Moorbrücker Inspektionsreise - Neuvaloor: Unterschied zwischen den Versionen

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Version vom 2. April 2022, 16:11 Uhr


 Wappen Mittelreich.svg  Wappen Fuerstentum Kosch.svg   Wappen Grafschaft Ferdok.svg   Moorbrueck.gif  
 Dorf.svg
 
 Moorbrueck.gif
 
Texte der Hauptreihe:
K8. Epilog
Autor: Kunar

Neuvaloor, im Ingerimm 1041

Dem Wunsch Kuniswarts vom Eberstamm gemäß brach man morgens direkt nach dem Frühstück auf. Alle waren zu Pferde – bis auf Bolzer Spatenschwingh, der sich bereiterklärt hatte, den Seneschalk und seine Begleiter durch den Sumpf zu führen. Der Torfstecher war bereits 1032 BF bei der Erkundung der Siedlungsplätze dabeigewesen. Im Gegensatz zu damals war der Weg zur ersten Etappe kürzer, weil man nicht von Burg Birkendamm aufbrach, die auf der Hälfte des Weges von Grantelweiher zur Stadt Moorbrück lag. Das ersparte der fürstlichen Gesandschaft, sich direkt mitten in den Sumpf zu begeben. Da sich das beschwerliche Stück der Treidelstraße ausgerechnet südlich von Grantelweiher befand, durchquerte die Gruppe stattdessen zunächst den Wald östlich des Ortes und zog dann an dessen Rand bis an die Warna, nahe der Stelle, wo sie in den Großen Fluss mündete.

Hier stießen sie auf einen Karrenweg, dem sie die Warna entlang flussaufwärts folgten. Morwald Gerling erzählte, wie die Leute von Neuvaloor zuerst einen Trampelpfad mit Markierungen angelegt und diesen nach und nach ausgebaut hatten. Trest von Mackenstein nickte anerkennend. Das musste ein ordentliches Stück Arbeit gewesen sein. Gerling führte weiter aus. "Für die Versorgungslage der Siedlungen war es entscheidend, gut befestigte Wege zu haben. Das hat Ritter Boromil schon früh erkannt! Da die Mitte der Baronie Moorbrück schwer durchquerbar ist, haben die Neusiedler nach Wegen am Rande und in die Nachbarbaronien gesucht."

Es dauerte nicht allzu lange, und sie erreichten eine Brücke. "Ah, die Brücke nach Bergund", erläuterte der Vogt. "Ein gemeinschaftlichtes Vorhaben von Ritter Boromil und Saria von Lindholz-Hohenried. Die Ritterin von Bergund ist eine entfernte Verwandte von ihm und so war man sich nach ihrer Belehnung schnell einig, die beiden Lehen durch einen Weg zu verbinden. Einfach war es aber nicht! Schmuggler behinderten immer wieder die Bauarbeiten!" "Letzten Endes ist es ihnen aber doch gelungen, wie wir ja selbst sehen können", kommentierte Elida von Bärenstieg. Kuniswart vom Eberstamm freute sich insgeheim darüber, dass seine Begleiterin den Redefluss des Vogtes unterbrach. Das kam ihm nur gelegen, denn ihm war ein Gedanke gekommen. "Da diese Brücke die Grenze zu Bragahn überquert: Nehmt Ihr hier Brückenzoll? Und wenn ja, wie hoch sind die Einnahmen?" An dieser Stelle kam Morwald Gerling kurz ins Stocken.

"Nein, äh, wir verlangen hier keinen Brückenzoll auf Moorbrücker Seite. Bewusst, wie ich betonen muss! Zölle würden direkt wieder über erhöhte Preise reingeholt, die man von den Siedlern verlangen würde. Die Händler wollen ihr Risiko minimieren und die Extraausgaben schnell wiederhaben, so dass es Neuvaloor am härtesten treffen würde. Dabei kam doch gerade von dort die Hälfte des Geldes für den Bau der Brücke! Für die barönliche Kasse wäre es unterm Strich kein Gewinn, aber für den Handel wäre es schlecht. Dabei wollen wir den gerade ankurbeln... es wagen sich ja ohnehin kaum Händler hierhin, viel weniger zumindest, als ich gerne hätte."

