Der Angbarer See

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Ausgabe Nummer 11 - Ingerimm 1017 BF

Unser Kosch (Teil VIII): Der Angbarer See

„Gibt allzeit fein acht, wenn‘s übers Wasser geht, und danke den Götter, wenn‘s sich vermeiden läßt. Efferd ist zumeist ein freundlicher Gott, ohne dessen Gaben auch Peraine Fruchtbarkeit die Pflänzlein allüberall nicht nähren könnte, doch wehe! wenn der Herr des Wasser gereizt wird. Gedenke der Fluten, die das alte Havena unter sich begruben! Denn launisch ist der Gott, und so kann sich ein ruhiges Wasser urplötzlich in eine wilde See verwandeln. Selbst wenn eine Furt dir sicher scheint — zuweilen harren grad dort tückische Flußgeister, um den ahnungslosen Wanderer, der sich bereitwillig knietief ins Wasser begeben hat, vollendens ins Verderben zu ziehen.

Je größer das Gewässer, desto übler’ Brut hauset bekanntlich in seinen Tiefen. Man denke nur an den verfluchten Neunaugensee, oder gar die schreckliche Schlange Hrangaar, von der selbst die wilden Piraten des Nordlandes erzittern. Einzig in unserem guten Mittelreich ist’s nicht so grimm wie anderortens, und so sieht man bei der Stadt Angbar gar die so wasserscheuen Zwergsleute eifrig die sanften Fluten des dortigen Sees befahren.“

(„Wenn Du einst eine Reise tust… Hilfreicher Führer für die wanderlustige Jugend,“ von Gevatter Ugdan Laibrecht dem Weitgereisten, Warunk, 2 Reto)

„Der Angbarer See. Unendliche Weiten, Dies ist das Einsatzgebiet des Fährschiffs Rohalsamt, das mit seiner Mannschaft täglich unterwegs ist, Waren zu transportieren, Menschen von Ufer zu Ufer zu bringen — das zu tun, was niemand zuvor tat…“

(Ausrufer, die neue Schiffsverbindung zwischen Vinansamt und Rohalssteg anpreisend, 17 Hal)

„Noch gar nicht so lange ist es her, daß die Koscher Hauptstadt Angbar zu Zeiten Kaiser Retos an das Netz der Reichsstraßen angeschlossen wurde. Daher ist den jungen Sprößlingen der Adeligen und Wohlhabenden der Umgebung seit jeher ihr schnittiges Segelboot das, was in anderen Provinzen die Zwei-, Vier- oder gar Sechsspänner der übermütigen Jugend darstellen. Seit einigen Jahrzehnten nun vergnügt sich die junge Generation bevorzugt bei Tagesausflügen auf den See, die meist von einem einfachen, aber herzhaften Bankett in einem der zahlreichen am Ufer liegenden Gasthöfe gekrönt werden.

Besonderer Beliebtheit erfreut sich dabei offenbar der in der Nähe der Vinansamter Fährstation gelegene „Prinz von Gareth“ des Almadanis Shlingain Vielenbelt. Gesellschaftliche Höhepunkte sind aber ohne Zweifel die Festbälle, zu denen Graf Orsino von Zeit zu Zeit auf seine Residenz Grauensee einzuladen pflegt — verkörpert doch Seine Hochwohlgeboren für die jungen Landadeligen unbestritten den Inbegriff des „feinen Garether Lebens“.

Die Rückfahrt — meist zur Phexenszeit — wird dann allen Beteuerungen entgegen zu einem Betreiben genutzt, welches wohl allenfalls rahja-, nicht aber traviagefällig genannt werden kann, und wohl auch das Mißfallen der älteren Generation erregt.

(Nach einem Traktat Hochwürden Ulabeths vom Pfade, veröffentlicht im Kosch-Kurier Nr. 2, 19 Hal)

Oft wird er poetisch als „Saphir des Kosch“ bezeichnet, und, wahrlich, dem Betrachter, der den Angbarer See aus der Ferne oder gar von einem Berggipfel aus schaut, wie er sich — trotz seiner Größe — zwischen Hügeln und Wäldern in allerlei Buchten schlängelt, dem will er wie ein kostbarer Edelstein erscheinen, so glänzt er unter Praios Antlitz. Aber im Gegensatz zum freundlichen, blauen Wasser der Sommermonate leidet die Schiffahrt (und beileibe nicht nur diese!) im Herbst oft unter sogenanntem „Phexwetter“. Wenn große, dichte Nebelbänke die Orientierung zu einem Glücksspiel machen, kann der Schiffer durch das Grau manchmal nicht einmal das andere Ende des Kahns sehen. Oft genug navigieren erfahrene Bootsleute dann einfach nach Gefühl und der gottgegebenen „Efferdsnase“ des echten Schiffers.

