Schwarzgebrannt - Den Fluss hoch
◅ | Kein guter Tag für Gamsbarts Magen |
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Die Ruine | ▻ |
Sindelsaum, Ingerimm 1047 BF
Gamsbarts Kopf arbeitete schnell. Dies hier war genau die Ablenkung, die er brauchte, um sich später vor seiner Frau rechtfertigen zu können, dass er so früh aufgestanden und verschwunden war. Ein Auftrag des Barons und dazu noch einige Schaulustige, die sicher anschließend alles, was er gleich tat, im Dorf herumerzählen würden, war perfekt. Gamsbart war sich sicher, dass diese Verfärbung des Wassers keine wirkliche Gefahr darstellte. Aber mit der Aufklärung dieses Falls könnte er etwas wichtig in der Gegend herumwandern und abends dann erschöpft wieder daheim auftauchen. Seine Frau würde ihm alles verzeihen, wenn er ihr nur beweisen könnte, dass er wegen der Aufklärung eines Falls so beschäftigt gewesen war. Daher trat der Dorfwaibel energisch nach vorne und meinte mit fester Stimme: „Dies stellt in der Tat eine gefährliche Sache für unser Dorf Sindelsaum dar, welche dringender Aufklärung bedarf. Daher werde ich flussaufwärts prüfen, was diese Verfärbung verursacht haben kann. Wer hier ist bereit, mir zu folgen?“
Sein Blick ging in die Runde, doch die meisten Zuschauer waren scheinbar nicht gewillt, ihm so einfach ins Blaue zu folgen. Einige hatten sicher noch ihr Tagwerk zu verrichten, aber hauptsächlich lag es wohl daran, dass flussaufwärts der Sindel nur noch der Baduarforst folgte. Der Wald hatte zwar keinen so schlechten Ruf wie beispielsweise der Borrewald, aber völlig ungefährlich war er auch nicht gerade. Die Wildhüter und Jäger der Baronie gaben sich zwar große Mühe, den Forst friedlich zu halten, aber es war eine zu große Fläche, um alles überwachen zu können. Daher betraten die Dorfbewohner den Wald nur, wenn sie dringende Arbeiten darin zu erledigen hatten. Gamsbart konnte ihre Zurückhaltung daher gut verstehen. Einer sah ihn jedoch mit leuchtenden Augen an und hob sofort die Hand. Es war der Knappe Arnulf, der von Gamsbarts forschem Auftreten ziemlich beeindruckt schien. „Ich folge Euch, Meister Wangenmoos.“ Das war zwar jetzt nicht die Menge an Leute, auf die Gamsbart gehofft hatte, aber auch besser als nichts, vor allem da dieser Bursche recht kräftig auf ihn wirkte. Den Forst betrat man besser nicht alleine, aber Gamsbart hatte heute auch nicht vor, allzu tief in den Wald einzudringen.
Über Stock und Stein, immer die Sindel im Auge, schritten die beiden Männer nun Richtung Baduarforst. Wer an jenem Tag außerhalb des Dorfes Sindelsaum unterwegs war, dem bot sich ein recht interessanter Anblick. Vorne weg ging der breit gebaute Dorfwaibel, den Kopf gesenkt, den Blick immer fest auf den Fluss gerichtet. Der sportliche Knappe eilte hinter ihm her. Dabei wirkten die beiden fast schon so wie zwei Jagdhunde, die einer Fährte folgten. Gamsbart wäre dabei einem Weißen Koscher nicht unähnlich gewesen, etwas behäbig und plump, doch ausdauernd und die Spur nie aus den Augen verlierend. Arnulf glich mehr einem Wehrheimer Bluthund. Aufmerksam folgte er dem Älteren, voller angestauter Kraft, jedoch gehorsam abwartend, bis ihn Gamsbart von der Leine lassen würde.
Die Räder in Gamsbarts Kopf drehten sich nun ausführlich. Was könnte eine solche Verfärbung im Fluss verursachen? Und warum? Laut Arnulf war dies heute früh auch schon einmal gesichtet worden, allerdings nur eine gewisse Zeit lang und dann wieder verschwunden. Damit konnte es sich nicht um ein totes Tier handeln. Vielleicht ein Streich der Hügelsaumer? Nein, das machte doch auch keinen Sinn, schließlich bezogen beide Dörfer ihr Wasser aus demselben Fluss. Dann doch Magie oder ein Fluch? Blödsinn. Das Übernatürliche einzubinden war nur immer eine einfache Ausrede für Leute, die nicht nüchtern nachdenken und logische Schlussfolgerungen anstellen wollten. Als Gamsbart so vor sich hin grübelte, trat er am Flussufer fehl und strauchelte.
