Wirren und Wunder
Wirren und Wunder
Ferdoker Praioni aus der Stadt gejagt
FERDOK. Begonnen hatte alles, als der hierzulande inzwischen allseits bekannte „Zug des Lichts“ im letzten Efferdmond die Grafenstadt Ferdok besuchte. Kurz vor dem Eintreffen der Greifengesandten begab sich Graf Growin auf den Weg nach Waldwacht, um dem vor kurzem erkrankten Bergkönig Arombolosch einen Besuch abzustatten, so daß der Graf von Ferdok an den flammenden Reden und beeindruckenden Predigten Derian Palagions und seiner Begleiter nicht teilhaben konnte. Die Ferdoker Bürger und Bauern waren von den verkündeten Lehren des Lumerian Hilberian Grimm vom Großen Fluß sehr angetan, so daß man beinah schon die gesamte Grafschaft als größtenteils hilberiantreu bezeichnen konnte. Ende Travia, nachdem der „Zug des Lichts“ schon drei Wochen gen Norden und Angbar aufgebrochen war, erreichte eine zweite Gruppe von Praiosgeweihten Stadt und Mark Ferdok. Diese kamen jedoch aus der Abtei von Prasunk aus den nahem Nadoret und wurden angeführt von dem jungen Perjin von Nadoret, einem Sohn des verstorbenen ehemaligen Barons Dajin von Nadoret.
Graf Growin indes befand sich nach dem Besuch des Truchsessen und seiner Gesellschaf unterwegs nach Bragahn, er wollte doch einige Tage bei seinem Freund Baron Barytoc Naniec Thuca verweilen und mit jenen über die Nachrichten aus Gareth konfererieren.
Am nächsten Markttag dann betraten Perjin und seine Schar gemeinsam mit dem Vorsteher Xandros Pallisan und fast allen Geweihten des Ferdoker Greifentempels den Großen Marktplatz, um nach eindringlichem Geläut der Praiosglocke erneut eine Ansprache an die auf dem Markt versammelten Menschen zu richten.
Die Predigt Perjins
Trotz der allgemeinen Geschäftigkeit auf dem Marktplatz gelang es den Geweihten rasch, sich Gehör und Aufmerksamkeit zu verschaffen. Vorab predigte Hochwürden Pallisan allgemein von der Herrlichkeit des Götterfürsten, wobei er großzügig auf die Worte Derian Palagions zurückgriff, die dieser erst kurz zuvor vorgetragen hatte. Als diese Reden auch diesmal ihre beabsichtigte Wirkung bei den Bürgern zeigten, begann er weiter von der Erhabenheit des Lumerians Hilberian und dessen rechtmäßigem Anspruch auf den Greifenthron auf Deren zu reden.
So wurden wir Ferdoker auf wunderliche Weise immer stärker in den Bann der Redner gezogen und anschließend trat Perjin von Nadoret vor und verkündete unter hellem Sonnenschein: „Es ist Praios’ heiliger Wille und so sei es Euch nun verkündet! Von dieser Stunde an sei der götterlose Zwerg Growin als Graf von Ferdok abgesetzt … So soll Ferdok erneut erstrahlen unter der Herrschaft des Götterfürsten und seines Vertreters auf Deren, welcher durch altes Recht seine Hochwürden Perjin Praiodanur aus dem alten und ehrenhaften Hause derer von Nadoret sein soll.“
Die Überraschung, die diese Worte hervorriefen war groß, kaum jemand wagte es, das gesagte in Frage zu stellen, und als die ersten ihre Zustimmung mit Jubel zum Ausdruck brachten, schlossen sich denen immer mehr an und ließen die wenigen Gegenredner schnell verstummen. Schon wollten sich die Fanatischsten aufmachen, um die gräfliche Residenz in Besitz zu nehmen, als sich vor deren Portal Rena von Arbasien mit gezogenem Schwerte und Wildhelm II. aufbauten.
Mutig, aber chancenlos standen die fünfzehnjährige Knappin und der alternde Magier der aufgewühlten Menge gegenüber, doch einige Kriegerinnen der Ferdoker Garde und mehrere Zwerge der Stadt bahnten sich bereits einen Weg, um den beiden beizustehen.
Der Fremde
Die Stimmung war bis zum Zerreißen gespannt, als sich nun die Parteien im Patt gegenüber standen. und die Praiosgeweihten redeten weiter auf die hin-und-hergerissene Menge ein, als ein Fremder die Stufen vor der Residenz betrat. Dieser Mann war schlank und hochgewachsen, trug ein einfaches Gewand aus hellem grauen Leinen und war bis dahin niemandem aufgefallen. Sein Alter war schwer einzuschätzen, doch schien er trotz seines asketisch wirkenden Gesichts und seines kurzen weißen Barts kaum älter als vierzig zu sein.
Ohne daß er auch nur ein Wort gesagt hätte, verstummten für einen kurzen Moment alle Anwesenden. Als erster fand Perjin Worte und schrie den Fremden förmlich an, er solle verschwinden und bedachte ihn mit einem Blick, der dazu geeignet war, einen jeden Menschen erzittern zu lassen.
Der Fremde jedoch hielt diesem Blick mühelos stand und schon nach wenigen Sekunden drohte der junge Geweihte zusammenzubrechen, hätte nicht Xandros Pallisan seinerseits den Fremden mit dem Flammenden Blick bedacht. Einige, endlos erscheinende Augenblicke sahen sie sich in die Augen, bis dem Hochgeweihten des Ferdoker Tempels der Schweiß aus der Stirn trat und er zornig den Kopf abwandte.
Dann begann der Fremde mit klarer Stimme zu reden. Der genaue Wortlaut ist mir nicht mehr genau bekannt, doch er sprach von den Zeiten der Priesterkaiser, als die Grafschaft schon einmal unter der Herrschaft von Praiosgeweihten stand. Er beschrieb das Elend des einfachen Volkes, durch dessen ausgeschwitztes Blut in unbarmherziger Fron der Glanz der Praiostempel erst geschaffen werden konnte, so lebhaft, daß wir dachten, wir würden es mit eigenen Augen sehen, am eigenen Leib qualvoll erspüren können. Dann sprach er weiter davon, was wir auf uns nähmen, wenn es wieder Priestergrafen gäbe.
So brach er allmählich den eigenartigen Bann, der auf uns zu liegen schien und erste Rufe gegen die Praiosgeweihten waren zu hören; ungeachtet der Reden, mit denen Perjin und Xandros noch immer von ihrem Podest aus auf die Menge einzureden versuchten. Da fragte sich plötzlich ein Händler: „Wie konnte ich nur freiwillig einen doppelten Tempelzehnt zahlen wollen?“ und schon bald waren erste Rufe zu hören. „Weg mit den Pfaffen!“ und „Was brauchen wir sie?” schrien die Ferdoker da!
Zu plötzlich kam dieser Stimmungswandel, als daß die versammelten Geweihten sich hätten fassen können, und die Menge ergriff, was auf dem Markt feilgeboten wurde und ihr in die Hände kam: Stöcke, Harken, Eier, Kohlköpfe oder Tomaten. Als das erste Ei auf dem Haupte Perjins von Nadoret zerschellt war, folgte bald mehr, die zornigen Rufe wurden lauter und die Geweihten wurden mehr und mehr zurückgedrängt, bis sie schließlich vor der aufgewühlten Menge nur noch geradezu fliehen konnten. Ein lebendiges Huhn gar wurde ihnen hinterhergeworfen, als sie durch das Garether Tor hetzten und dann kurz darauf am Fährhafen eilig einen kleinen Nachen bestiegen, mit dem sie, mit allerlei Feldfrüchten bedacht, den Großen Fluß hinab entschwanden.
Anschließend begab sich die Menge wieder in die Stadt, doch ihr Zorn war noch nicht verraucht und so schritten sie vor die Tore des Praiostempels. Dort jedoch hatte sich ihnen der alte Geweihte Ubriel Gelsach auf Krücken in den Weg gestellt und gebot den Bürgern im Namen Praios’ des Allmächtigen, den Tempel nicht zu betreten und keinesfalls die heilige Halle zu schänden.
Ob der alte Mann nicht dennoch überrannt worden wäre, kann man nicht sagen, aber eine Abteilung der Ferdoker Garde unter der Obristin persönlich trat neben den wack’ren Ubriel, um den Tempel zu schützen. Obgleich auf vielen der Gesichter der eher Rondra verehrenden Gardereiterinnen keineswegs ihre berühmte Entschlossenheit zu sehen war, zogen es die Ferdoker nach einigem Gemurre dann doch vor, langsam abzulassen.
Einige Zeit später hatte sich der Zornessturm gelegt und nur noch die Händler des Marktes beklagten sich lauthals über den entstandenen Schaden und wußten sich nun zu erzählen, an allem seien nur die „Pfaffen“ schuld.
Der unbekannte graue Fremde jedoch war wieder so ungesehen entschwunden, wie er gekommen war, und niemand vermochte bis heute eindeutig zu berichten, wer er war. Gerüchte um ihn gib es stattdesen inzwischen zahlreiche: Einige sprechen von einem mächtigen Magier wie Rohezal oder gar Rohal, andere von einem weisen Seher aus dem Süden und eine Stimme wurde gar vernommen, die von dem Geist Kaiser Hals sprach.
Manch einer, der die Priester lieber auf dem Grafenthron gesehen hätte, will in dem Unbekannten dagegen eine Geweihten des Namenlosen gesehen haben. Vermutlich ist keine dieser Theorien wahr, und um einen Magier wird es sich wohl auch nicht gehandelt haben, fehlte doch der charakteristische Stab und jegliches magische Symbol.
Nach der Vertreibung
Graf Growin, der zwei Tage nach diesen Vorfällen wieder eilends in Ferdok eingetroffen war, konnte nicht zu einer eindeutigen Stellungnahme bewegt werden. Sein aussagekräftigste Äußerung zum Thema war: „Ich habe als Graf dem Kaiser bzw. dem Regenten einen Treueid geleistet und nicht irgendwelchen Priestern! Und so werde ich auch weiterhin verfahren und dem Beispiel des Regenten folgen, bis er sich irgedwie entscheidet. Von mir aus können die Boten des Lichts machen was sie wollen — Hauptsache sie lassen uns hier in Ferdok und die unbeteiligten Bauern dabei in Ruhe.“
Letztendlich kann man aber wohl davon ausgehen, daß der Graf mit der Wendung der Ereignisse nicht unzufrieden ist — wer wollt’s ihm auch verdenken? Der große Ferdoker Praiostempel wird so jetzt nur noch von Ubriel Gelsach und zwei Novizen bewohnt, und es wird nicht erwartet, daß die geflohenen Geweihten, die zuletzt bei Drift gesehen wurden, allzu schnell zurückkehren werden.
Der anfallende Tempelzehnt für den Herrn Praios wird derweilen in den gräflichen Kassen zurückbehalten, „damit der Zehnt nicht womöglich einem falschen Boten des Lichts in die Hände fällt und noch mal entrichtet werden muß...“
Aus Ferdok berichtete Helmbrecht Jolen, Augenzeuge und
Redacteur des Kosch-Kuriers.