Kuniswart horchte auf. Hatte er soeben die ersten nicht so glanzvollen Teile der ansonsten so erfolgreichen Moorbrücker Neusiedlung vernommen? Er ermahnte sich, wachsam zu bleiben und seine Sinne auf die Umgebung zu richten. Wer weiß, was unterwegs noch Aufmerksamkeit verdiente, um im Bericht aufzutauchen? Die Rahmenbedingungen waren für die Beurteilung der Besiedlung ebenso wichtig wie der Zustand der Siedlungen selbst.

Gerling hatte mitbekommen, dass der Seneschalk nachdenklich geworden war. "Ähm, möchtet Ihr die Brücke genauer inspizieren? Vielleicht einmal darübereiten?" Kuniswart schüttelte nur den Kopf. Der Ritter von Mackenstein übernahm schnell das Antworten. "Wie lange braucht man von Bergund bis Neuvaloor? Ist die Reise ohne Übernachtung im Freien zu schaffen?" "Oh, ja, natürlich! Verzeiht, dass ich es nicht von selbst erwähnt habe." "Habt Ihr einmal daran gedacht, einen Wächter für die Brücke abzustellen?", fragte nun die Ritterin von Bärenstieg. "Immerhin ist das ein wichtiger Versorgungsweg, wie Ihr selbst festgestellt habt."

"Da fehlen mir ehrlich gesagt die Leute. Ein Mann oder eine Frau alleine wären hier draußen eher selbst in Gefahr, als dass sie etwas schützen könnten. Schmuggler sind schlau genug, um sich von Gardisten nicht so einfach aufhalten zu lassen – die werden im Zweifelsfall ein Boot organisieren, wenn sie übersetzen wollen." Das hatte seine rondrianisch ausgerichteten Begleiter, die die Brücke auch aus strategischen Gesichtspunkten betrachteten, sichtlich nicht zufriedengestellt, und so fügte der Vogt schnell hinzu: "Hier am Rande des Sumpfes hat es keine Untoten, und wer als Räuber hier durchkommen will, der wird es auch schaffen. Aber das zwölfgöttergefällige Volk braucht einen guten Weg, um seines Tagwerks nachzugehen, und darum inspizieren wir jedes Frühjahr die Brücke und reparieren sie, wenn nötig. Der Wille der Zwölfe, die Rechtschaffenen zu unterstützen, er wird hier durchgesetzt!" Der Seneschalk hatte genug gehört. "Gut, ziehen wir weiter."

Am Rande Neuvaloors erwartete sie ein Zwerg. "Herzlich willkommen in Neuvaloor! Ich bin Olgosch Sohn des Ogrim, der Dorfschulze und die rechte Hand Ritter Boromils. Bevor ich allzu lange darüber nachgrübele, wie ich Herrn Kuniswart vom Eberstamm als Mitglied des Fürstenhauses, Seneschalk des Kosch und Geweihten der Rondra richtig anrede, verzichte ich lieber auf allzu viele Floskeln und reiche jedem von Euch einen Krug Bier zur Begrüßung." Morwald Gerling schaute kurz besorgt zu den Gesandten, doch diese mussten unwillkürlich lachen. Geradeheraus, ganz nach ihrem Geschmack! Gerne nahm man die angebotene Erfrischung an.
Der Ambosszwerg redete inzwischen weiter. "Bolzer, Du bekommst natürlich auch einen! Wie geht's, alter Junge?" "Kann nicht klagen, Olgosch! Baroschem!" "Baroschem!" Während auch Kuniswart den ersten Schluck nahm, fiel ihm ein Mann auf, der einige Schritte entfernt stand und ihn ehrfürchtig anstarrte. Freundlich bedeutete Kuniswart ihm, näherzukommen, und schüttelte ihm dann die Hand. "Den Zwölfen zum Gruße! Ich bin Kuniswart vom Eberstamm." "Den Zwölfen zum Gruße! Zolthan Grobbfold. Es ist mir eine Ehre! Ein vom Eberstamm in Neuvaloor... das hat es schon lange nicht mehr gegeben!" Der Schulze wurde nun wieder geschäftig. "Unser Rossknecht wird sich um Eure Pferde kümmern." "Jawohl, Herr!", reagierte der Angesprochene und wandte sich sofort den Reittieren zu.