Eine Hand schoss hervor und packte den Dorfwaibel am Gürtel. Das bewahrte ihn davor, ein unfreiwilliges Bad im Fluss zu nehmen. „Vorsichtig, Meister Wangenmoos. Ihr dürft, trotz eurem intensiven Nachdenken, nicht den Weg aus den Augen verlieren.“ Gamsbart keuchte und nickte Arnulf dankbar zu. „Danke, Bursche, gut, dass du wachsam bist. Auf ein Bad hätte ich nämlich gerade keine Lust.“ Einen Augenblick später durchfuhr es Gamsbart siedend heiß, dass er gerade ohne nachzudenken ein Mitglied des Niederadels einfach so geduzt hatte. Doch der Knappe schien damit kein Problem zu haben und grinste nur breit. Nun betrachtete dieser wieder den Fluss, doch im Moment war das Wasser wieder klar. „Habt Ihr denn schon eine Vermutung hierzu, Meister?“ Gamsbart setzte sich auf den Grasboden und meinte, um seinen Fehler auszugleichen, förmlich: „Schwierig, Wohlgeboren von Hartsteig. Hat Euch der Baron noch irgendetwas für mich ausrichten lassen?“ Überrascht sah ihn Arnulf an und meinte dann, nach einem Moment des Nachdenkens: „Nicht wirklich. Das, was ich wusste, habe ich euch ja bereits schon erzählt. Eigentlich wollte er auch nur, dass ich Euch diese Besonderheit zeige, mehr gaben seine Anweisungen nicht her. Außerdem sagt in Zukunft einfach Arnulf oder Ulfi zu mir. So nennt mich auch meine Familie. Dieses ,Herr‘ oder ,Wohlgeboren von Hartsteig‘ gefällt mir nicht.“ Verwundert musterte Gamsbart ihn. „Das wäre aber äußerst unfein von mir. Ihr kommt aus einem adligen Ritterhaus und seid dazu noch der Held, der die Schwester des Barons beim Überfall im Borrewald gerettet hat.“ Arnulf machte große Augen, als er dies hörte, und lachte dann schallend. „Ich ein Held? Ich weiß nicht, was Ihr so gehört habt, aber das Einzige, was ich getan habe, war, die arme Dame wie einen Sack Mehl unter einen Wagen zu ziehen. Die wahren Helden sind die Feldscher, die sie wieder zusammengeflickt haben. Mir gebührt dafür keine Ehre.“ Gamsbart konnte zuerst gar nicht glauben, was er da hörte. Dies hatte so gar nichts gemeinsam mit den romantischen Heldengeschichten, die sich die jungen Dinger in Sindelsaum erzählten und die er bereits abends in seiner Stammkneipe ausschweifend gehört hatte. Entweder war dieser Arnulf von Hartsteig ein sehr bescheidener oder ein sehr ehrlicher Mann, der wenig auf seinen Ruf zu geben schien.
Gamsbart räusperte sich. „Nun gut, solange wir nur zu zweit sind, werde ich dich so anreden, wie du es willst. Aber in Gesellschaft werden wir wieder förmlicher miteinander reden. Das verlangt alleine schon die Etikette.“ „Die was?“ Arnulf schien etwas verwirrt zu sein. „Die Etikette, die gesellschaftsrechtlichen Umgangsformen“, meinte Gamsbart erstaunt. „Lernt man so etwas denn nicht als angehender Ritter?“ Der Knappe legte den Kopf schief. „Opa hat immer gemeint, das braucht ein Bergritter nicht. Sei zu allen höflich, achte die Götter und das war es. Vielleicht hat mir Meister Barthalm noch was dazu beibringen wollen, aber das hab ich dann wieder vergessen. War sicherlich langweilig, genauso wie die Besprechung meines Knappenvaters beim Herrn Baron.“ Nun lief es Gamsbart eiskalt den Rücken hinunter. Wegen seiner kräftigen Statur und seinem direkten Auftreten hatte er ganz vergessen, dass Arnulf als Knappe eigentlich noch gar nicht richtig mündig war. „Die Besprechung beim Herrn Baron? Einen Moment, Arnulf. Seine Hochwohlgeboren oder Ritter Barthalm haben dir doch sicher die Erlaubnis gegeben, mich zu begleiten, oder?“ Grinsend schüttelte Arnulf den Kopf. „Nicht wirklich. Ich bin bei der Besprechung vor Langeweile nur fast immer wieder mit dem Kopf auf die Tischplatte geknallt. Das war Meister Barthalm etwas peinlich und als der Baron einen Boten zu Euch brauchte, hat er mich sofort dafür vorgeschlagen. War mir auch ganz recht. Ich weiß, dass diese Besprechung sicher recht wichtig für die Sindelsaumer Garde ist. Aber solche Dinge interessieren mich nicht wirklich. Ich bin weniger ein Mann des Rats als mehr ein Mann der Tat, so wie Ihr, Meister.“ Und mit diesen Worten gab er Gamsbart einen gutgemeinten Schlag auf die Schulter, wodurch sich dessen Gesicht kurz vor Schmerz verzog.
