Die Zweite Neufarnhainer Tafel - Ein Fest der Angst

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1033, Neufarnhain

Robans Trunkenheit war wie weg geblasen. Der flackernde Fackelschein gaukelte Bewegung vor, wo keine war – oder vielleicht doch? Immer wieder ruckte sein Kopf herum, wenn er aus den Augenwinkeln etwas bemerkt zu haben glaubte. Die Linke krampfte sich so fest um den Schwertgriff, dass die Knöchel weiß hervor traten, und sein Atem ging schneller als normal.
Auch wenn er es sich ungern eingestand, er hatte Angst – nein, ihm flatterte regelrecht das Hemd! Wenn er an den untoten Kurier dachte, der erst vor einigen Monden Hohentrutz heimgesucht hatte, verkrampfte sich sein Magen. Er bemerkte einen merkwürdig konzentrierten Ausdruck in Danjas Antlitz. Ihr Augenmerk schien in die Ferne gerichtet zu sein, nicht wie bei den anderen auf eben das, was die Fackeln der Dunkelheit entrissen.
”Hast du was bemerkt?” fragte er so leise, dass die anderen nichts verstehen konnten.
Die Festumerin zuckte zusammen. Sie hatte sich für einen Moment gefühlt wie einst, als sie sich im Nebel des Moores beobachtet gefühlt hatte, bis sie Robans leise Worte wieder in die Gegenwart holten.
”Noch nicht”, flüsterte sie. ”Aber ich bezweifle, dass ein Knabe in Arbels Alter die sichere Siedlung bei Nacht ohne triftigen Grund verlässt. Entweder hat man ihn heraus gelockt, womit auch immer – oder ihn gezwungen. Dafür spricht, dass er den Weg zu diesem ominösen Steinkreis eingeschlagen hat, einem Ort also, der von allen anderen Bewohnern Neufarnhains gemieden wird. Ich frage mich nur, was ihn – und uns – dort wohl erwarten mag!”
Roban schluckte schwer. Garantiert nichts Gutes, dachte er bei sich. Hoffentlich konnte man das, was dort wartete, wenigstens mit Schwert und Hammer erledigen, sonst würde der Abend noch schlechter werden, als er ohnehin schon war.
Näher und näher kamen die elf Suchenden dem Steinkreis, der in der finsteren Nacht im Widerschein ihres flackernden Fackellichts immer bedrohlicher zu werden schien. Roban war nicht allein mit seiner Angst. Auch wenn niemand der Männer es offen zugegeben hätte, so fiel es ihnen schwer angesichts der unbekannten Gefahren des Sumpfes Ruhe zu bewahren. Gerade Edelbrecht fühlte sich äußerst unangenehm an die schaurigen Ereignisse der zurückliegenden Namenlosen Tage erinnert und immer wieder spürte er schon fast zwanghaft den Wunsch, sich der Gegenwart aller seiner Gefährten zu versichern.
Abgesehen von einem Donnergrollen, das von einem weit entfernt niedergehenden Gewitter zu stammen schien, waren sämtliche Umgebungsgeräusche verstummt. Es war, als läge etwas in der Dunkelheit auf Lauer und wartete nur darauf, dass ihm die ahnungslosen Opfer in den aufgesperrten Rachen liefen. Edelbrecht zwang sich zur Ruhe. So geschickt Erborn als Fährtensucher auch sein mochte, er war doch beruhigt, dass die vier Zwerge sie begleiteten, waren ihre Augen doch von Geburt an mehr an die Finsternis gewöhnt, als ihre menschlichen. Doch bislang hatten sie keine Warnung ausgestoßen, sondern waren ihnen den Weg nach allen Seiten absichernd stumm gefolgt. Unvermittelt blieb Erborn stehen.
”Wir sind da! Noch ein paar Schritte weiter und ich könnte einen der gewaltigen Steine mit der bloßen Hand berühren.”
”Seid ihr euch wirklich sicher, dass Arbel hier entlanggekommen ist?” zischte Edelbrecht beunruhigt.
”Es gibt keinen Zweifel, Wohlgeboren. Sein Weg führte ihn direkt zwischen diesen zwei Findlingen hindurch, die ihr dort linkerhand sehen könnt.”
”Hm, wenn es einem kleinen Kind gelungen ist, den Steinkreis zu betreten, dürfte es für uns ausgewachsene Krieger doch auch keine Gefahr bedeuten, nicht wahr?”
Etosch gab sich alle Mühe zuversichtlich zu klingen und wollte sich schon in Bewegung setzen, als ihn eine Hand packte.