Wirklich tückisch wird der See aber erst während Firuns eisiger Herrschaft: Zwar geschieht es nur selten, daß „der große Graue“ einmal gänzlich zufriert. Doch oft genug bildet sich ein gefährliches Gewirr dünner Eisschichten und trügerischer Schollen, zu denen sich bei Tauwetter noch allerhand anderes Treibgut gesellt. Lacht jedoch einmal Praios’ Antlitz vom Himmel, so kann es vorkommen, daß der See gerade bei bitterer Kälte ein freundliches Gesicht zeigt. Dann will ein jeder den düst’ren Wintersinn vertreiben, so daß sich an manch sonnigem Firunstag halb Angbar auf dem Eise tummelt : die jungen Burschen laufen auf ihren untergeschnallten Kufen um die Wette und tun ihr Bestes, um von den Bürgerstöchtern ein Lächeln zu erheischen, und nicht wenige gesetzte Handwerksmeister lassen sich mit ihren Zunftgenossen auf ein Schneeballgefecht ein.

Im Westen erheben sich die Höhen der Kosch-Berge, unter ihnen der auch des Sommers stets schneebedeckte Dotz. Doch so trutzig sie aufragen, die Gipfel fallen zu Hügeln ab, um sich schließlich als saftige Wiesen und Auen dem Wasser anzunähern. Dazwischen finden sich aber immer noch steil aufragende Felsen und zum Teil gigantische Findlinge aus Urzeiten. Splitter, die Ingerimms Amboß beim Aufprall aus dem Gebirge schlug, sind es für die Zwerge; viele Menschen sehen sie hingegen (zumal in Ufernähe) als gewöhnliche Klippen an.

Echte, zusammenhängende Steilküste hat aber nur die große Landzunge bei Riekdorf an der Rahjaseite vorzuweisen (obwohl auch Angbar auf felsigem Grund erbaut ist). Wohl ein Dutzend Schritt und gar noch höher ragen dort die stets sonnenbeschienenen Felsen über dem Wasser auf. Der Sprung hinunter ins kühle Naß ist für die Jugend der umliegenden Dörfer Mutprobe und Vergnügen zugleich. Die kleinsten und dennoch bekanntesten sind die Formationen am Rohalssteg — der Sage nach von dem großen Magus in Stein gebannte Geschöpfe der Finsternis.

Am Ostufer des Sees reichen Falkenhag und Gormeler Grün, zwei dichte Wälder, oft bis ans Ufer heran und verleihen ihm einen beinahe gänzlich anderen, urtümlicheren Charakter. Bis vor einigen Jahren sollen hier noch ganze Banden Gesetzloser ihre Verstecke gehabt haben und arglose Schiffer mitten auf dem See überfallen haben, obschon das Wasserschloß des Grafen von Falkenhag nur wenige Meilen entfernt liegt. Auch der Braune Etzo, ein Bär von gewaltiger Größe, trieb vor nicht allzu langer Zeit hier sein Unwesen. Glücklicherweise gehören solche Bedrohungen der Vergangenheit an, seit die Reiter des Grafen die berüchtigte Feniya Säckelschlitz und ihre Bande ergriffen und diese zu Angbar öffentlich dem Blutgreven überantwortet wurden.

Zwischen den beiden Ufern liegen etliche Inseln, von denen jedoch lediglich die zwei größten von besonderem Interesse sind. Wer sich Nispe nähert, kann schon von weitem den kleinen Hafen von Ibek erkennen, über dem sich — im Dreieck angeordnet — die spitzen Türme einer Burg erheben. Das Stammhaus der Junker vom See hat aber wie der Ort sicherlich schon bessere Zeiten gesehen. Einst, als von hier die gesamte Grafschaft beherrscht wurde, hatte Ibek wohl ein Vielfaches seiner gut 200 Seelen zählenden Einwohnerschaft. Wer dagegen heute auf Ibek landet, fragt sich ob im Volksmund „die drei Schwestern“ genannte Feste wirklich noch „3 mal 3 mal tausend Winter“ stehen werden, wie es die Inschrift über dem Tor verkündet.