Dies wurde langsam immer schlimmer. Seine Frau war schon auf ihn sauer und jetzt, wo er auch noch ohne Erlaubnis diesen etwas einfach gestrickten Knappen mit sich genommen hatte, konnte ihm bei seiner Rückkehr durchaus ein doppeltes Donnerwetter drohen. Verdammtes Tulamiden-Essen, das hatte ihm etwas die Sinne und den Verstand verwirrt. Er atmete kurz durch und konzentrierte sich erneut. Dass Arnulf dabei war, konnte er jetzt eh nicht mehr ändern, aber je schneller sie Licht in diese Sache brachten, desto besser für ihn. Daher begann Gamsbart nun dem jungen Knappen zu erklären, was er sich davor schon alles überlegt hatte. Die Augen von Arnulf wurden immer größer und er meinte: „Beeindruckend, kein Wunder, dass der Baron Euch für diesen Fall wollte.“ Nun ging sein Blick in Richtung des großen Forstes vor ihnen. „Zur Lösung des Problems müssen wir also der Sindel weiter folgen und in den Wald hinein, oder?“ Gamsbart atmete tief aus und meinte: „Das befürchte ich. Aber der Baduarforst ist nicht so einfach zu betreten. Sein Unterholz ist dicht und meistens ist er auch sehr finster. Dazu gibt es viele Tiere in ihm, vielleicht sogar Bären.“ Diese Aussage schien Arnulf jedoch nicht abschrecken zu können und er meinte schlicht: „Keine Angst, ich werde mit allem fertig, was nicht viel größer ist als ein Bär. Schließlich bin ich schon mit meinem Großvater, meinem alten Herrn und auch Ritter Barthalm fertig geworden.“ Fassungslos starrte Gamsbart ihn an. „Die spinnen doch alle, diese Wengenholmer!“, dachte er sich nur.
Doch Arnulf hatte bereits seine wuchtige Axt gezogen und war mit großen Schritten in den Wald hineingestiefelt. Eiligst folgte ihm Gamsbart, denn er konnte ja nicht zulassen, dass diesem abenteuerlustigen Burschen noch etwas passierte. „Seid Ihr schon öfter hier im Wald gewesen?“, erkundigte sich Arnulf nach ein paar Schritten. „Nur hin und wieder, vor allem zum Pilzesammeln. Und einmal, als ich noch jünger war, hab ich gemeinsam mit deinem Herrn eine Räuberbande in dem Wald ausgehoben.“ Voller Begeisterung betrachtete Arnulf nun Gamsbart. „Ihr seid also ein Dorfwaibel, Waldläufer und Banditenjäger zusammen? Wahrlich ein beeindruckender Lebenslauf.“ Gamsbart verstand die Welt nicht mehr. Dieser Bursche sah in ihm Dinge, die weiter von der Realität nicht entfernt sein konnten. Doch er konnte ihm auch schlecht erklären, welche Art von Schauspiel sie damals vor den Augen des Sohnes des Fürstenhorter Landvogtes, Gisbrun von Treublatt, mit jener Räuberbande aufgeführt hatten. Daher versuchte Gamsbart schnell von diesem Thema abzulenken und stelle Arnulf ein paar belanglose Fragen zu ihm und seiner Familie. Der kräftige Mann bahnte ihnen nun mit seiner Axt einen Weg in das dichter werdende Unterholz und während er dann antwortete, konnte sich Gamsbart wieder einigermaßen sammeln.