”Nicht so schnell, Herr Zwerg”, warf Danja ein. ”Sollte Arbel das Opfer eines Fluches oder eines Spruches aus dem Gebiete der magica controllaria sein, so könnte ihm ohne weiteres das gelungen sein, woran wir anderen unweigerlich scheitern müssten.”
”Hää?” Verständnislos blickten sie zehn Augenpaare an. Die Magierin seufzte auf.
”Egal, lasst mich wenigstens einen Analysezauber sprechen, ob und wenn ja mit welcher Art von Magie wir es hier zu tun haben.”
Widerwillig musste sogar Edelbrecht zugeben, dass das keine schlechte Idee war und nachdem auch Dwarrosch mit einem leichten Nicken sein Einverständnis gegeben hatte, konzentrierte Danja sich auf das magische Geflecht der Umgebung und die Formel, die sie als junge Scholarin einst in Festum gelernt hatte.
Geblendet von der Kraft der hier wirkenden Magie schloss sie die Augen. Ein leichtes Seufzen entfuhr ihr, als sie zu Boden ging.
”DANJA, was ist denn?” schrie Roban auf.
”Nichts, es war nur so stark, dass…” murmelte die Maga benommen. Sie schüttelte sich.
”Aber es tut gut zu sehen, dass du dir Sorgen um mich machst, Roban!” ”Sorgen, ich? Ach, Unsinn, ich wollte mich nur vergewissern, dass du auch richtig gefallen bist, das ist alles.”
”Wie dem auch sei”, unterbrach Edelbrecht das Geplänkel ungeduldig, ”was habt ihr gesehen, Zauberin?”
”Eine starke magische Kraft ungewisser Repräsentation wirkt an diesem Ort. Vermutlich um etwas zu schützen. Ihre Komponenten sind vor allem der magica controllaria entlehnt, aber auch…”
”Geht das auch in Garethi?” unterbrach sie der Herr Neufarnhains. ”Kurzum, wird es uns bei der Suche nach Arbel schaden?”
”Ich weiß nicht genau, es könnte sein.”
”Was denn, das ist alles? ‚Es könnte sein?’ Ist das das Ergebnis eurer Ausbildung? ‚Es könnte sein.’ So schlau wäre ich auch ohne Magie gewesen.”
Verächtlich spuckte Edelbrecht aus. Etosch brauchte seinen Freund nicht anzuschauen, um zu merken, dass der Borkinger mit seiner heftigen Reaktion lediglich versuchte seine eigenen Ängste zu überspielen. Und er ahnte, was als nächstes kommen würde.
Und richtig: Edelbrechts rechte Hand umklammerte den Griff seines Langschwerts, seine linke entriss dem stutzenden Olgosch eine Fackel, er selbst wandte sich dem Steinkreis zu und machte Anstalten darauf loszulaufen.
”Edelbrecht warte, tu nichts Unüberlegtes”, versuchte Etosch ihn zurückzuhalten.
”Wohlgeboren, ihr könntet sinnlos Spuren zertrampeln”, wandte auch Erborn ein, doch Edelbrecht schüttelte unwillig den Kopf.
”’Es könnte sein!’”, schnaubte er wütend. ”Merkt ihr denn nicht, dass wir Zeit verlieren? Während wir hier lamentieren, stirbt vielleicht irgendwo hinter diesen Steinen ein Kind. Ein Kind, das mir anvertraut worden ist, das werde ich nicht zulassen. Ihr habt jedenfalls zwei Möglichkeiten: Entweder ihr wartet, bis Frau Neunmalklug sich erholt hat und einen neuen Versuch startet, oder aber ihr folgt mir.”
In diesem Moment donnerte es unheilvoll und blaue Blitze durchzuckten den nächtlichen Himmel. Entschlossen nickte Edelbrecht, dann überschritt er mit einem Aufschrei die unsichtbare Linie, die die gigantischen drei Mann hohen Steinquader vor ihnen zogen…
Den Blitzen folgte unmittelbar die Dunkelheit, so dass selbst die Angroschim Schwierigkeiten hatten, den jungen von Borking zwischen den Steinen zu sehen.
Nach einigen Augenblicken Bedenkzeit sprach Olgosch zu Etosch: "Bleib Du hier draußen und beschütze die Maga. Ich versuche, den Herrn Neufarnhains wiederzufinden... und hoffentlich Arbel.”