"Sag mal, Olgosch, wo ist denn der Herr vom Kargen Land?" "Irgendwo mittendrin in dem Trubel, Euer Hochgeboren!" An die fürstliche Gesandschaft gewandt, ergänzte er: "Ihr bekommt hier einen recht guten Eindruck, wie es in der Siedlung so zugeht. Ritter Boromil ist oft unterwegs." "Als Begleiter Graf Growins, wohlgemerkt!", beeilte sich Gerling zu ergänzen. "Nicht, dass Ihr denkt, er sei pflichtvergessen. Es ist vielmehr so, dass seine Hochwohlgeboren die Anwesenheit Ritter Boromils an seiner Seite schätzt, wenn er auf längere Reisen geht. Die ganz normale Pflicht eines Ritters – und natürlich eine Ehre, unter den vielen Edlen der Grafschaft ausgewählt zu werden!" "Jedenfalls kümmere ich mich dann um alles, was so in und um Neuvaloor und seine Einwohner anfällt. Und das hat sich in den vergangenen neun Götterläufen gut bewährt. Da Ihr alle das Bier schon habt: Wie wär's, wenn wir einfach mal durch die Siedlung gehen?" "Gute Idee", stimmte Kuniswart schnell zu, bevor der Vogt noch etwas sagen konnte. Es war Zeit, sich ein eigenes Bild zu machen, anstatt sich auf die Worte anderer zu verlassen. Gerling hatte den Wink verstanden und hielt sich mit weiteren Ausführungen zurück.

Die fürstliche Gesandtschaft ging ruhigen Schrittes die Siedlung entlang. Auf den ersten Blick war es ganz zufriedenstellend, was der Seneschalk und seine zwei Ritter sahen. Die Gebäude waren solide Häuser, allein etwas unterschiedlich im Stil: Neben einem typischen Koscher Bauernhaus stand ein klobiger Steinbau. Anscheinend hatten sich bei letzterem die Ambosszwerge mit ihren Vorstellungen einer festungsartiger Behausung durchgesetzt. "Na, das ist doch mal eine solide Unterkunft, was?", kam Olgosch den Fragen seiner Besucher voraus. "Wir haben besonders große Vorratskeller gegraben. Hierhin können sich im Ernstfall alle zurückziehen, falls Räuber kommen. Schließlich wollen wir nicht das Schicksal Klippbrühls teilen! Bitte beachtet die kleinen Türme und Schießscharten, von denen aus man Angreifer mit der Armbrust beschießen kann!" Trest von Mackenstein lächelte grimmig. Ja, die Angroschim wussten schon, wie man sich gegen Feinde wehrt!

Elida sah sich inzwischen weiter um. "Hat sich seine Wohlgeboren mit einem kleineren Haus zufriedengegeben?" "Ein Gebot der Vernunft. Es hätte wenig Sinn gehabt, noch größer zu bauen, nur um den Stand zu betonen. Im Sumpf nützt einem der nicht viel. So haben wir zumindest in den anderen Häusern noch Platz für Gäste. Dieses Angebot gilt ausdrücklich für umherreisende Magier, wie es im Kosch-Kurier zu lesen war. Wenn der Albenhuser Bund mit Plänen über Unterkünfte im Tagesabstand am Großen Fluss ebenso vorankäme, wäre es Ritter Boromil nur recht, dann kämen wahrscheinlich mehr Händler hierhin! Ursprünglich stand hier noch ein Turm, aber der ist ja bei der letzten Besichtigung durch Fürst Blasius versunken." "Ach ja, ich erinnere mich. Gut, dass meinem seligen Vetter damals nichts passiert ist." Um den Fortschritt richtig zu beurteilen, rief sich Kuniswart ins Gedächtnis zurück, dass jeder Ritter 500 Dukaten als Startkapital erhalten hatte. Vielleicht täuschte er sich, aber gemessen daran war die Größe der Siedlung ein wenig bescheiden. Viel gewachsen zu sein schien sie ja nicht nach den ersten Jahren...

Aus den Augenwinkeln vermeinte Kuniswart ein Glänzen wahrzunehmen. Als er sich umdrehte, blickte er auf das Relief eines Fuchses, über dem der Mond und die Sterne zu strahlen schienen. Das war der Phexschrein! Irgendwie zauberte der Anblick des Schreins Kuniswart ein Lächeln ins Gesicht. Gott der Händler und der Diebe...

Die beiden Ritter hatten ihren Blick inzwischen ebenfalls dem Schrein zugewandt und schienen ganz angetan, so dass Morwald Gerling die Gelegenheit nutzte, um noch einmal das Wort zu ergreifen. "Der Schrein ist sowohl unter den Siedlern als auch unter Reisenden sehr beliebt! Er gibt den Menschen und Zwergen Zuversicht."

"Zuversicht ist sehr ist wichtig!", mischte sich nun ein weiterer Zwerg ins Gespräch ein, der im Kettenhemd durch Neuvaloor ging. "Dann kann man einige Dinge mit Humor nehmen. Zum Beispiel diesen unglaublich langen Winter vor drei Jahren, als der Sumpf gefror und die Untoten im Boden steckenblieben. Na, da hat uns der Herr Phex aber mal zugezwinkert." Er deutete einige Axtschläge an. "Denen konnten wir einfach links und rechts eine verpassen, und dann war Ruhe." Er war völlig in seiner eigenen Anekdote aufgegangen, so dass er die Besucher anscheinend vergessen hatte. Stattdessen wandte er sich an einen großen muskelbepackten Kerl mit nacktem Oberkörper, der gerade vorüberging. "Das war doch was, nicht wahr, Thimorn?" "Das wohl! Hähäha!", antwortete dieser und klatschte dem Angroscho zu.

"Das ist mein Freund Dugobalosch", klärte Olgosch etwas leiser, als er die verdutzten Gesichter der Besucher sah. "Er ist nicht immer so guter Laune, um es vorsichtig auszudrücken. Wir haben wirklich Glück..."
"Ah, unser hoher Besuch, hervorragend!", ließ sich nun eine Stimme vernehmen, die offensichtlich zu Boromil vom Kargen Land gehörte. Dieser kam aus einem der Häuser den Gästen entgegen. "Verzeiht, wenn ich Euch erst jetzt begrüße, aber ich wollte mich doch selbst vergewissern, dass für Euren Aufenthalt alles bestens vorbereitet ist." Nachdem sie einige Formalitäten ausgetauscht hatten, schlug Boromil fort: "Seine Hochgeboren erwähnte in seiner Ankündigung, dass Ihr zwei Nächte bleiben wollt. Vielleicht wollt Ihr dann bei uns auch ein heißes Bad nehmen! Ulinai und Ibrom Wasserlieb sind stolz darauf, ihr Badergewerbe hier in den Sumpf gebracht zu haben – wobei die Leute natürlich häufiger davon Gebrauch machen, wenn sie aus dem Sumpf wieder herauswollen..."

Kuniswart ging auf den Vorschlag Boromils ein, die Zeit bis zum Mittagessen mit dem Besichtigen der Felder und Sträucher zuzubringen. Was der Seneschalk sah, machte einen ordentlichen Eindruck, aber wenn er es richtig einschätzte, konnten die Siedler nicht viel zurücklegen. Sicher, da kamen noch die Ziegen und Schweine hinzu, die man ihm gezeigt hatte, aber die musste man auch erst einmal mit durchfüttern... die Siedlung hielt sich über Wasser, aber mit ihren derzeitigen Ackerflächen war die Anzahl der zusätzlichen Mäuler, die sie ernähren konnte, schlicht begrenzt.

Beim Essen hatten die Gäste die Gelegenheit, einen Blick auf all die anderen Siedler zu werfen, denn man aß gemeinsam in großer Runde. Die Gesandten nutzten die Zeit, um einiges über die Wege in der Baronie in Erfahrung zu bringen. Wenn das, was man ihnen erzählte, soweit stimmte, dann waren alle Siedlungen stark von den Verbindungen zwischen den Nachbarn abhängig, denn es gab nach wie vor nur wenige gute Wege aus der Baronie Moorbrück heraus. Der Ritter von Borking könne gen Nordwesten zu seiner Familie reisen. Der schlammige Pfad gen Donken sei aber sehr mühselig für Händler. Inzwischen gebe es einen Weg in die andere Richtung gen Herbonia. Ansonsten lohne es sich einzig für den Ritter von Tarnelfurt, über die Hollerheide Waren heranschaffen zu lassen, denn seine Familie lebe ja in der benachbarten Baronie. Selbst Lûr, das Lehen des von Grimsau, liege auf der falschen Seite, um von Osten aus anzureisen. Kurz und gut, der Große Fluss und der Karrenweg mit der Abzweigung nach Bergund waren entscheidend für die Versorung, und so machte ein Großteil der Händler in Neuvaloor Station. Kuniswart beschloss, das Gehörte bei seiner weiteren Inspektionsreise im Hinterkopf zu behalten und zu überprüfen. Vielleicht erzählte man ihm ja am anderen Ende in Neufarnhain das genaue Gegenteil, was die Wichtigkeit der Wege anbelangte. Die Siedler wirkten allerdings nicht großspurig und auch Ritter Boromil hatte sich ganz darauf konzentriert, seine Gäste gut zu bewirten.

Am Nachmittag besichtigte die fürstliche Gesandschaft nacheinander die Töpferei, die Schreinerei und die Glockengießerei. Bei der ersten Station stellte die Töpferin bald mehr Fragen an die Gäste als diese an sie. Aber konnte man es ihr verdenken? Dem Seneschalk des Kosch begegnete sie, eine einfache Frau, ja nicht alle Tage. Die Arbeiten der Tischlermeisterin Grimma Siebenrüb hatten die Gäste bereits am eigenen Leibe erfahren: Tisch und Stühle waren von ihr. Der Ritter vom Kargen Land betonte, dass einst sein Knappenvater die Hügelzwergin mitgebracht hatte und welchen Segen ihre Anwesenheit in der Siedlung bedeutete. Aldur Haubenschreier hingegen brauchte sein Talent nicht an die große Glocke zu hängen – er stellte ja selber welche her. Es rührte Kuniswart, als der Glockenschmied ihm ein Geschenk für Fürst Anshold mitgab – eine kleine Glocke mit hellem Klang, die mit einem fein ziselierten Eberkopf verziert war. Man sah dem Mann an, wie wichtig es ihm war, dieses Präsent überreichen zu dürfen.

Abends lauschten die Gäste in großer Runde bei einem Bier den Erzählungen der Siedler, was sich in den letzten Jahren alles an Anekdoten zugetragen hatte. Arombolosch Rüsslinger war hier ganz in seinem Element und jedesmal, wenn seine Frau Roglima ein eigentlich unschönes Thema anschnitt, begann er, die lustige oder denkwürdige Seite der Angelegenheit hervorzuheben. Da ging es etwa um Schatzsucher, Abenteurer und ähnlich zwielichtige Gestalten, die einfach in der Umgebung anfangen wollten zu buddeln. Für die Siedler alles andere als angenehm, denn waren die Leute unvorsichtig und kamen dabei um, bestand immer die Gefahr, dass sie einem als Untote wieder über den Weg liefen. Der Schweinehirte erinnerte stattdessen an zwei zwergische Prospektoren, die schon früh in Neuvaloor aufgetaucht waren. Die seien zwar auch verwegene Gestalten, aber hätten wenigstens Manieren... und angeblich sogar Ardo vom Eberstamm gekannt! Bei diesen Worten weiteten sich die Augen des Vogtes ein wenig. Der Seneschalk hingegen ließ daraufhin auf seinen seligen Bruder anstoßen, der zeit seines Lebens Kontakt zu einer Menge ungewöhnlichem Volk gehabt hatte. Der junge Angroscho Ingramosch Grambart war Feuer und Flamme, doch als er mehr von Kuniswart wissen wollte, wandte Gerling ein, dies sei nun wirklich nicht der Zeitpunkt, um alte Geschichten aus dem Leben des Burggrafen von Ochsenblut aufzuwärmen.

