Von den Göttern verlassen?
Von den Göttern verlassen?
Erschütternde Kunde aus Moorbrück
MOORBRÜCK. Im Phex 1032 BF. wurde Schwester Ilvine Ilmenstroh vom Dreischwesternorden zu Gôrmel nach Moorbrück geschickt, um sich ein Bild von den neubelehnten Rittern und ihren Siedlern zu machen. Zugleich sollte sie den Traviatempel der Stadt Moorbrück inspizieren. Hier ihr Bericht.
Wenn Moorbrück nicht „Stadt“ hieße, hätte ich es niemals für eine gehalten. Es hat keine Stadtmauer, bloß hier und da traurige Versuche einer Palisade. Die Straßen sind allesamt unbefestigt, das heißt, stellenweise läuft man auf Torf und festgetrampeltem Schlamm, an anderen Stellen auf brüchigen Bohlen oder hingeworfenem Ried. Zwischen den Hütten, Katen und den wenigen Häusern, die diesen Namen verdienen, gibt es kleine Gärten - gleich daneben aber wieder Sumpfwiesen, Schilfflächen und morastige Tümpel.
Überall kommt Baumund Buschwerk hoch, darunter kaum etwas Brauchbares. Das meiste wächst so krumm, daß man es nicht verbauen könnte. Einen einzigen Apfelbaum habe ich entdeckt, an dem hingen noch kleine vertrocknete Äpfel. Diesen Herbst seien sie so bitter gewesen, dass nicht einmal die Schweine sie hätten fressen wollen, sagte man mir. Vor Jahrzehnten hatte jemand versucht eine Linde zu pflanzen. Sie war zu so etwas wie einem Baum geworden, aber knotig und hohl, und ihre Äste sind tot. (Eichen sucht man vergeblich.)
Den Häusern und Bäumen entsprechen die Menschen. Einige kämpfen. Manche finden sogar in einer verborgenen Ecke ihr kleines Glück. