Herr Ingerimm hat entschieden

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Ausgabe Nummer 41 - Efferd 1029 BF

Herr Ingerimm hat entschieden

Sephira Eisenlieb ist neue Hüterin der Flamme

Angbar. Während der Adel des Reiches nach Rudes Schild zog, um dort eine Kaiserin zu krönen, pilgerten Scharen von Gläubigen ins Eherne Angbar. Denn am 21. Tag des Feuermondes würde der Herr Ingerimm selbst entscheiden, wer als neuer Hüter der Flamme sein höchster Statthalter auf Deren sei.

Das Warten auf den großen Tag

Wegen der berühmten Warenschau waren die Angbarer Gasthäuser und Herbergen wie jedes Jahr schon gut gefüllt; der Strom der Pilger aber überschwemmte die Stadt am Grauen See vollends, und je näher der mit Spannung erwartete Tag rückte, desto größer wurde die Zahl der Laubhütten und Zelte, die auf den Wiesen vor der Stadt wie Pilze aus dem Boden schossen. Nicht nur aus dem Hügelland und den übrigen Gegenden des Kosch waren die Gläubigen gekommen, auch aus den Nordmarken, Almada und Andergast, sogar aus dem fernen Schlund, wo dem Herrn von Feuer und Erz große Verehrung entgegengebracht wird. Und so wurde in allerlei Mundarten, auf Garethi und auf Rogolan, darüber gerätselt, wer wohl die Nachfolge des großen Hilperton Asgareol antreten würde.

Dann endlich war der Tag gekommen, ein mildes Abendrot schmückte den Himmel, und schließlich stand der Horizont in purpur-, blut- und feuerroter Pracht. Das Glockenspiel vom Haus der Zünfte verkündete den Feierabend, und vom Tempel der Ewigen Flamme rief Baldarosch, der heilige Amboss, die Gläubigen zur Feuermesse.

Viele hundert Seelen haben Platz in der gewaltigen Halle, doch das Gebäude reichte bei weitem nicht aus, um alle, die herbeikamen, aufzunehmen. Längst schon sahen sich die Wächter gezwungen, das kupferne Portal zu schließen, da innen kein weiterer Platz mehr war, doch immer noch strömten Menschen und Angroschim auf den Platz der Ewigen Flamme. Hunderte waren es, Tausende — fast mehr noch als vor einem Jahr, als man den Meister Hilperton zu Grabe trug.

Der Einzug

Während der größte Teil der Gläubigen also unter freiem Himmel wartete, begann im Innern des Tempels die heilige Andacht. In feierlichem Zuge trat die Priesterschaft hervor aus dem Allerheiligsten in den Tiefen der Erde, allen voran Gevatter Ibralosch, Sohn des Igen, der Schürer der Flamme, und an seiner Seite Lorthax, Sohn des Loin, der Träger Des Steins. Hinter ihnen schritten die Geweihten mit den Totenmasken der früheren Patriarchen, gleich einer Ahnenreihe für den neu zu kürenden Hüter der Flamme. Schweigend und voll Ehrfurcht grüßten die Gläubigen das ehrwürdige Antlitz eines jeden, doch als zuletzt in der schier ewigen Reihe die Maske Meister Hilpertons erschien, tönte es von überall her: „Heilig!“, „Heilig!“ — solch große Verehrung genießt der tote Patriarch in seiner Stadt.

Alsdann schlug man acht Mal den heiligen Amboss, dann trat Gevatter Ibralosch hervor und wies mit großer Geste auf die Stirnseite der Halle, die in schwarzem Dunkel lag. „Erloschen ist die Esse, verwaist steht die Ragroscha“, sprach er leise, und doch für jedermann verständlich. Mit gewaltigen Worten rief er den Versammelten die schrecklichen Ereignisse des letzten Götterlaufes ins Gedächtnis, als das Schicksal Angbars und des Koscherlandes auf Messers Schneide stand. Als er geendet, sang die Gemeinde den Choral „Der du dem Erz gebietest“ und sprach das „Angrosch Vater“, das auch den Zwergen als höchste Anrufung des Gottes gilt.

Meisterliche Werke

Dann wurde es still; fast konnte man die Spannung und Erwartung der Versammelten mit Händen greifen. Aus den Reihen der Geweihten trat nun Obernax, der Meister der Esse zu Andergast, hervor. In seinen mächtigen Händen trug er einen gewaltigen Bihänder; dies war das Werk, an dem er seit dem Anbeginn des Mondes in den Gewölben des Tempels gearbeitet hatte, und nun war es vollendet. Feierlich legte er die Klinge in die erkaltete Asche der heiligen Esse.

