meine Entscheidung beruht einzig auf dem Eindruck seiner ehrwürdigen und fachkundigen Persönlichkeit, nicht aber ...“
„Zum Henker, Glödig, gib die Tafel und setz dich wieder!“ entfuhr es Odoardo Markwardt, der hitzig aufgesprungen war. Glödig wandte sich ihm unbeeindruckt zu: „Die Herren Stippwitz und Markwardt sollen sich nur in Acht nehmen, daß ihnen die Gratenfelser Hinterkoscher oder die Garether nicht das reine Gift als Bier vor die Nase setzen; jene Brauer nämlich achten nicht das Gebot der Reinheit, das unser Koscher Bier so auszeichnet ...“
Versonnen strich er sich den Bauch und pausierte in der Rede, die Eberwulf zu Stippwitz nutzte: „Rat Bolzer Glödig, Ihr könnt Euch setzen, die Stimme ist notiert.“
Nun trat Jugel Notgroschen vor, langsam in Richtung des Vogtes schreitend, dabei die Versammelten mit strengem Blicke musternd, grimm wie ein Firungeweihter, doch ungleich redsamer. „Nun, wir wollen doch wirklich keine Aufregung, nicht wahr nicht? Ein Stippwitz war Vogt, soll es auch ein Stippwitz bleiben, nicht wahr nicht? Der Bosper ist ein stämmiger, ein Angbar stämmiger, nicht wahr nicht? Der ist mir schon lieber als Schreihälse, Säufer und Zwielichtige, nicht wahr nicht? Damit der Handel weiter in Ruhe handeln kann, ... nehmt den Bosper, nicht wahr nicht?!“
Der alte Ratsherr war nicht umsonst als Geschäftsfreund des Hauses Stippwitz bekannt ... und als Fuhrunternehmer erbitterter Konkurrent der Markwardts.
Doch während der amtierende Vogt mit einem feinen Lächeln das Täfelchen quittiterte, erhob zum ersten Mal die einzige Kandidatin ihre Stimme. „Ihr fürchtet Euch wohl vor frischem Geiste?“ frug sie keck, wurde aber von der Markwardtschen Parteigängerin Wiede Schrammling lautstark unterbrochen: „... aber euer Kandidat, der ehrenwerte Herr zu Stippwitz, sieht trotzdem zu, wie sich die Gaukler und Huren frech und fröhlich in unseren Mauern breitmachen, daß dem ehrlichen Bürgervolk Angst und Bange wird.“
„Ein wenig frischer Wind, der die dunklen Gassen vom Schmutze säubert, welcher sich dort angesammelt hat, der würde durchaus gut tun“, entgegnete ihm wiederum Gidiane Caramos. „Und selbst alteingesessene Angbarer haltet Ihr von den Geschäften der Stadt fern — die Zünfte der Krämer und der Schiffer nämlich, denen Ihr, Stippwitz wie Markwardt einerlei, immer noch keine Vertretung in diesem Rat zubilligt.“
„Bei mir an der Theke ist für jeden ein Platz, mag‘s Kaufmann, Schifferin oder Krämerlein sein, junge Frau!“ gröhlte Galosch dazwischen. Damit hatte der Kneipier die Lacher auf seiner Seite, und so mancher würdige Ratsherr jauchzte und prustete vor Erheiterung — wohl auch vor Erleichterung einige, die gefürchtet hatten, Frau Caramos hätte sich mit den genannten, niederen Gilden verschworen. In der Tat sollte es am Abend noch zu einem Tumult kommen, bei dem erst Meister Nirdamon und seine Garde die Prügelnden auseinandertreiben könnte, doch lag dies noch fern.
„Ich jedenfalls werde deren Begehren unterstützen“, konnte die junge Kauffrau Caramos noch hinzufügen, bevor sie der Stadtvogt zur Ordnung rief. „Das will ich meinen!“ rief Herr Ardo von Stedtler, der sich in der Vergangenheit oft als Sprecher für den Fürsten und die übrigen Herrschaften von Stande hervorgetreten war. „Seit wann entspricht es den Gepflogenheiten dieses Rates, daß die Kandidaten sich noch bei der Stimmabgabe lauthals anpreisen wie die Marktweiber ihre Ware?“ Da schwieg auch Herr Odoardo, der gerade zu einer Erwiderung hatte ansetzen wollen.
„Honorable Damen und Herren Ratsmitglieder!“ hub nun Meister Morand Siebenbeutel an. „Wir Hutmacher sind eine alte und traditionsreiche Zunft. Wir selbst etwa, das Haus Siebenbeutel, führen seit den Tagen Seiner Durchlaucht Halmdahl den goldenen Eber des Fürstlichen Hoflieferanten an unserem Giebel. Das Festhalten am Althergebrachten ist seit alters her ein wichtiger Charakterzug von uns Angbarern, allhier wird das Gold noch nicht vergötzt, allhier hat man noch den Mut, zu leben wie der schlichte Garnelstrauch auf dem Felde. Das dünkt uns edel!“ — Da stimmten die Ratsleute einhellig zu, nickten zur Bestätigung und klopften auf die Bänke.
„Fürwahr, wir lieben sie nicht, die fortschrittlichen Pfeffersäcke und Federfuchser, wie sie das Haus Stippwitz nunmehr schon der sechsten Generation stellt, und es deucht, als liebten sie uns Hutmacher auch nicht!
Jahrein, jahraus, sah man seinerzeit schon den alten Herrn Beregond — Boron hab‘’ihn selig — mit stets dem gleichem Hut, derweilen die Herren Gishelm, Gobrom, Tiftal und Bosper stets barhäuptig in der Öffentlichkeit auftraten. Wahrlich, hätte man dem ehrbaren Herrn Eberwulf nicht den steifen schwarzen Ratshut des Stadtvogtes aufs Haupt gesetzt, so hätte er sich wohlweißlich dennoch nimmermehr in unseren Laden oder an die Marktstände unserer Zunftbrüder Dollmütz und Cappauf verirrt!“
— „Hört, hört!“ erscholl es hier und dort aus den Reihen.
„Aber Spaß beseite, ganz anders deucht uns Hutmacher der ehrbare Herr Odoardo, dessen Base erst kürzlich den Traviabund mit unserem jüngsten Zunftbruder, dem aus dem almadanischen zugewanderten Perückenmacher Ludovico Galiotto einging. Auch haben wir Hutmacher nicht vergessen, daß uns Herr Odoardo versprach, der Errichtung eines Zunfthauses in der Häfnergasse zuzustimmen … Schlußendlich erwarb der Herr Odoardo erst kürzlich einen neuen Hut für Praiostags, just einen ähnlichen, wie ihn auch Seine Hochwohlgeboren, der schöne Graf Orsino, trägt! Die Stimme der Zunft der Hut- und Haubenmacher gehört folglich keinem anderen Candidaten, denn dem Herrn Odoardo Markwardt!“
Doch ungeachtet der Eleganz und Eloquenz der Rede des Hutmachers, der Appell des Rats Notgroschen hatte seine Wirkung bereits getan. In den ungelenken Worten eines einfachen Handwerkers erklärte Aldur Stiepenbrink, wen die Goldschmiede auserkoren hatten „Naja, äh, dann hab ich mir denkst, wenn‘s der Vater kann, kann‘s der Sohn auch. Und deswegen wählen die Goldschmiede den Bosper zu Stippwitz zum neuen Vogt von Angbar. Möge er recht gut und lang regieren.“ Ihm folgte schon der nächste: „Mögen die Zwölfe, Phex voran, ihm eine gute Hand geben, wie sie seinem Vater solange zu eigen war.“ — Erkward Hollerfust, Wirt der „Hahnenkrone“, stimmte, trotz des mißbilligenden Blickes seiner Zunftbrüder für den Stippwitz. Zuckerbäcker Caldros erklärte sich für „Bosper, Sohn des Eberwulf“.
So ging es in einem fort, und selten nur mußte der Ratsschreiber Born von Stedtler einen Strich für Herrn Markwardt zeichnen. Selbst des Rates ältestem Mitglied, dem beinahe 200jährigen Kesselschmied Lutrhix, gelang es nicht, einen Umschwung herbeizuführen, obschon er mit einer ergreifenden Anekote aus der Kindheit des „kleinen Odoardo“ die Gemüter rührte. Der zählte mit grimmigem Blicke die Stimmen im Geiste mit und wußte dank seines rechnerischen Geschicks den Sieger, noch bevor der Schreiber das Ergebnis verlas.
Bosper zu Stippwitz hatte die Mehrheit der Stimmen auf sich vereinigen können, mit einem deutlichen Abstand zu Markwardt als Zweitplazierten, während Galosch trotz seines Freibier-Versprechens weit abgeschlagen als Dritter rangierte. Nicht eine einziges Ratsmitglied hatte hingegen auf sein Täfelchen den Namen der Frau Gidiane geritzt, nicht einmal sie selbst. Dies rechnete ihr mancher hoch an („Tapfer und ehrenhaft“, sprach die Rondrajüngerin Schwertfrieden), während die Geweihten von Ingerimm und Praios ihre Niederlage gewiß mit Wohlwollen zur Kenntnis nahmen — hatte letzterer doch vor der Wahl eindringlich vor „bornländischen Verhältnissen“ gewarnt.
Als die Verwandten Gobrom und Garbo den Siegreichen umarmt hatten, ließ dieser seine Zurückhaltung fahren und nahm freudig die Gratulationen all derer entgegen, die sich um ihn drängten. Auch die Unterlegenen waren darunter, nachdem sie die trotzigen oder auch tröstenden Treuebekundigungen ihrer Anhänger entgegengenommen hatten: Gindrums Sohn, der ihm einen Schluck seines Steinerweichers aufnötigte, Gidiane Caramos, die dem Frischgewählten unversehens gar einen Kuß auf die Wange hochte und ihm Ungehörtes ins Ohr flüsterte, und schließlich Odoardo Markwardt, dessen fester Händedruck gewiß nicht allein der eines aufrechten Verlierers war, sondern mehr noch Gelassenheit und zwergisches Standvermögen für die Zukunft ausdrückte.
Währenddessen hakte sich der alte „Vogt von Ewigkeit zu Ewigkeit hinaus“ bei seiner jungen Gemahlin, des Reichs-Truchsessen Tochter, unter und stapfte beinahe unbemerkt hinaus (denn vom Jubel und Lob der Ratsherrn hatte bei seiner Verabschiedung zu Beginn der Sitzung wahrlich genug gehört), wandte sich aber auf der Schwelle noch einmal, den Sohn und Nachfolger durch die Menge fixierend. Jener nickte, inmitten der Glückwünsche und Hurra-Rufe beinahe unmerklich, worauf der alte Herr wie zum Gruße seinen Stock hob und alsdann das Haus der Zünfte verließ, noch bevor die ersten Damen und Herren in den Ratskeller strebten, wo die Wirtin die Fässer schon angeschlagen hatte.
Erst zum Angbarer Turniere schließlich überreichte des Reichsbehüters und Königs Gesandter Ludalf von Wertlingen Herrn Bosper die Bestätigung mit dem kaiserlichen Siegel. Was nun die ungewöhnliche Verzögerung angeht, so wissen wir nun, daß Gerüchte, nach denen einer der Verlierer die Reichskanzlei angerufen habe, und den neuen Stadtvogt des Stimmenkaufs beschuldigte, von allen Seiten ins Reich der Fabel verwiesen wurden. „Ausgemachter Blödsinn — darpatisches Intrigenspiel liegt uns Koschern nicht“, bestätigte Ratsherr Markwardt diesem Journal auf der jüngsten Ratsversammlung, und in seltener Einmütigkeit nickte der Reichs-Vogt Stippwitz dazu.