In der Nacht wachte Kuniswart auf. Als er an die Tür ging, um frische Luft zu schnappen, glaubte er seinen Augen kaum zu trauen: Sah er da in dem Nebel am Rande der Siedlung eine schlanke Gestalt? War das das Gesicht einer Frau in den Schwaden? Sie schien den Kopf zur Seite zu legen, so als wollte sie schlafen oder sei traurig. Und kam da nicht jemand aus dem Nebel hervor? Da, jetzt konnte er es genau erkennen: Ein Mann, der altertümlichen Kürass trug. Schlagartig wurde es Kuniswart klar: Das waren Geister! Sofort schloss er die Tür und machte ein Boronrad.

Am nächsten Tag besprach sich Kuniswart mit Trest und Elida. Nach der generellen Besichtigung der Siedlung am Vortag konnten sie sich heute auf Einzelheiten konzentrieren. Elida schlug vor, mit jedem der Siedler einzeln zu sprechen, um ein gutes Bild von der Stimmung der Einwohner zu bekommen. Nach seinem nächtlichen Geistererlebnis schien das Kuniswart eine gute Idee. Wie hielten das die Leute so gut aus? Trest erbot sich, die Zwerge zu übernehmen. Er wollte insbesondere mehr über die ambosszwergische Behausung wissen, aber auch über die Umstände vom Versinken des Turmes erfahren. Bestand etwa Gefahr, dass das noch weiteren Gebäuden passieren konnte? Der Seneschalk schließlich wollte sich mit dem Vogt besprechen, um zu überprüfen, ob er einige Aussagen richtig verstanden hatte. Die Gespräche boten außerdem eine gute Gelegenheit, einmal jedes Haus von innen zu sehen, ohne allzu aufdringlich zu erscheinen.

So verbrachten sie einen guten Teil des Tages. Schließlich schaute Trest zusammen mit Connar Tannhaus, dem Schreiber Ritter Boromils, über die Aufzeichnungen der Siedlung. Elida hatte eine Menge von den Siedlern erfahren und fragte nun Gerling nach seiner Einschätzung einiger Dinge. Das dauerte absichtlich lange und sie hörte sich geduldig die Ausführungen des Vogtes an, damit sich Kuniswart in aller Ruhe mit Boromil allein besprechen konnte.

