Die Zweite Neufarnhainer Tafel - Arbel
Gerade als ein blutüberströmter Koloss von einem Mann, dem jemand mit einer Streitaxt den Kopf gespalten hatte, röchelnd auf die kleine Gruppe zuwankte, war die Luft plötzlich erfüllt von einem Knistern, auf das ein einziger gewaltiger Donnerschlag folgte. Im selben Moment zuckte ein Blitz hervor und erleuchtete den Platz taghell, so dass die Gefährten geblendet die Augen schlossen.
Als sie sie wieder öffneten, hatte sich der Nebel verzogen und das Trümmerfeld lag dunkel und unberührt vor ihnen.
“Dem Stand der Sterne nach zu urteilen, haben wir die Mitte der Nacht hinter uns gelassen”, konstatierte Edelbrecht mit Blick zum Himmel. Reto nickte befriedigt.
“Damit scheint sich zumindest eines unserer Probleme von selbst gelöst zu haben!”
“Was uns ansonsten aber überhaupt nicht weiterbringt”, grummelte Etosch, “ich würde vorschlagen, dass wir…”
“Seid mal ruhig”, rief Erborn. Entrüstet schaute ihn der Zwerg an, doch ehe er etwas erwidern konnte, fuhr Erborn fort: “Ich habe etwas gehört, es kam aus dieser Richtung.”
Angestrengt folgten die fünf Augenpaare Erborns Zeigefinger, der auf eine windschiefe Kate deutete. Die Abenteurer hielten vor Spannung fast den Atem an und gaben keinen Mucks von sich.
“Jetzt habe ich es auch gehört”, murmelte Danja. “Es klang wie das Wimmern eines Kindes.”
Entgeistert starrten die Männer sie an.
“ARBEL!” schrien sie wie aus einem Munde und rannten auf das kleine Häuschen zu. Roban, der sich an die Spitze der Gruppe gesetzt hatte, erreichte es als erstes, trat mit einem Fluchen die morsche Tür ein und spähte in den Raum hinein. Nichts war zu sehen. Doch nach wenigen Momenten der Stille, erklang wieder dieses wimmernde Geräusch.
“Heraus mit dir, du Floh, damit wir dir das Fell versohlen können!” rief der Ritter.
“Roban! Das ist wohl kaum der richtige Tonfall, um ein verstörtes Kind aus seinem Versteck hervorzuholen!” schimpfte Danja.
“Jajaja, Eure Gelehrigkeit!” schnaubte der Grobhänder, “der Bengel hätte ja nicht wegzulaufen brauchen, dann hätten wir in aller Ruhe weiterfeiern können, ich hätte mir einen schönen Rausch antrinken können und wir bräuchten hier nicht an diesem götterverlassenen Ort uns den Gefahren des Sumpfes aussetzen.”
“Da hat er Recht”, pflichtete Edelbrecht seinem Freund schlicht bei und erntete dafür einen giftigen Blick der Magierin.
“R…R…Ritter Grobhand von Koschtal, Herr von Borking, seid ihr das?” wisperte ein Stimmchen aus der Dunkelheit und ein Kopf lugte um die Ecke eines Türrahmens, der von der schmalen Diele in ein weiteres Zimmer führte.
“Bei Angroschs Bart, es ist tatsächlich Arbel!” rief Etosch, zwängte sich zwischen den beiden Rittern durch und lief auf den Knaben zu, der nun mit seinen Nerven völlig am Ende war und in Tränen ausbrach.
Etosch schlug seine Arme um den Jungen und strich ihm beruhigend über den Rücken.
“Ist gut, Arbel, ist gut. Du hast es ja noch einmal geschafft. Wir sind bei dir, nun kann dir nichts mehr passieren, aber so eine Dummheit machst du nicht wieder, versprichst du mir das?”
“A…a…aber ich, ich, ich konnt doch garnichts dafür”, schluchzte Arbel, worauf Roban scharf einatmete und sich abwand, dabei einen Fluch zwischen den Zähnen zerbeissend. Reto hingegen war hellhörig geworden.
