Die Zweite Neufarnhainer Tafel - Gescheiterte Mission
Zur gleichen Zeit weiter östlich im Sumpf starrte Rainfried angestrengt in die Nebelschwaden. Täuschten ihn seine Sinne oder hatte er gerade tatsächlich ein Licht gesehen? Das war die beste Spur, die sie seit Stunden hatten... langsam ging er einige Schritte vor in Richtung des Lichtes; seine Füße trugen ihn gut. Als Rambox wahrnahm, wie sich sein Schützling von der Gruppe entfernte, reagierte er schnell wie der Blitz.
"Herr, nein!", schrie er und erreichte damit, dass alle anderen zusammenzuckten ob des plötzlichen Lärms. Der Angroschpriester bewahrte hingegen Ruhe und stellte sich neben Alma, während Olgosch versuchte, die Lage zu überblicken und festzustellen, ob ihnen Gefahr drohte. Auf den ersten Blick regte sich nichts in ihrer unmittelbaren Umgebung.
Rambox zerrte an Rainfrieds Arm.
"Vorsicht! Das ist ein Irrlicht!"
Mit den Worten des Angroscho war der Bann gebrochen. Der Grimsauer blickte fassungslos in das Gesicht seines Gefährten, bis er nach einigen Momenten wieder ganz bei sich war.
"Hab vielen Dank! Wie töricht von mir."
"Das hat nichts mit Dummheit zu tun. Diese Sumpflichter sind tückisch."
Beide beeilten sich, um zu den anderen dreien aufzuschließen. Als sie eben erleichtert ausatmeten und die Anspannung sie verließ, ertönte ein lautes Knurren. Es war keine zehn Schritt von ihnen entfernt, so schien es zumindest - der verflixte Nebel schluckte die Geräusche, es mochte sogar noch näher sein! Und da sahen sie es: Ein gewaltiger Schatten, dessen Umriss entfernt an einen großgewachsenen Mann erinnerte, tappte mit schweren Schritten durch das Moor!
Alma schrie entsetzt auf und klammerte sich instinktiv an Dwarrosch. Rainfried und die beiden anderen Zwerge zogen ihre Waffen. Die jahrelange Übung bewirkte, dass sie nicht in Panik verfielen. Schnell stellten sie sich schützend vor Dwarrosch und Alma. Rainfried streckte die Fackel dem Ding entgegen, so als ob er es damit vertreiben könnte.
Da stimmte Dwarrosch einen Lobgesang auf Angrosch an.
”Väterchen Angrosch, Du guter Schmied, Schöpfer so prächtiger Werke, Väterchen Angrosch, mit diesem Lied, preisen wir Deine Stärke...”
Alma, die schon angefangen hatte zu weinen, sang sofort beim ersten Refrain mit, und auch die anderen fielen mit ein. Das unheimliche Ding schrie wie vor Zorn oder Schmerz und entfernte sich schnell. Noch geraume Zeit danach standen die Gefährten auf der Stelle und lauschten, bevor sie sich schließlich auf den Rückweg nach Neufarnhain machten.
Schaurig muteten die blanken Gebeine des Gehenkten an, der am Rande der Siedlung an einem der unzähligen Äste einer stämmigen Buche hing und im auffrischenden Wind sanft hin- und herpendelte. Von seinem Platz aus grinste er aus hohlen, dunklen Augenhöhlen auf Reto und Erborn hinab, die ihn auf ihrer Erkundung des Ruinenfeldes als erste entdeckt hatten. Teils erleichtert, dass die Bewegungen, die die zwei Gefährten von weitem wahrgenommen hatten, zu nichts Schlimmeren gehörten, teils erschrocken, dass ein Straftäter – denn nur um einen solchen konnte es sich handeln, wer würde sonst in dieser Einöde sein Leben durch den Strang verlieren? – so lange Zeit unbegraben für seine Schandtaten büßte, betrachteten sie still und in sich versunken das Gerippe, während hinter ihnen der Nebel weiter zunahm.