"Euer Wohlgeboren, Ihr könnt frei sprechen, und nachdem, wie ich Euch erlebt habe, gehe ich davon aus, dass Ihr offen und geradeheraus wie ein Ritter reden werdet." "Darauf könnt Ihr Euch verlassen, seid unbesorgt." "Wie ist Euer Verhältnis zum Vogt?" "Ich vertraue ihm und wir bereiten uns auch gegenseitig keine Probleme. Ärger gibt es zwischen ihm und Edelbrecht von Borking, einem der anderen Siedler, mit dem ich befreundet bin. Vielleicht war es anstrengend für Euch, dem Vogt zuzuhören. Für einen Dieners der Rondra zählt die Tat, nicht das Wort, schon gar nicht das eines anderen." "Das habt Ihr sehr treffend festgestellt." "Ich gebe Euch jedoch auch zu bedenken, dass die Vorgänger des Vogtes meist glücklos handelten und es mit manchem ein schlimmes Ende genommen hat. Es hat so viele unheimliche Vorkommnisse in Moorbrück in den letzten Jahrzwölfen gegeben, dass man Gerlings relativ ruhige Amtszeit als großen Erfolg bewerten muss..." "Wo Ihr unheimlich sagt: Gestern nacht sah ich Geister!" "An die haben wir uns gewöhnt... sofern man das über Geistererscheinungen überhaupt sagen kann. Im ersten Jahr waren die Siedler noch sehr bang, doch irgendwie musste das Leben ja weitergehen. Wir binden es natürlich nicht jedem gleich auf die Nase, was sich hier nachts bisweilen abspielt. Es ist aber auch keine große Überraschung hier im Moorbrücker Sumpf mit seiner Geschichte aus den Magierkriegen." "Welche Siedlung ist die erfolgreichste?" "Das muss offen gesagt Therbunja sein. Reto von Tarnelfurt konnte gleich zu Beginn einen ganzen Tempel errichten lassen! Er muss einen reichen Gönner haben oder die Familie hat viel dazugetan, obwohl ich nicht wüsste, dass die besonders reich wären. Anders ist es jedenfalls nicht zu erklären." "Dann führt Ihr die bisherigen Erfolge also nicht nur auf das Geld des Fürsten und das Geschick des Vogtes, sondern auch auf Hilfe von Dritten zurück?" "Ohne jeden Zweifel! Gleich zu Beginn schickte mir Edelbrecht die fünf ambosszwergischen Krieger, die Ihr gesehen habt. Ohne die Zwerge hätte ich es nie geschafft. Beim Ritter von Borking waren es ebenfalls Angroschim, die geholfen haben. Einige der anderen haben Hilfe von Geweihten bekommen, dann ist da noch eine Magierin... doch auch bei den ganz gewöhnlichen Einwohnern war oft Hilfe im Spiel. Familien, Schwertvater und -mutter, Freunde – alle haben das ihrige getan, um neue Siedler zu finden." "Was fehlt Euch hier am meisten?" "Vor allem Leute! Wir könnten einen Heiler dringend gebrauchen. Die Rohalswächter in Eisenkobers Wacht verbrauchen ihre Kräfte nur ungern für so etwas. Falls hier im Sumpf eine Krankheit ausbricht, ist das gefährlich für alle Siedlungen! Wenn Ihr gegen die Untoten, Geister und den dämonisch verseuchten Boden vorgehen wollt, braucht Ihr Praios- oder Borongeweihte. Dann fehlen den meisten von uns Rittern schlicht neue Siedler. Von alleine kommt niemand hierhin, da bräuchte es schon einen neuerlichen fürstlichen Aufruf. Und zuletzt und ganz trivial – ich suche noch eine Braut. Wenn mein Rittergut weiterbestehen soll, muss ich irgendwann eine Familie gründen. Ich reise jedoch oft für Fürst und Kosch durchs Reich und darüber hinaus, da komme ich nicht dazu, mich auf Bällen herumzutreiben. Es ist natürlich auch nicht so, dass die Damen Schlange stehen, wenn sie hören, dass ich in Moorbrück wohne." "Was würdet Ihr dem Fürsten antworten, wenn er Euch fragen würde, was er für die Baronie tun kann?" "Tobrien ist frei – und Moorbrück nahe. Es liegt auf der Hand, die Anstrengungen darauf zu richten, dem Sumpf neues Land abzutrotzen. Eine richtige Straße zwischen den Siedlungen, das wäre eine große Hilfe!" "Bau und Unterhalt einer Straße kosten eine Menge Geld – dabei hat die fürstliche Kasse bereits eine beträchtliche Summe für die Moorbrücker Neusiedlung zur Verfügung gestellt und seitdem noch keine Abgaben erhoben." "Fragt Euch selbst, was Euer Ziel ist: Steuern einzunehmen oder ein göttergefälliges Werk zu tun. Wenn es um ersteres ginge, hätte das Fürstentum auch woanders sechs neue Siedlungen planen können. Aber der Kampf gegen den Sumpf wird Generationen dauern und in dieser Zeit erwarte ich keine allzu üppigen Einnahmen aus der Baronie. Viel wichtiger ist doch: Die Bürger müssen das Vertrauen haben, dass sich Recht und Ordnung durchsetzen, nur dann werden wir gegen dämonische Kräfte gewinnen." "Euer Wohlgeboren, ich danke Euch für eine klaren und ehrlichen Worte."

