Die Zweite Neufarnhainer Tafel - Schemen im Nebel
Es mochten weitere anderthalb Stundengläser ins Land gezogen sein – das Madamal schien immer wieder hinter den dichten Nebelschwaden und Wolken schauerlich silbrig hervor – als Etosch ein erstauntes Schnauben unter seinem dichten Bart hervorstieß.
”Was gibt’s, Angroscho, das dir derartige Töne entlockt?” fragte Erborn, der seinen Blick mehr auf den Boden gerichtet hatte und immer wieder nach deutlichen Spuren des Knaben Ausschau hielt.
”Da hinten erkenne ich die Umrisse von Gebäuden”, murmelte Etosch.
Ungläubig starrten ihn seine Begleiter an. Sicher, der Zwerg mochte ihnen im Dunklen eine Nasenlänge voraus sein, aber das klang dann doch zu unglaubwürdig, als dass es wahr sein konnte. Stille breitete sich aus, in die hinein, wie zur Bestätigung der eben gemachten Aussage ein Käuzchen hineinrief.
”Das kann nicht sein”, stieß Roban ächzend hervor, und auch Edelbrecht schüttelte heftig den Kopf und nestelte nervös an seiner Schwertscheide herum.
”Wir alle haben die Karte des Vogts vor einem Jahr gesehen. Darin waren nördlich und östlich des Areals von Neufarnhain in der gesamten Baronie keine weiteren Ansiedlungen verzeichnet”, bekräftigte Reto.
”Du wirst dich irren, Etosch”, raunte Edelbrecht und seine Stimme zitterte dabei, ”oder es ist ein weiteres niederhöllisches Verwirrspiel wie im Steinkreis. Wie wäre es, Danja, wenn ihr euch nützlich machtet und…”
”Keine Spur von Spruchmagie, weder Anzeichen von Illusions- noch Beherrschungszaubern”, fiel die Bornländerin dem Borkinger ins Wort. ”Was auch immer da drüben steht, es ist in etwa so magisch, wie eine Scheibe Blutwurst.”
”Hmpf”, grunzte Edelbrecht und rieb sich seine Nase, die mit einem Mal stark juckte. Hatte ihm diese Hexe, ohne dass er es merkte, einen Fluch an den Hals gehext?
Zum Praiosseibeiuns, er war der Grundherr von Neufarnhain und führte sich hier auf wie ein verängstigtes kleines Kind, während Arbel vielleicht dringend ihre Hilfe benötigte! Jedenfalls würde er diese Danja fortan nicht aus den Augen lassen. Irgendetwas war da faul! Ein Jammer, dass sie mit dem Makel der Magie behaftet war, sah sie doch alles in einem recht apart aus.
”Nun denn, es hilft ja nichts, bei allen Zwölfen, lasst es uns herausfinden, was sich da hinten im Nebel verbirgt!”
Ein wenig klangen die Worte so, als wolle Edelbrecht nicht den anderen, sondern vor allem sich selbst den Mut zusprechen, der ihm fehlte. Nichtsdestoweniger zog er sein Schwert und stapfte vorsichtig in Richtung der Schemen, von denen Etosch gesprochen hatte, dicht gefolgt von seinen Gefährten.
Mit jedem Schritt gingen sie langsamer. Unter normalen Umständen hätte Roban darauf bestanden, die Gruppe aufzufächern und die Schemen im Halbkreis anzugehen, nur für den Fall, dass es zu einem Kampf kam. Aber diese Umstände waren so normal wie ein Moha in Grantelweiher! Je näher sie kamen, desto mehr schälten sich die Umrisse zerstörter Gebäude aus dem Dunkel. Teilweise eingestürzte Mauern, die nackten Balken kahler Dachstühle, leere Fenster- und Türöffnungen, die sie wie finstere Augen und Mäuler empfingen.
Roban hörte sein Blut in den Ohren rauschen. Die verlassene Siedlung weckte böse Erinnerungen in ihm, Erinnerungen, die er erst vor wenigen Stunden hatte durchleben müssen. In jedem Schatten, hinter jeder Mauerecke glaubte er eine schemenhafte Bewegung zu erkennen, die sich immer dann verbarg, wenn man hinsah.