Als zweiter trat Meister Ingban aus Gratenfels vor. Er trug als Gabe vier Hufeisen, von denen man nicht sagen konnte, aus was für einem sonderbaren Metall sie geschmiedet waren — Eisen jedenfalls war es nicht. Welche Wundertaten mochte ein Reiter, dessen Ross damit beschlagen war, vollbringen?

Während die Menge noch darüber staunte, löste sich aus der Reihe der Wartenden Brandula Korten aus dem fernen Al’Anfa. Bei ihrem Anblick ging ein merkliches Raunen durch die Gemeinde; denn die Meisterin aus den südlichen Landen hatte kupferfarbene Haut und kohlenschwarzes Haar, welches ihr mohisches Erbe verriet. Ihr Gewand war aus schillernder Seide und über und über mit Perlen besetzt. In Händen hielt sie einen Schild, in dessen Mitte Ingerimm am Amboss stehend abgebildet war, umgeben von seinen göttlichen Geschwistern, die alle eine Gabe von ihm empfingen: Herr Praios einen güldenen Bannstrahl, Frau Rondra Wehr und Waffen, Herr Efferd den Dreizack und so fort bis hin zur Schönen Göttin, welcher der alveranische Schmied einen prunkvollen Weinkelch reichte. Ungläubiges Staunen über dieses meisterliche Werk, welche das Walten des Gottes so unvergleichlich vor Augen führte, erfasste die frommen Betrachter. Und auch dieses wurde in die schlafende Esse gelegt.

Von sieben weiteren Werken ließe sich berichten, alle nicht weniger schön, nicht weniger kunstvoll und wert des höchsten Lobes — doch nur eines konnte vor Ingerimms prüfenden Augen bestehen. Und fast alle, die aus dem Kreise der Geweihtenschaft zur Esse traten, waren Tempelobere und Äbte, denn nur selten hält sich ein Geselle Ingerimms für würdig, und noch seltener geschieht es, dass ein solcher in das Hüteramt berufen wird.

Die letzte in der Reihe aber trug die schlichte Tracht der einfachen Geweihten, und ihr Name, Sephira Eisenlieb, war kaum jemandem in dieser Halle bekannt. Ihre Gabe an den Herrn war ein erzenes Kriegshorn, wie man es in Wengenholm und bei den Zwergen oftmals findet.

Inzwischen war die Glut der Kohlebecken in der Halle schwächer und schwächer geworden und schließlich ganz erloschen; dunkel wurde es und still. Doch in die Stille und die Dunkelheit hinein drang plötzlich das Wort der Macht, die nur der Schürer der Flamme besitzt, und jäh erwachte das Feuer in der heiligen Esse, das ein Jahr lang geschlafen hatte: Herrn Ingerimms Macht erfüllte die Halle mit gleißendem Brand; geblendet von dem hellen Schein senkten alle die Blicke zu Boden. Doch als das Element zur Ruhe gekommen und zu einer mildroten Glut herabgesunken war — siehe! da waren alle die herrlichen Werke in der Esse geschmolzen und für immer vergangen. Bis auf eines.

Ingerimms Wahl

Sephira Eisenlieb © M. Lorber

Draußen auf dem Platze war es dunkel geworden; das Abendrot war einem samtenen Blau gewichen, doch noch immer standen die Gläubigen und blickten in frommer Erwartung auf den großen Schlot des Tempels. Da, mit einem Male züngelten Flammen empor in die Nacht — die Feuerprobe hatte begonnen. Doch lange Zeit regte sich nichts, das Portal des Tempels blieb geschlossen. Schon ging ein Raunen durch die Menge: War niemand würdig genug, die Nachfolge Hilpertons anzutreten? Sollte die Flammende und Erz-Kirche noch länger ohne Oberhaupt bleiben?

Da endlich wurden die Wartenden erlöst — acht Mal hörte man Baldaroschs dumpfen Schlag, und mit jedem Schlage flammte auf der Spitze einer der acht Feuersäulen eine helle Flamme auf, bis der ganze Platz in rotes Licht getaucht war. Das Tor des Gotteshauses tat sich auf, und hervor trat der Schürer der Flamme mit der Geweihten Sephira Eisenlieb, doch sie trug weder das Gewand noch die Insignien des Hüteramtes. Was war geschehen? Ein Murmeln ging durch die Menge, Rufe wurden laut — bis Gevatter Ibralosch die Hand hob und damit Ruhe gebot.