Auch in dieser Nacht konnte Kuniswart nicht gut schlafen, doch als er diesmal an die Tür ging, sah er keine Geister, sondern ein Schimmern irgendwo aus der Siedlung. Er zog sich einen Mantel an, nahm zur Vorsicht ein Schwert in die Hand und ging der Sache auf den Grund. Vom Phexenschrein kam ein silbernes Glänzen und Strahlen. Dort stand ein Mann, der seelenruhig auf ihn gewartet zu haben schien.

Mit einem Lächeln und ausgebreiteten Armen eröffnete dieser das Gespräch. "Die Macht des Praios überstrahlt alles, aber die Nacht ist oft länger als der Tag." "Den Zwölfen zum Gruße! Ich gehe wohl recht in der Annahme, dass Ihr ein Diener des Fuchses seid." "Phex zum Gruße, Kuniswart vom Eberstamm. Das habt Ihr gut erkannt. Gestatten, Meister Phexgnade. Ich bin der Geweihte, der hier regelmäßig vorbeischaut." "Ritter Boromil hatte Euch gar nicht erwähnt..." "Dann hat er – sehr anständig von ihm! – meiner Bitte entsprochen. Es sollte eine kleine Überraschung sein." "An Überraschungen fehlt es nicht in der Gegend – allerdings sind nur wenige positiv, wie ich gestehen muss." "Wohl gesprochen! Ja, die Siedler können jedes Quentchen Glück gut gebrauchen! Und die Unterstützung des listigen, fröhlichen Phex ist genau das richtige für so eine grimmige und ernste Umgebung. Ich selbst kümmere mich um einige Belange der Siedlung und stehe Ritter Boromil gelegentlich mit gutem Rat beiseite." "Das werdet Ihr Euch doch bestimmt etwas kosten lassen..." "Natürlich, ganz im Sinne meines Herren! Die Geldspenden des Ritters zahlen sich jedoch aus: Ich habe die Handelsbeziehungen am Rande des Sumpfes belebt. All die Kontakte nach außen und mit fahrenden Händlern... so etwas können die Siedler gar nicht leisten, wenn sie den ganzen Tag im Haus und auf dem Feld schuften! Für Neuvaloor springt dabei so manche gute Gelegenheit heraus, denn wenn ich mitbekomme, dass in einer der anderen Siedlungen etwas benötigt wird, kann ich mit dem durchreisenden Händler noch ein Zusatzgeschäft abschließen, wenn er sowieso schon in die Gegend unterwegs ist... gut für den Handel, gut für Mensch und Zwerg, dem Fuchs gefallend." "Was uns zu uns beiden bringt. Was wollt Ihr von mir?" "Eure geschätzte Zeit und Aufmerksamkeit. Ich glaube, dass Ritter Boromil recht hat. Aus den Siedlungen ist so bald nicht viel herauszuholen. Wenn Ihr profitieren wollt, müsst Ihr zunächst investieren. Aber hier geht es noch um viel größeres. Es ist des seligen Fürsten Blasius' großer Erfolg, einen Teil des Sumpfes nach den Magierkriegen urbar gemacht zu haben. Warum nicht dieses großartige Werk in seinem Gedenken fortsetzen und vergrößern? Ich werde das meine tun, um die Zwölfgöttergläubigen in dieser Gegend zu beschützen. Tut Ihr das Eurige am Fürstenhof." "Habt Dank für Eure Worte. Wir wandeln auf verschiedenen Pfaden, doch Euer Ziel kann ich verstehen." "Es freut mich, dies zu hören. Auf ein anderes Mal vielleicht. Und sichere Wege."

Bevor Kuniswart vom Eberstamm, Diener der Göttin und Seneschalk des Kosch, sich wieder zur Nachtruhe begab, wurde ihm schlagartig ein Problem bewusst, dass ihn noch eine ganze Weile plagen würde: Wie sollte er all das Erlebte in einen kurzen Bericht packen?