Nachdem er sich so von seinem Freund verabschiedet hatte, schritt der Sohn des Ogrim in den Steinkreis so wie Edelbrecht vor ihm. Erneut begann es zu blitzen, doch diesmal schien es ihm so nahe, dass er einen Moment nichts als weiß vor seinen Augen sah. Dem Blitzen folgte ein markerschütterndes Donnergrollen... oder war es doch ein Rumpeln anderen Ursprungs? Die Erde schien durch irgendetwas zu erbeben. Olgosch blickte auf den Boden und plötzlich war ihm klar, dass es Pferde waren, die den Untergrund so zum Vibrieren brachten.
Als er den Kopf wieder geradeaus nach vorne richtete, stellte er fest, dass er plötzlich vor Neuvaloor stand, seiner neuen Heimat. Doch was er mitbekam, ließ ihm das Herz im Leibe stillstehen: Eine Gruppe nicht näher zu erkennender Banditen hatte die Siedlung überfallen! Sie hatten Fackeln an die mit Holz bedeckten Dächer der Häuser geworfen, um die Bewohner nach draußen zu zwingen. Die Siedler rannten kopflos durcheinander. Einige wurden von den Reitern gnadenlos über den Haufen geritten oder von schnellen Säbelhieben niedergemäht.
Aber wo waren denn die Zwerge, die die Siedlung beschützen sollten? Nun sah Olgosch seinen Freund Dugobalosch. Dieser war von vier Fußkämpfern umstellt und wehrte sich verzweifelt. Noch während er einen Axtschwinger von vorne abwehrte, stieß ihm jemand einen Speer von hinten in den Rücken, und er fiel um.
Immer mehr schreckliche Szenen spielten sich vor Olgoschs Augen ab. Die Räuber rissen an der Kleidung der Frauen und zerrten sie hinter die Häuser. Die Siedlerinnen schrieen zum Steinerweichen. Der kleine Alrik wurde gepackt und auf ein Pferd gehoben, während er hilflos mit Armen und Beinen strampelte.
"Das wird ein guter Sklave!", lachte einer der Angreifer. Aus der Unterkunft Ritter Boromils kamen einige andere mit den wenigen Wertsachen zurück, die es in Neuvaloor zu holen gab. Schließlich ritten die Räuber davon, während Olgosch in dem flackernden Schein der brennenden Häuser sah, wie das Blut der erschlagenen Siedler den Boden rot färbte. Er zitterte am ganzen Leib und musste sich abwenden.
Dann jedoch fiel sein Blick auf die Dunkelheit am Rande der Siedlung. Dort standen einige Gestalten. Doch als Olgosch sich näherte, stellte er mit Entsetzen fest, dass sie weiß und leicht durchscheinend waren - Geister! Das Grauen ließ ihn unfähig, davonzurennen, als er seine toten Gefährten erkannte. Korok, Krimog, Duglim, auch Denderan und Thoram, ja sogar Ingramosch, der doch noch so jung gewesen war... doch am fürchterlichsten war es, Dugobalosch zu erblicken, dessen Tod er eben noch hatte ansehen müssen.
Dugobalosch trat vor, sein Gesicht schien eine einzige Maske, und mit traurig-vorwurfsvollem Ton fragte er flüsternd: "Warum hast Du uns im Stich gelassen?"
"Angrosch steh mir bei!", schrie Olgosch und lief davon, weit weg von dieser Szenerie des Todes. Nun schien sein Blickfeld zu verschwimmen und eh er sich's versah, fand er sich in den Ambossbergen wieder, seiner alten Heimat. Was in Neuvaloor geschehen war, musste wohl bis hierhin durchgedrungen sein, auch seine Schuld am Tod der Zwerge und Menschen und dem Untergang der Siedlung. Olgosch erblickte, wie die Ältesten zusammengetreten waren, um über ihn zu richten. Auch sein Vater Ogrim befand sich unter den Beratenden, die ausnahmslos schweigend und mit ernster Mine einander in die Augen sahen und sich langsam zunickten.
Schließlich sprach Ogrim zu seinem Sohn: "Du hast die Treue zu deinen Freunden gebrochen und zu denen, zu deren Schutz Du befohlen warst. Das wirft kein gutes Licht auf uns Zwerge. Gehe und komm nie wieder."
Und mit diesen Worten sagte sich Ogrim von seinem Sohn los und durchtrennte alle Bande, die zwischen Olgosch und seiner Familie bestanden. Von heute an war er heimatlos, ein Ausgestoßener...
Im nächsten Augenblick fand sich Olgosch draußen, unter der Sonne wieder, aber immer noch in den rauen Bergen. Alleine irrte er umher, seinen Weg hatte er verloren, seine Kräfte verließen ihn, und er stürzte auf den harten Boden. Olgosch wurde schwarz vor Augen und er verlor das Bewusstsein.