Entführung des Prinzenpaares - In aller Frühe
Vielleicht war es den langen Märschen der letzten Tage, vielleicht dem Würzwein, vielleicht aber auch der Anwesenheit der Boroni zu verdanken, dass so mancher in dieser Nacht überhaupt Ruhe fand. Prinz Edelbrecht jedoch war schon früh im Morgengrauen aufgestanden um sein Gesicht mit dem kalten Wasser zu erfrischen, das die Bediensteten des Gutshofes kurz zuvor aus dem vereisten Brunnen geholt und aufgetaut hatten. Manche von ihnen hatten in der Nacht in der Tat Schneeschuhe aufgetrieben, teilweise auch neu geflochten, die nun sauber geordnet bei den Stiefeln der Anwesenden standen.
Nur mühsam schaffte Antara es sich zu erheben und in den kalten Morgen zu starten. Die Decken waren zu verführerisch kuschelig warm, aber es half nichts. Noch mehr bei ihrem Gott als auf Dere verrichtete sie ein eher knappes Gebet und schlurfte in die Stube, wo man bereits Vorbereitungen getroffen hatte. Seltsame Geflechte bei den Schuhen erregten ihre Aufmerksamkeit. Ihr dämmerte, was mit den Schneeschuhen gemeint war. Als sie den Prinzen bemerkte, der sie mit einem Schmunzeln ansah, lief sie rot an.
Kurz vor Einbruch der Morgendämmerung wurde Urion vom Schnauben seines Rappen geweckt. Die Knechte hatten gerade den Stall betreten und mit dem Füttern begonnen. Urion schälte sich aus seinen Decken. Gefroren hatte er in dieser Nacht nicht. Die Wärme, die die vielen Tiere ausstrahlten, hatte ihn warm gehalten. Allerdings hatte dies auch den Nachteil, dass er an diesem Tag den Stallgeruch nicht loswerden würde. Aber was sollte es? Erfroren waren schon viele, erstunken noch keiner.
Mit freiem Oberkörper trat er aus dem Stall und steckte seinen Kopf mit den kurzen Stoppelhaaren in einen Wassereimer am Brunnen, den die Bediensteten gerade herauf gezogen hatten. Es war immer noch bitterkalt. Mit einem vernehmlichen Zischen sog Urion die Luft ein, als das eisige Wasser seinen Rücken herunter rann. So erfrischt betrat er wieder den Stall und kontrollierte die Arbeit der Knechte. Im Anschluss kleidete er sich an, begab sich in die große Halle, um mit den anderen das Frühstück einzunehmen. Neben den Stiefeln der Kameraden entdeckte er Schneeschuhe. Er nahm sich ein Paar und wandte sich dem Prinzen zu.
"Guten Morgen, Hoheit, im Stall ist alle soweit in Ordnung. Die Pferde werden jetzt vorbereitet. Nichts steht einem frühen Aufbruch im Wege, ausser vielleicht unsere Begleiter, die anscheinend heute mal länger die wohlige Wärme der Betten genießen wollen."
Urion grinste den Prinzen verstohlen an. Lyeria war bereits, seit die ersten Sonnestrahlen sie geweckt hatten, wach und war tief in das Gebet zu Boron versunken. Sie dankte den Zwölfen gen Rahja gewandt für den neuen Tag und betete stumm für den Erfolg ihrer Mission, das Leben der beiden Koscher Erbprinzen und die Gesundheit des ehrenwerten Abtes von Rabenhorst.
Nachdem sie ihr Gebet vollendet hatte, stand sie auf, gürtete ihre Habseligkeiten, weckte ihren Knappen Timokles, der nach wie vor in tiefem Schlaf lagund trat nach unten hinab in die Stube. Ihr Antlitz war wie immer kühl und unnahbar, wenn auch nicht abstoßend, und sie bildete mit ihrer Aura von Stolz und Erhabenheit den genauen Gegensatz zu ihrem Knappen, der mit Augenringen unter seinen verschlafenen Augen und schlecht sitzendem Mantel die Treppe bald nach ihr herab kam. Die Golgaritin erblickte die Schneeschuhe und trat dann zu den anderen Frühaufstehern hinzu.
"Boron zum Gruße, ehrernwerter Prinz, Schwester", sie verneigte sich knapp vor den beiden, "ich nehme an, ich habe recht in der Annahme, dass wir heute schon bald aufbrechen werden. Doch werden wir in diesen Schneewehen den Weg finden oder haben wir einen ortskundigen Führer? Ich habe zwar Vertrauen in die Götter, aber kenne auch die Macht des Wetters, schließlich verweile ich schon einige Zeit im Finsterkamm und weiß über die Gefahr von Lawinen und Murenabgängen etwas Bescheid, Euer Hochwohlgeboren."
Anselm Hilberan benötigte an diesem Morgen etwas länger als die Frühaufsteher unter der Gruppe. Doch auch er vollzog ein Ritual mit dem eiskalten Wasser und war dann schneller wach als ihm eigentlich lieb war. Wenn er eines hasste, dann war es, sich mit kaltem Wasser den Bart abzuschaben. Dennoch unterließ er es, sich noch warmes Wasser bringen zu lassen.
'Was würde das für ein Bild geben?', dachte der sich schmunzelnd. Schließlich, als die ersten bereits begonnen hatten, das morgendliche Mahl einzunehmen, erschien auch der Junker zu Pechackern mit einem freundlichen "Praios zum morgendlichen Gruße!"
Der Prinz antwortete Lyeria noch bevor es der eben in den Raum getretene Gastgeber Kordan konnte:
"Wir werden noch eine ganze Weile auf verschneitem, aber festem Landweg reisen können. Erst im letzten Wegstück in den Bergen müssen wir auf die Rösser verzichten."