Dieser war in der Zwischenzeit so dicht geworden, dass es Edelbrecht und Etosch, die aus einem weiteren Haus traten, schwerfiel einander noch zu erkennen. Unter seinem linken Arm hielt der Borkinger einen großen, verschlissenen und eisenbeschlagenen Folianten, den Etosch aus den Überresten eines Regals hervorgezerrt hatte. Bei Durchsicht der eng beschriebenen Seiten, hatte Edelbrecht kein Wort verstanden, schließlich war alles in einer ihm gänzlich unbekannten Sprache verfasst, wenngleich sich diese der Kusliker Zeichen bediente.
Für den Vorschlag Etoschs, das Buch Danja zu zeigen, die damit bestimmt etwas anfangen könne, hatte Edelbrecht nur eine abfällige Handbewegung übrig gehabt. Er würde den Namenlosen tun und dieser zwielichtigen Magierin auch noch freiwillig ein womöglich gefährliches Zauberbuch aushändigen. Nein, er wusste schon, wen er zu gegebener Zeit einen Blick darauf werfen lassen würde, doch vorerst sollte niemand von diesem Fund erfahren. Also verstaute er das Buch in seinem Bündel und stapfte zur Dorfmitte.
Hier hatten sich bereits Roban und Danja eingefunden, nachdem Roban die kleine Tonflasche an seinem Gürtel zur Gänze geleert hatte. Nun standen sie beide an einem gemauerten Brunnen, den einst ein kleines hölzernes Dach beschirmt hatte, von dem jetzt allerdings lediglich zwei abgebrochene Stangen übrig geblieben waren. Soeben betätigte Roban die Kurbel, die sich nach all den Jahren, die seit ihrer letzten Nutzung verstrichen waren, erstaunlich leicht bewegen ließ.
”Habe ich es mir doch gedacht”, schnaufte der Grobhänder ”das Seil ist gerissen und der Eimer, der hier eigentlich dran gehört, liegt sicherlich algenbewachsen oder bemoost am Grund.”
”Wenn der Brunnen denn überhaupt noch Wasser führt”, warf Danja ein.
”Richtig”, erwiderte Roban, ”eben das will ich herausfinden. Denn, ob du’s glaubst oder nicht, ich habe immer noch Durst, und ehe ich mich mit trockenem Mund hier durch die Einöde schleppe, bin ich auch bereit, abgestandenes Moorbrücker Brunnenbrackwasser zu trinken.”
”Wenn du mich wenigstens einen Abvenenum wirken ließest, um eine mögliche Infektion zu präventieren.”
”Ja, ja, wie du meinst”, brummte der Krieger, band sein Tonfläschchen an das Seil und ließ es mit der Winde herab. ”Kannst diese Inflation abeventieren, wenn ich die Pulle wieder oben habe!”
- KLONK –
”Grmpfh, also kein Wasser”, stellte Roban lakonisch fest. Dennoch, das Geräusch hatte ihn stutzig gemacht. Es klang nicht so, als sei das Fläschchen auf Stein oder Erde aufgekommen. Er beugte sich über den Brunnenrand und spähte nach unten. Danja runzelte die Stirn und tat es ihm dann aber gleich.
”Kannst du etwas erkennen”, fragte sie.
”Nein, alles dunkel”, gab Roban zurück ”aber irgendetwas ist da unten und ich will jetzt wissen was.”
Dann überlegte er kurz und griff entschlossen nach dem Seil. Noch ehe ihn Danja daran hindern konnte, war er auf dem Weg nach unten. Die Brunnenwände fühlten sich kalt an, waren aber weniger glitschig als er gedacht hatte. Das Wasser musste schon lange versiegt sein.
Bald schon berührten seine Füße wieder festen Boden. Steinernen Boden. Also doch! Dabei hätte er sein rechtes Auge darauf verwettet, dass der Ton nicht nach Stein geklungen hatte, aber…
Auf einmal leuchtete es hell über ihm auf. Als er nach oben blickte, sah er eine helle bläulich strahlende Kugel.
