Unter dem Schleier - Sapere aude: Unterschied zwischen den Versionen
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Version vom 17. April 2020, 06:41 Uhr
Tempel unserer gütigen Etilia, Ingerimm 1042
Mit zitternden Fingern überreicht Marbolieb Tempeltreu ihrer Mentorin einen zerknitterten Brief. Líadáin ni Rían nahm ihn entgegen und bedachte ihre Schülerin mit einem äußerst besorgten Blick, eher sie sich dem Brief zuwandte und verdutzt feststellte: „Vom Boron-Tempel in Angbar.“ Nun hob die Prätorin ihren Blick wieder: „Du hast mir gar nichts gesagt...“
Da schlug die Novizin, die ihr durch Brandnarben entstelltes Gesicht unter einem feinen, schwarzen Schleier verbarg, schuldbewusst die Augen nieder und gestand: „Er kam schon vor geraumer Zeit.“
Die Geweihte seufzte schwer und schloss ihre Schülerin in die Arme: „Ach Räblein, mein Räblein. Es tut mir so...“
„Deswegen hat er nicht geschrieben...“, schluchzte sie und begann bitterlich zu weinen. Und die Geweihte hielt sie einfach nur fest. Eine ganze Zeit. Bis sie keine einzige Träne mehr weinen konnte.
„Ich habe ihn geliebt. So sehr geliebt. Und...“, raunte ihre Schülerin ihr ins Ohr, „... wir haben... Ihr wisst schon.“
Nun gluckste Líadáin lächelnd: „Ich weiß, Räblein. Ich weiß.“
Da löste sich Marbolieb von ihrer Mentorin und schaute sie durch ihren feinen, schwarzen Schleier an: „Ihr habt das... gewusst?“ Es war ihr plötzlich schrecklich unangenehm. Ihre Wangen glühten, was ihre Gegenüber aber nicht sehen konnte.
„Was glaubst du, habe ich dir für einen Tee zu trinken gegeben?“, hob die Prätorin an, erwartete aber auch keine Antwort. Das war ihrer Schülerin noch viel peinlicher. „Im Übrigen hat er sich sogar bei mir vorgestellt. Ein netter...“, die Geweihte nickte aufmunternd, „... und sehr sympathisch junger Mann.“
„Ja“, erwiderte das Mädchen traurig, „Das ist.... war er. Das war er.“ Sie atmete hörbar ein. „Und ich... ich hab ihm meine Narben gezeigt und...“ Nun stockte sie. „... da war keine Furcht in seinen Augen. Gar keine. Und auch ich hatte keine Angst, weil er keine Angst hatte. So, wie bei Euch. Bei Euch habe ich mich nie gefürchtet.“ Sie schluckte. „Er war mein Vertrauter. Mein Seelenverwandter. So jemanden trifft man nur ein einziges Mal in seinem ganzen Leben...“
„Ach, Räblein, mein Räblein“, konnte da ihre Mentorin nur sagen und strich ihr sanft über die Schulter.
„Ihr habt stets für alles einer Lösung gefunden, Euer Hochwürden, aber für seinen Tod könnt selbst Ihr keine finden...“
„Der Rabe erhält, was des Rabens ist, mein Kind“, versuchte sie zu trösten, „Das ist der Lauf der Dinge. Das ist der Lauf aller Dinge. Und wir – die wir seine Diener sind – selbst wir können nur dabei zusehen.“
„Ich verstehe jetzt, wie sich die Angehörigen von Verstorbenen fühlen. Ohne Mutter, Vater, Bruder Schwester oder sonstigen Verwandten habe ich das nie erfahren, nun jedoch kenne ich ihren Schmerz, weiß von ihrer Verzweiflung, doch vor allem von ihrer Ohnmacht...“
Die Hüterin des Raben nickte ernst. Die Enttäuschung, dass sich ihre Schülerin ihr nicht anvertraut hatte, ließ sie sich nicht anmerken.
„Wisst Ihr...“, Marbolieb strich sich unter ihrem Schleier die Tränen aus den Augen, „... wir wollten den Traviabund schließen.“ Ihr entfuhr ein kehliges Lachen. „Ja, das wollten wir.“ Sie nickte. „Nachdem... nachdem ich meine Weihe erhalten habe.“ Da hob sie ihren Blick. „Dumm, nicht wahr?“
„Nein“, erwiderte die Prätorin entschieden, „Nicht dumm, sondern Liebe. Gegenüber diesem Gefühl sind selbst wir machtlos...“
Zustimmend nickte die junge Novizin.
„Es wird Zeit, mein Räblein, dass du in die Welt hinausziehst und den Dienst an den Menschen lernst: Mit Bruder Hal wirst du in den Moorbrücker Sumpf ausziehen.“
Den fragenden Blick ihrer Schülerin konnte sie selbst unter deren Schleier deutlich erkennen.
„Dafür brauchst du keine göttliche Kraft, aber einen wachen Verstand. Und von dem, Marbolieb, von dem haben die Götter dir reichlich gegeben. Sapere aude!“