“Willst du damit sagen, kleiner Mann, dass du nicht aus freien Stücken hierhin gelaufen bist?”
“Doch schon, aber…”,
“Na seht ihr, also doch! Den Hintern versohlen sollte man ihn für so viel Leichtsinn! Und uns dann auch noch das Fest versauen...!”
Roban stampfte empört mit dem Fuß auf.
“Aber ich war nicht allein” wandte Arbel ein.
“Wie meinst du das?” hakte Edelbrecht nach. “ Wir haben uns überzeugt, sonst fehlte niemand in Neufarnhain, nur du wurdest vermisst.”
Arbel zog die Nase hoch und wischte sich die Tränen aus den Augen.
“Fianna kommt auch nicht aus Neufarnhain.”
“Fianna?” Die Großen schauten das Kind verwirrt an. Hatte Arbel es doch gewusst, Erwachsene verstanden nie etwas! Und so berichtete er ihnen in aller Ausführlichkeit, wie er am Rande Neufarnhains, während alle anderen mit Feiern beschäftigt gewesen waren, ein wunderschönes Mädchen gesehen hatte, das sich ihm als Fianna vorgestellt hatte. Sie hatte ihm erzählt, dass sie nicht weit entfernt in einem Ort namens Nebelhain lebte und seine Hilfe gebrauchen könnte und weil doch der Herr von Borking immer sagte, es gezieme sich für einen Mann, einer hilfsbedürftigen Dame zur Seite zu stehen, habe er nicht lange gezögert, sich nur noch etwas vom Braten eingesteckt und war mit Fianna aufgebrochen, ohne nachzufragen, worin diese Hilfe genau bestand.
Zugegeben, ein wenig hatte er sich im Sumpf schon gefürchtet, aber Fianna hatte den Eindruck gemacht, als wüsste sie genau, wo es lang ging und sie hatten sich so gut unterhalten, dass ihm die Zeit gar nicht lang geworden war. Doch dann hier in Nebelhain, hatte es ihn gegruselt, als er die Zerstörungen gesehen hatte und als er sich an Fianna hatte festhalten wollen, war seine Hand durch die ihre hindurchgegangen.
Traurig hatte das Mädchen ihn angesehen und war in Tränen ausgebrochen. Dann hatte es nur immer wieder die Worte gestammelt “Hilf mir, Arbel, ich bin so müde, ich möchte endlich schlafen” und war verschwunden. Unterdessen hatte es angefangen zu donnern und zu blitzen und Arbel hatte die Angst so sehr gepackt, dass er sich verkrochen hatte. Dabei musste er wohl eingeschlafen sein und war erst infolge des Radaus da draußen wieder erwacht. Als er aber die Ungeheuer da gesehen hatte, hätte er sich schnell in diesem Haus verkrochen.
Nachdem der Knabe seine Erzählung beendet hatte, trat Stille ein. Sogar Roban war die Lust vergangen, sich für den gestörten Abend an dem Knaben schadlos zu halten. Da schnippte Danja mit den Fingern.
“Ich hab’s, natürlich, das muss es sein."
Die Männer schauten sie verwundert an, doch Danja ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.
“Wie alt ist Fianna, Arbel?”
“Elf Götterläufe wie ich, werte Dame.”
“Wie alt mag das Kind gewesen sein, dessen Knochen du im Brunnen gefunden hast, Roban?”
“Um denselben Dreh herum, deswegen dachte ich ja noch sie stammten von dem Knirps hier.”
Danja schüttelte unwillig den Kopf.
“Na, versteht ihr denn immer noch nicht? Wenn ein Geist, denn um einen solchen wird es sich auch bei Fianna gehandelt haben, nach all dem, was wir heute hier gesehen haben, von ‚Schlafen‘ spricht, dann will er wohl seine letzte Ruhe finden. Die ist Fianna wohl bis auf den heutigen Tag verwehrt geblieben, ergo…”
“…sollten wir sie begraben, meint ihr!?” vollendete Edelbrecht den Gedanken.
“Exakt!”