„Angrosch o’brakalon! Ingmarosch brakolan! Ingerimm hat entschieden!“, verkündete er nach uralter Sitte auf Angram, Rogolan und in der Menschensprache. „Sephira Eisenlieb ist Hüterin der Flamme.“ — Jubel wollte aufbranden, doch nun gebot die Geweihte Stille: „Der Herr hat mich erwählt, groß ist seine Gnade“, sagte siemit ruhiger, fester Stimme, „doch noch kann ich das hohe Amt nicht antreten, das heilige Gewand nicht anlegen, mich nicht die Hüterin der Flamme nennen. Denn was wäre eine Hüterin der Flamme, wenn sie nicht an diesem Tage, am Tag der Meisterschmiede, die Meisterklingen segnen würde?“

„Das ist wahr, das kann sie nicht“, murmelten einige, die rasch begriffen, worauf das hinaus wollte. Doch viele der Fremden und Zugereisten verstanden nicht, bis Gevatter Ibralosch erneut das Wort ergriff und es erklärte: Seit vielen, vielen Jahren ist nämlich es Sitte, dass am Tag der Meisterschmiede, dem 21. Ingerimm, die besten Stücke durch das Oberhaupt der Kirche geschliffen und gesegnet werden, wonach sie das begehrte Zeichen ING XXI tragen dürfen. Dazu bedarf es jedoch des Schleifsteins der Heiligen Ingrimiane. Zwar besitzt diese Reliquie eine besondere Kraft, doch wie jeder Schleifstein nutzt auch dieser sich mit den Jahren ab; ist er nach vielen Götterläufen dann zu einem unbrauchbaren Kiesel geschrumpft, muss man diesen an einem bestimmten Hang des Greifenpasses herabrollen lassen, so dass er den Weg zu einem neuen Stein zeige. Vor etwas über einem Jahr, also kurze Zeit vor Meister Hilpertons Tod, war dies geschehen, doch sonderbarer Weise war es damals nicht gelungen, einen Ersatz für das wichtige Artefakt zu finden. Im Nachhinein sehen viele darin ein Vorzeichen für die Katastrophe, die den Kosch heimsuchte, und für den Tod des alten Meisters. Aber auch in all den Monaten danach hatte sich kein neuer Schleifstein finden lassen. Also sollte dies nun im wahrsten Sinne des Wortes der Prüfstein für die neue Hüterin der Flamme werden.

Die erste Queste der Erhabenen

So kam es, dass Sephira Eisenlieb bereits am andern Morgen, nur von wenigen Geweihten begleitet, in Richtung Greifenpass aufbrach. Die Bürger von Angbar und all die fremden Pilger aber standen entlang der Straßen, die vom Tempel zum Stadttor führten, und jubelten und winkten und riefen der Erhabenen „Glück auf!“ zu.

Für Tage und Wochen hörte man nichts mehr von der Hüterin und ihrem Gefolge; und als der Rahjamond mit schwarzem Gewölk, Blitz und Donner zu Ende ging, ergriff die ganze Stadt große Sorge, und man sandte eiligst Kundschafter aus, welche nach dem Verbleib der Hochgeweihten forschen sollten. Doch die Zeit verging, ohne dass man Botschaft erhielt, und die Namenlosen Tage über standen doppelt so viele Wächter und Posten als sonst auf den Türmen der Stadt.

Dann aber, am letzten Tag des Jahres 1028 BF, erklang vom Turm des Gratenfelser Tores her das Wächterhorn mit solcher Macht und Freude, dass jedermann das Haus verließ und auf die Straße eilte. Und wirklich, dort auf der Reichsstraße, näherte sich Sephira Eisenlieb mit ihrem Gefolge, und sie führten auf einem kleinen Wagen den neuen Schleifstein mit sich. Da ließ der Stadtrat gegen jeden Brauch an einem Namenlosen Tag das Stadttor gänzlich öffnen (und nicht nur das Mannloch für verspätete Reisende), und die Geweihtenschaft, der Rat der Zünfte und alle Bürger zogen der Erhabenen entgegen. So betrat Sephira Eisenlieb am letzten Tag des alten Jahres das Eherne Angbar, und am ersten Praioslauf des Jahres 1029 BF wurde sie in aller Pracht und Herrlichkeit zur Hüterin der Flamme, zum Oberhaupt der Kirche des Herrn Ingerimm zu Angbar, erhoben.

Karolus Linneger