„Das möcht’ ich noch erleben“
„Das möcht’ ich noch erleben“
Fürstinmutter Thalessia feierte ihren 90. Tsatag
ANGBAR. Perval den Ritterlichen hat sie noch selbst durch Angbar reiten sehen; der Kaiserin Cella wartete sie als Hofdame auf; bei den Krönungsfeiern Retos und Hals tanzte sie mit ihrem Gatten Berndrich im Ballsaal der Garether Residenz. Die Orken sah sie plündernd durch den Kosch ziehen, Edelleute im Kampf für oder gegen den Usurpator Answin die Waffen erheben, schließlich sogar Angbar in Flammen stehen. Keine Dame aus fürstlichem oder königlichem Hause gibt es im ganzen Raulschen Reiche, die auf ein so langes und bewegtes Leben zurückblicken kann, und kaum ein Mensch hat dem Schicksal so unverdrossen die Stirn geboten wie sie, die Fürstinmutter Thalessia von Eberstamm-Ehrenstein-Eberstamm.
Am 28. Rahja 1030 BF feierte die greise Dame im Kreise der Familie und einiger alter Freunde des Hauses Eberstamm ihren 90. Tsatag. Von der engeren Verwandtschaft fehlten nur der Prinz Edelbrecht und die Dame Thalia. Dafür war aus Gareth hoher Besuch angereist: Prinz Storko höchstpersönlich ließ es sich nicht nehmen, der Fürstinmutter die besten Wünsche des Kaiserhauses zu übermitteln und ihr ein Geschenk von besonderem Wert zu überreichen: den Rosenmantel der Kaiserin Cella, in den die junge Hofdame Thalessia einst vor vielen vielen Götterläufen goldene Blüten eingestickt hatte. Mit unbeschreiblicher Freude, so heißt es, habe die Greisin dieses Erinnerungsstück ihrer Jugendzeit empfangen und halb zärtlich, halb ehrfurchtsvoll berührt. Doch als Herr Storko sich gar anschickte, ihr den Mantel um die Schultern zu legen, da habe sie es abgelehnt, ein kaiserliches Kleid zu tragen: „Da sei der Herr Praios vor, dass mir in meinem Alter noch solcher Hochmut komme!“
Auch die Gaben der anderen Gäste waren von erlesener Güte und mit Sorgfalt ausgewählt. „Die Jugend mag sich an Flitter und anderem Tand ergötzen, aber dies hier ist ein treffliches Geschenk für mein Alter“, soll sie zum Grafen Growin gesagt haben, der einen urgemütlichem Schaukelstuhl aus tiefrotem Salminger Ulmenholz brachte, dessen Lehne zu beiden Seiten mit kleinen Eberköpfen verziert war.
Da der Bau des großen Festsaales noch immer nicht vollendet war, tafelte die adlige Gesellschaft im Fürst-Holdwin-Flügel, der bereits auf der Angbarer Fürstenturnei vor anderthalb Jahren eingeweiht worden war. Als besondere Überraschung gab es ein besonderes Menü, das die Fürstinmutter an ihre Jugendzeit erinnerte. Denn bei Bauarbeiten auf den Kaiserlichen Inseln im Angbarer See war jüngst die Menüfolge eines Festbanketts gefunden worden, das Kaiser Bardo dort einst ausgerichtet hatte. Ein Gang firmierte dort als „Gruß aus dem Kosch“ und bestand aus Bollenbraten in Biersoße, gefüllt mit gehacktem Hanghasen und garniert mit ganzen Koschammern, dazu der Rogen des Rondrahechts sowie Birnenkompott an Hollerbeerengelee.
Doch auch die braven Bürger Angbars hatten Anteil an den Festlichkeiten. Im Fürstengarten spielten Musiker zum Tanze auf, das Volk erfreute sich an Freibier und guter Speise aus den Vorratskellern der Residenz. Der Stadtrat aber und hinterdrein die Mitglieder der Zünfte, Gilden und vieler anderer Gruppen, zog festlich geschmückt in den Hof der Thalessia, der all die Menschen und Zwerge kaum aufnehmen konnte. Die Blaskapellen spielten ein fröhlich-feierliches Tsatagslied, und als die Fürstinmutter schließlich auf den Balkon heraustrat, da ließen die Angbarer sie mit frohem Jubel hochleben — und man kann gewiss sein: Dies kam von Herzen; denn wenn die Frau Thalessia auch ob ihrer strengen Art bei manch einem gefürchtet ist, so erfreut sie sich doch großer Beliebtheit bei den einfachen Leuten. Als Geschenk überreichte man ihr ein wunderschönes und bis ins Kleinste genaues Modell des Fürstenschlosses, das Meister Angert Süßrahm, der beste Zuckerbäcker der Stadt, gefertigt hatte, und dazu ein gewaltiges Buch mit mehr denn tausend Seiten, in dem die Angbarer alle Geschichten, Märchen, Anekdoten, Lieder und Gedichte zusammengetragen hatten, die ihnen eingefallen waren. Über ein Jahr lang hatten siebzehn Schüler unter Aufsicht der Hesindegeweihten in Schönstschrift daran gearbeitet und das Buch mit neunzig Bildern und Zeichnungen versehen.
Gerührt nahm Frau Thalessia die Gaben und Glückwünsche entgegen. Dann sprach sie: „Ihr lieben Leute habt mir auf meine alten Tage eine schöne Freude gemacht, und dafür danke ich euch. Ihr wisst, die Eberstammer sind keine Freunde langer Reden, und darum will ich’s kurz und bündig machen. Neunzig Götterläufe bin ich jetzt alt — eine lange Zeit, und eigentlich könnte es damit genug sein. Manch einem, Boron sei’s geklagt, sind nicht einmal halb so viele Jahre vergönnt. Ich habe so viel gesehen und erlebt, dass ich, wenn meine Augen und Hände nicht zu schwach wären, ein ebenso mächtiges Buch damit füllen könnte. Aber diese beiden Dinge möcht’ ich noch erleben, und ich bitte den Herrn Boron, mir noch so viel Zeit zu lassen: Zum einen die Vollendung dieses Schlosses, und zum andern“ — und dabei sah sie zu dem Prinzen Anshold hin — „will ich noch ein Urenkelchen als Erben unseres Hauses auf meinem Schoße wiegen. Dann mag ich sagen: Nun ist es gut, und getrost die Augen schließen.“
Die letzten Sätze hatte sie in solch einem feierlichen Ton gesprochen, dass manch einer „So sei es“ murmelte, ganz wie am Ende eines Gebetes. Dann aber erhob die Fürstinmutter noch einmal die Stimme und sagte: „Nun aber, gute Bürger, gehet hin und feiert schön, und wenn ihr den einen oder anderen Krug auf das Wohl des Hauses Eberstamm leert, dann ist’s recht. Doch vergesst nicht ganz, dass ihr morgen wieder euer Tagwerk mit frischem Kopfe verrichten sollt!“
So folgte den warmen Worten doch zumindest noch ein sanfter Tadel, und da waren die Angbarer froh, dass „ihre Fürstinmutter“ doch noch die Alte geblieben war. Bei blauem Himmel und Sonnenschein — was die Garether „Kaiserwetter“ zu nennen pflegen — wurde nach bester Koscher Art gefeiert, und noch Frau Mada sah auf das frohe Treiben im Fürstengarten hinab und blickte auch durch die Fenster des Schlosses, wo Frau Thalessia von ihrem neuen Stuhle aus den Tänzen der jungen Leute mit einem zufriedenen Lächeln zuschaute.
Karolus Linneger, Stitus Fegerson, Losiane Misthügel