Gleichzeitig hörte er Danjas Stimme: ”Vielleicht hilft dir das ja weiter da unten, alter Vorwitz.”
Roban schmunzelte.
”Danke”, rief er nach oben, ”jetzt kann ich mich ja in aller Ruhe hier um…”
Schlagartig verstummte er. Das Blut gefror ihm in den Adern, bei dem Anblick der sich ihm auf dem Brunnenboden bot.
”Roban, ist alles in Ordnung da unten?”
Danjas Stimme klang seltsam schrill. Blut rauschte in Robans Ohren. Er schluckte und hatte einen bleiernen Geschmack im Mund. Seine Zunge wurde schwer.
”Roban?”
Danjas Stimme klang ängstlich.
”Ja, doch, ja!” rief dieser. ”Ich glaube, ich habe Arbel gefunden” vollendete er den Satz und ging auf die abgenagten Kinderknochen zu, die ihm ins Auge gefallen waren.
In eben diesem Moment brach ein Donnerwetter über die Gefährten herein, die sich aus den unterschiedlichsten Richtungen in die Mitte des Ortes zubewegten. Plötzlich bebte die Erde, worauf einige Ruinen noch weiter in sich zusammenfielen und der verletzte Edelbrecht von den Beinen gerissen wurde. Die Luft war erfüllt von unheimlichen Stöhnen und abartigen, ja unmenschlichen Schreien.
Blitze zuckten auf. Aus dem dichten Nebel schälte sich ein dutzend dunkler Schemen, die bedrohlich auf die ”Eindringlinge” zukamen. Während sich Edelbrecht aufrappelte, griff Etosch intuitiv nach seinem Felsspalter und stellte sich schützend vor seinen Freund.
”Was ist das für eine neue Hexerei?” knurrte er. ”Egal, sie sollen nur kommen – glaubt nicht, ihr hättet leichtes Spiel mit uns!” brüllte er der neuen Gefahr entgegen und starrte der Übermacht trotzig entgegen.
Danja fühlte sich weniger zuversichtlich. Ihre Gedanken jagten wie Irrwische durch ihren Kopf. Welche Art von Magie war hier am Werk, und drohte ihnen wirklich Gefahr von der Erscheinung?
Sie kannte genügend Geschichten von sicherlich unheimlich anzusehenden, aber rein physisch ungefährlichen Geistern. Dennoch versuchte sie sich an die korrekten Zeichen für einen Bannkreis zu entsinnen, der sie im Fall der Fälle schützen konnte.
Ein ellenlanger Fluch drang dumpf aus dem Brunnenschacht.
”Was ist los bei euch da oben?” hörte sie Robans Stimme. ”Seid ihr dabei, den Brunnen einzureißen? Wartet wenigstens, bis ich wieder draußen bin, auch wenn es schwer fällt!”
”Bist du verletzt?” rief Danja zurück, ohne den Blick von den näher kommenden Geistern zu wenden.
”So ein Wacker ist mir auf den Fuß gefallen, danke der Nachfrage! Was zum Gehörnten treibt ihr da? Und wer schreit da zum Göttererbarmen?”
”Bleib wo du bist!”
Noch immer waren die Schemen kaum wirklich zu erkennen, auch ihre Absichten – falls sie überhaupt welche verfolgten – konnte man nicht klar ausmachen. Das Seil im Brunnenschacht straffte sich.
”Das wäre ja wohl das erste Mal, dass ich auf dich höre!” schnaufte Roban und schwang schon nach wenigen Sekunden den Arm über den Brunnenrand. Er atmete tief durch. Dann sah auch er, was durch den Nebel auf sie zukam.
”Ist leider auch nicht das erste Mal, dass ich es bereue, nicht auf dich gehört zu haben”, murmelte er, und sein Gesicht verlor jegliche Farbe.
”Dreh jetzt nicht durch, sonst kannst du zurück in den Brunnen und dort verrotten!”
Der Abstand zu den vordersten Geistern betrug kaum mehr als fünf Schritte, als Roban sich vollends über die Kante arbeitete, die Erscheinungen dabei keine Sekunde lang aus den Augen lassend.