”Was denkst du, Roban?”
Der Ritter fuhr kurz zusammen, als Danja ihn ansprach. Seine Hände krampften sich um die Griffe der Waffen, als wollten sie dort Halt suchen.
”Was ich denke? Dass wir vom Regen unter Umgehung der Traufe direkt in der Scheiße gelandet sind!” brummte er und versuchte, seiner Stimme einen gleichmütigen Klang zu geben. Danja lachte, kurz und humorlos.
”Es ist immer wieder erstaunlich, wie du jede Situation ebenso treffend wie blumig charakterisieren kannst”, sagte sie, und auch ihre Stimme zitterte leicht.
Alle hielten kurz inne, als ein knarzendes Geräusch erklang, wie ein heiseres Knurren. Nervöse Blicken versuchten, das Dunkel zu durchdringen, bis Erborn den Ursprung des Lautes entdeckte.
”Nur ein Fensterladen”, sagte er aufatmend.
”Wir sollten die Gebäude durchsuchen”, schlug Etosch Gabelbart vor. ”Vielleicht wurde Arbel in eines von ihnen verschleppt, oder er hat sich dort vor was auch immer versteckt, um den Morgen abzuwarten! Aber geht zu zweit. Angrosch allein weiß, was sich sonst noch so in diesen Ruinen verbergen mag!”
Die anderen nickten, wenngleich unsicher. Der Gedanke, die finsteren, wie Mahnmale des Todes aufragenden Gebäudereste betreten zu müssen, behagte wohl niemandem, doch der Angroscho hatte Recht.
”Wenn ich wieder in Neufarnhain bin, werde ich mich so was von sinnlos besaufen”, murmelte Roban zu sich selbst, als er sich langsam der offen stehenden Tür einer verwitterten Kate näherte. Danja, die Fackel in der Hand, leuchtete vorsichtig in das Innere.
”Auch wenn ich dem Alkohol-Abusus eigentlich abhold bin”, sagte sie, mit Blick in den kleinen Bereich, der von dem Feuer der Finsternis entrissen wurde, ”dieses Mal werde ich dir dabei wohl Gesellschaft leisten!”
Die Gruppe um Rainfried von Grimsau, die vom Steinkreis aus nach Osten aufgebrochen war, kam weniger gut voran. Der trügerische Boden foppte so manches Mal die Augen der Zwerge, so dass immer wieder der eine den anderen aus dem feuchten, zähen Untergrund ziehen musste. Ohne Almas Kenntnis des Sumpfes wären sie hoffnungslos verloren gewesen. Ein ums andere Mal fanden sie Spuren, die von einem größeren Lebewesen stammen mussten, doch ob es sich um den verschwundenen Arbel handelte, wilde Tiere oder gar Schlimmeres, vermochte niemand genau zu sagen. Schließlich sprach Rambox aus, was ohnehin schon alle seit geraumer Zeit dachten.
"Wenn der Junge wirklich hier entlanggekommen ist, hat er kaum eine Chance."
"Das mag sein," erwiderte Rainfried, "aber so schlecht stand es auch damals in Angbar, was mich dennoch nicht davon abgehalten hat, das zu tun, was richtig war."
Olgosch horchte auf. War der junge Mann nicht Almadaner? Da die Gruppe ohnehin gerade ein Stück festen Bodens erreicht hatte und eine kurze Rast einlegte, nutzte er die Gelegenheit, um nachzufragen. Dabei kam er aus dem Staunen nicht heraus. Da hatte dieser etwas verweichlicht wirkende Großling doch tatsächlich Mut bewiesen und eine Tat vollbracht, die manchem Angroscho zur Ehre gereicht hätte!
Am Ende der Verschnaufpause schlug Dwarrosch vor, ein gemeinsames Gebet an Angrosch zu richten, damit dieser alle auf sicherem Weg zurück nach Neufarnhain führen möge. Ein Angebot, von dem die Zwerge ebenso gerne Gebrauch machten wie die beiden Menschen.