Auf Pervalia, dem zweiten Eiland von einiger Bedeutung, finden sich noch deutlichere Zeichen des Verfalls: Von verrotten Planen abgedeckt, vermodert hier eine ganze Flotte von kleinen Galeeren. Niemand geringeres als Kaiser Perval, der sich selbst den „Ritterlichen“ nennen hieß, ließ diese Armada im Jahr seines Todes erbauen.

Der altgewordene Herrscher war von jeher von Seekampf fasziniert. Schnelle Biremen, waghalsige Entermanöver und mörderischer Geschützhagel hatten es ihm angetan. Nachdem er sein Leben lang Schlacht um Schlacht geschlagen und doch nie die Decksplanken unter seinen Füßen gespürt hatte, wollte in seinem Leben wenigstens einmal ein solches Gefecht mit eigenen Augen sehen. Die weite Reise an die Meeresküste konnte der holzbeinige Monarch nicht mehr auf sich nehmen — so erfreute er sich in seinen letzten Jahren an nachgestellten Schlachten auf dem Angbarer See.

Nach dem Tod seines Vaters entdeckte später sein Sohn Bardo die Insel und ließ den „Gefechtsstand“ zu einem Pavillon ausbauen, die Kriegsschiffe zu einer Lustflotte umwandeln. Einen Sommer lang erlebten die erstaunten Koscher, wie die Garether Hofgesellschaft auf ihrem See ein rauschendes Fest nach dem anderen feierte und schon im nächsten Götterlauf hatte der kaiserliche Herr das Interesse wieder verloren, und auch Pervalia fiel dem Vergessen anheim.

An der Südspitze des Sees läuft der ohnedies schon finstere Wolventhaler Wald in eine seltsame, teils sumpfige Region aus, die man gemeinhin den Stillen Grund nennt. Zackige Felsbrocken ragen aus dem flachen Wasser auf, die Grenzen zwischen überschwemmten Land und Niedrigwasser sind nicht nur im Frühjahr fließend. Mückenschwärme stürzen sich auf den Fremdling, der Mühe hat, sich trockenen Fußes durch die Wildnis zu bewegen.

Hält man auf Vulpurg zu, ist man unversehens in einem dichten Schilfbestand gefangen, der das Durchschiffen beinahe unmöglich macht, aber auch keinen festen Boden bietet. Bewohner in den umliegenden Dörfern munkeln von einer alten Schlacht, die sich dereinst dort zugetragen haben soll, berichten von seltsamen Lichtern und Gestalten. Einig ist man sich im jedem Fall, daß der Stille Grund kein Ort für brave Koscher ist.

Ganz in der Nähe sollen in unterseeischen Dörfern die geheimnisvollen Noggen leben, otterähnliche Wesen, etwa von der Größe eines Goblins, den Menschen und Zwergen durchaus freundlich gesinnt, aber doch sehr scheu. Allerdings hatte noch nie ein Gelehrter das Glück, eines der Wesen zu erblicken (die vorhandenen Berichte stammen ausnahmslos von Kindern, Greisen oder Trotteln), so daß man an ihrer Existenz berechtigte Zweifel haben kann. Der weitgereiste Hesindegeweihte Selphyr Sunderglast verwies jedoch unlängst auf einen möglichen Zusammenhang mit den in bornländischen Sagen beschrieben Ottermenschen.

Ansonsten aber hat der Angbarer See, der Nüchternheit seiner Anwohner angemessen, wenig Unheimliches oder gar Bedrohliches an sich. In alten Zeiten jedoch, als die Übergänge zwischen den Welten noch für jeden offen standen, der nur den Mut zum Träumen aufbrachte, habe es noch ein weiteres Eiland im See gegeben, das Riolyn-Anur geheißen wurde — die Heimstatt des Lichtvolkes, bevor es den Kosch auf ewig verließ, so erzählt man. Und noch heute soll in den letzten Nächten des Perainemondes zuweilen ein seltsamer Glanz über dem See liegen, der jene Stelle markiert….

Es recherchierte: B.d.J.