Sie wanderten ein paar wenige Meilen entlang der Sindel gen Firun, als sich beiden ein natürliches Hindernis entgegenstellte. Zu ihren Füßen befand sich ein Zufluss zur Sindel, der direkt aus dem Wald zu kommen schien. Wahrscheinlich handelte sich sich hierbei um eine Art von Bachlauf oder flachem Kanal, den Gamsbart nicht kannte, geschweige denn, dass er auf einer Karte verzeichnet wäre. „Was machen wir jetzt, springen?“, erkundigte sich Arnulf bei ihm. Gamsbart betrachtete die Breite des Zuflusses und das hohe Schilf auf beiden Ufern. Mit einem ordentlichen Sprung würde man da sicher hinüber kommen. Ob er heute allerdings noch die Kraft hatte für einen solchen Sprung, wagte er zu bezweifeln. Er wollte sich nun auch keine Blöße geben und vor den Augen des Knappen mit dem Arsch im Wasser landen. Daher meinte er nur: „Lass uns den Zufluss entlang gehen. Er kann sicherlich nicht zu weit in den Wald führen. An einer schmaleren Stelle überqueren wir ihn und folgen dann weiter der Sindel.“ Arnulf nickte und meinte: „Dann ein kleiner Umweg in den Wald hinein. Soll mir auch recht sein.“ Gamsbart konnte sich zwar viel Schöneres vorstellen, als noch tiefer in den Baduarforst zu stapfen, aber es half nichts.
Unter Arnulfs Führung kamen sie ganz ordentlich voran und gemeinsam marschierten sie weiter in die Tiefen des Waldes hinein, immer Ausschau haltend nach einer Möglichkeit, um den kleinen Kanal neben sich trockenen Fußes zu überqueren. Die Sonne über ihnen begann bereits langsam zu sinken, was Gamsbart nicht gefiel. Ein im Weg liegender Ast zerbarst unter dem kräftigen Axthieb des Knappen und Gamsbart war froh, dass er an seiner Seite war. Trotz seines jugendlichen Alters schien dieser junge Bursche so etwas wie Angst gar nicht zu kennen. „Nur noch ein wenig weiter und dann werde ich ihn zum Umkehren überreden“, dachte sich der Dorfwaibel. „Schließlich haben wir nichts gefunden und beim nächsten Mal müssen wir uns besser ausrüsten. So ähnlich werde ich es ihm verkaufen.“ Vielleicht würde er dann auch noch einige Gardisten überreden können, sie zu begleiten. Mit diesen Gedanken rauschte Gamsbart direkt in den breiten Rücken von Arnulf, der urplötzlich halt gemacht hatte. „Was? Ist etwas?“ Verwirrt schritt Gamsbart an seine Seite und folgte dann dem Blick des Knappen. Etwas vor ihnen, seitlich der Sindel, auf einer wohl künstlich entstandenen Lichtung stand ein steinernes Gebäude, das der Dorfwaibel zuvor noch nie gesehen hatte. Die Lichtung, die bereits großteils wieder von der Natur zurückerobert wurde, sah so aus, als wäre sie einst durch menschliche Rodungen entstanden. Ein kleiner Kanal, der vom Fluss zu dem Gebäude gegraben wurde, diente wohl ursprünglich der Versorgung per Flusskahn. „Aber zur Versorgung von wem oder was?“, dachte sich Gamsbart verwirrt. Er hatte noch nie von einem solchen Gebäude gehört, schon gar nicht so tief im Baduarforst.
Gerade als er etwas sagen wollte, fuhr Arnulf zusammen, packte ihn rasch und machte einen Satz in die Richtung eines größeren Busches. Der Junge schien wahrlich scharfe Sinne zu haben, denn im nächsten Moment öffnete sich die verrostete Eisentür des Gebäudes und eine sich im fortgeschrittenen Alter befindende Frau trat heraus. „Das ist doch Korbrande Rauchstein“, meinte Gamsbart überrascht. „Was macht die denn hier?“ Die Frau sah etwas ausgemergelt aus und ihr Gesicht wirkte auf Gamsbart ziemlich verheult. Überrascht beobachteten die beiden, wie sie einen Art von Kessel mit sich zum Flussufer führte. Dort kippte sie den Inhalt hinein, welcher sogleich das Flusswasser etwas verfärbte und dann nach Praios floss. Anschließend schöpfte sie frisches Wasser aus dem Fluss. Danach begab sie sich wieder direkt zu dem Gebäude und verschloss die Tür hinter sich. „Das ist ja merkwürdig, was macht denn die gute Korbrande hier so alleine im Wald. Noch dazu schon so lange“, meinte Gamsbart flüsternd und Arnulf brummte: „Ich habe keine Ahnung, aber die Frau sah auf mich etwas gequält aus. Ich würde sogar behaupten, dass sie nicht ganz freiwillig hier ist.“ Gamsbart nickte, denn dasselbe hatte er sich auch schon gedacht. Seine Neugierde war geweckt und er meinte: „Schleichen wir uns mal zu dem Gebäude und schauen wir uns die ganze Sache einmal aus der Nähe an.“