Etiliens letzter Wandelgang

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Ausgabe Nummer 11 - Ingerimm 1017 BF

Etiliens letzter Wandelgang

Still lichteten sich die Morgennebel als ein grau überhauchter Schleier, die den basaltschwarzen Rabenfelsen inmitten der Fluten des Stromes wie ein zarter Mantel umwoben hatten.

Mächtig brach das Licht von PRAios’ aufsteigendem Sonnenwagen zwischen den schattenhaft daliegenden Gipfeln des Ambosses hervor, die, von Hängegletschern gleich Gischtkronen geziert, an riesige, südwärts stürzende Wellen gemahnten.

Gleich dem Großen Fluß, der sich windet und wendet wie eine spröde Schöne, war die Koscher Bergwelt eine stille Geliebte, die sich scheu jedem Annäherungsversuch zu entziehen schien.

Wer jedoch erst einmal ihr Spiel durchschaut hatte, der wurde von der sich nach und nach enthüllenden Schönheit geradezu verwöhnt.

Jäh durchdrang das Gewimmer des Armesünderglöckleins vom hohen Rabenturme die Idylle der morgendlichen Taufrische.

Boronsstunde — die Zeit, da das klösterliche Leben zu Garrensand erwachte und da man die Mönche zum Frühgebet rief.

Allein der zur Torwache abbeorderte Golgarit war von dieser Pflicht entnommen, just strich er sich den Schlaf aus den Augen, als der vermehrte Hufschlag vom Torweg her der Wache Aufmerksamkeit einforderte.

Der Rabendiener dreie waren es, die sich allem Augenschein nach auf der Brücke näherten, der treue Torwächter straffte sich und rief die Ankömmlinge mit fester Stimme an: „Halt! In des Herrn BORons Namen, erkläret Euch, Brüder im Glauben! Eure Namen und Euer Begehr, ehe wir Euch Einlaß gewähren in diese Klostermauern nach der Ordnung des Hl. Golgari!“

Der Fürderste der Dreie, der ein edles weißes Tulamidenroß ritt, und der mit der dunklen Robe der Boronis angetan war, schlug die Kapuze zurück, die bis eben sein edles Antlitz beschattet hatte. Kaiser-Alrik-Bart und Eslamszöpfchen wollten nicht recht in diese Gegend passen.

Zur Mittagszeit des gleichen Praioslaufs, da der Herr der Schatten kunstvolle Zinnenmuster auf den Boden des Säulenganges warf, schritten ebendort andachtsvoll Seite an Seite einher, Lucardus von Kémet, der Gründer und Großmeister des Ordens der Golgariten, und der höchliche Gesandte des erhabenen Rabens von Punin, dessen Ankunft man allhier schon lange erwartet und herbeigesehnt hatte.

„Es dauert Uns zu hören“, hub der Großmeister an, dessen Züge wie stets unter der geheimnisvollen güldenen Maske verborgen blieben, „daß Eure Reise beschwerlich und mit allerlei Unbillen verbunden war.“

Der Gesandte nickt: „Hoch droben auf dem Paß, wohl unweit der Amboßwacht, prasselte der Hagel gleich einem Schwarm kristallener Bienen auf Uns herab.“

„Der Kosch ist nicht Almada!“ entgegnete der Großmeister ungewohnt verschmitzt.

„Nichtsdestominder überbringen wir Euch die Grüße und besten Wünsche des Erhabenen, der zur Zeit leider etwas unpäßlich ist. Dennoch wurden Eure Gesuche betreffend der Heiligsprechung der Märtyrer Kalmun und Kalchas mit vollster Gewogenheit aufgenommen. Doch dies wißt Ihr bereits, und es zu verkünden, ist nicht der eigentliche Grund Unseres Besuches …“

Der Gesandte brach ab zu einer bedeutungsschweren Pause. Er war ein Meister der Rethonik. Der Großmeister wandte sich dem jungen Manne zu, von dem es hieß, daß ihm die Gunst einer Rahjasnacht mit der trahelischen Boronskönigin Peri zuteil geworden war (wie weiland im Av. Boten Numero 34 berichtet), derweilen er mehr und mehr zur rechten Hand des Erhabenen Bahram Nasir heranwuchs.

„Jene Schatulle“, fuhr der junge Hüter des Raben endlich fort, und zog eine ebenhölzernes Kästlein aus den Falten seiner Robe hervor, „birgt eines der größten Heiligtümer, ja vielleicht die bedeutsame Reliquie des geistlichen Kultes, das Kleinod des Tempelschatzes zu Punin.“

Er blickte den Ordensgroßmeister lange und tiefgründig an, und öffnete dann behutsam den Deckel der mit schwarzem Samt ausgeschlagenen Schatulle, die drei zierliche weiße Finger- und ein Schlüsselbeinknöchelchen barg.

Lucardus von Kémet ward aschfahl hinter den Augenlöchern der Maske und wankte rückwärts, ehe er in tiefster Anmut niederkniete und das Haupt beugte: „Si-sind das die Gebeine der Hl. Etilia?“

Der Hüter des Raben nickte: „Die sterblichen Überreste derjenigen, der der Herr BORon seine bleiche Tochter Marbo in den Schoß legte. Gepriesen sei der Herr!“

Der Großmeister nickte bestätigend. „Aber wieso brachtet Ihr sie hierher? Hunderte pilgern Götterlauf um Götterlauf nach Punin, allein ihretwegen!“

„Darunter leider auch solche, die anderes im Sinn haben, als sich vor dem Altar des Ewigen Schlafes ins Selbst zu versenken — al’anfanische Häretiker per exemplum, die nicht Diebes noch Freveltat scheuen, da sie uns den Besitz der Reliquie neiden, wiewohl sie sich schon den hl. Stab des Vergessens widerrechtlich aneigneten. Um Etiliens Gebeine der Entweihung durch Unwürdige zu entziehen, brachten Wir sie hierher, hinter die starken Mauern Garrensands, wo sie fürerst durch Euren Orden sicher verwahrt sein mögen. So aber lautet der Wille des Herrn!“

Lucardus von Kémet empfing die Schatulle mit dem Heiligtum. „Dann sei es!“