Jungvögelein
Wolfhardt von der Wiesen: Jungvögelein
Die Jungfer Alma war ein Weib,
Wie ich es nie gesehn:
In langen Locken braun das Haar,
Sie ließ im Wind es wehn;
Die Äuglein blau wie See und Fluß,
Der Mund wie Morgenrot,
Er lockte lächelnd wie zum Kuß —
Das brachte ihr den Tod.
Es war an einem Praiostag
Zur morgendlichen Stund’,
Als alles Volk zum Tempel ging
Und saß im heil’gen Rund.
Da kam ein junger Wandersbursch
Daher mit Stab und stock,
Der pfiff auf seiner Flöte froh
Und trug ein’ bunten Rock.
Es war ein Vogelfängermann,
Der durch die Lande zieht;
Manch Vöglein in dem Käfig hat,
Damit’s ihm nicht entflieht.
Die Leute sahn’s mit bösem Blick.
Und wandten schnell sich fort,
Denn so ein Kerl fängt Vöglein sich
Im Walde wie im Ort.
Doch pfiff der Bursche hell sein Lied
Und lockte Auf’ und Ohr,
Da kam aus ihrem Kämmerlein
Auch Jungfer Alma vor.
Er zeigt ihr manches Vogeltier
Und wunderliches Ding,
Sie flocht aus Blüten einen Kranz
Und schenkt’ ihm diesen Ring.
So kam es denn, daß Federbalg
Und Blütenkelch vereint,
Denn beide finden sich gar schnell,
Wenn keiner es verneint.
Im hohen Gras, am Lindenbaum,
Bei Vogelmelodein,
Da gab sich Maid und Wandersmann
Ein heimlich’ Stelldichein.
Doch pfiff ein Spatz es laut vom Dach,
Daß es der Vater hört,
Fand seinen Weg zum Lindenbaum
Und hat sie dort gestört.
Frau Travia schrie ihm in der Seel’.
Er packte einen Stein,
Den schleudert’ er mit großer Wucht
Auf Bursch und Töchterlein.
Den Zürnenden floh schnell der Strolch
Und ließ sein Gut zurück.
So sah er nicht, was angericht’
Des Vaters Mißgeschick.
Im hohen Gras, am Lindenbaum,
Umringt vom Federkleid,
Lag blutend und mit starrem Aug’,
Frau Alma, seine Maid.