Endlich ließen sich im dichten Nebel Einzelheiten ausmachen, die Edelbrecht schier das Blut in den Adern gefrieren ließen, auch wenn die Erscheinungen wohl keine unmittelbare Gefahr für seine Freunde und ihn bedeuteten, wie er jetzt glaubte. Die unheimlichen Gestalten schienen dafür doch viel zu sehr mit sich beschäftigt zu sein.
So erkannte er die Gesichtszüge einer verzweifelten Frau, die sich schwerfällig taumelnd in Richtung eines der Häuser schleppte. Aus einer gewaltigen Wunde oberhalb ihres rechten Ohrs strömte ihr das Blut in den Nacken, wo es vom Kragen ihres fein geschnittenen Oberteils aufgesogen wurde. Die Luft war erfüllt mit Schmerzensschreien, Wehklagen, Schluchzern, Stöhnen und dem Fauchen und Schreien widernatürlicher Kreaturen.
In einiger Entfernung zu den Beobachtern wühlte ein grauenhaftes Mischwesen aus Wolf und Pferd in den Eingeweiden eines sich nur noch schwach wehrenden Greises, während sich ein verzagter Bauer in einer Erdmulde verbarg, nur um Bruchteile von Sekunden später von einem widerlich schleimigen Tentakel gänzlich ins Erdreich gezogen zu werden.
Neben Edelbrecht erbrach sich Etosch röchelnd ins Gras. Auch der Zwerg hatte bemerkt, dass die Gestalten sie gar nicht wahrnahmen und so keine Gefahr darstellten. Dennoch klammerte er sich an den Stiel seines Felsspalters, als er wieder zu Atem gekommen war, und machte Anstalten, den Menschen gegen die Schrecken der Niederhöllen beizustehen.
Edelbrecht legte ihm die Arme auf die Schultern. ”Es hat keinen Zweck, Etosch, sieh nur, sie haben keinen richtigen Leib”, wobei er auf einen Jüngling zeigte, der sich vor Schmerzen krümmte und unmittelbar durch eine Häuserwand hindurchlief.
”Es ist schrecklich, Edelbrecht”, murmelte Etosch ”bitte, lass uns gehen. Ich kann den Anblick nicht länger ertragen.”
”Ohne die anderen und ohne zu wissen, was mit Arbel geschehen ist? Niemals!”
Edelbrecht straffte sich und versuchte mit lauten Rufen über den allgemeinen Lärm hinweg, seine Freunde auf sich aufmerksam zu machen, worauf sie alle zusammenkamen.
”Arbel liegt im Brunnenschacht. Zumindest das, was noch von ihm übrig ist!”
Mit wenigen Worten, den Blick immer noch wie hypnotisiert auf die Geistererscheinungen gerichtet, berichtete Roban von seinem grausigen Fund am Fuß des Schachtes. Edelbrechts Gesicht verlor mit jedem weiteren Wort mehr an Farbe.
”Dann war unsere Suche vergeblich”, stieß er schließlich hervor. ”Bergen wir die Überreste und...”
”Es kann nicht Arbel sein!” widersprach Danja ungefragt. ”Roban, du sagtest, die Knochen seien abgenagt.”
”Völlig blank. Kein einziger Fleischfetzen mehr daran” bestätigte der Ritter tonlos.
”Dann...müssen sie schon länger dort unten liegen” führte Edelbrecht Danjas Gedanken weiter. ”Und wenn sie schon länger dort liegen, können sie nicht von Arbel stammen, denn der wird erst seit einigen Stunden vermisst! Also suchen wir weiter!”
Das Nicken der anderen war mehr als zögerlich. Schon vor den Geistererscheinungen war der Ort unheimlich genug gewesen, jetzt schien es Irrsinn, sich noch länger hier herumzutreiben – ganz abgesehen von der unausgesprochenen Möglichkeit, dass Arbel längst im tückischen Sumpf versunken sein konnte.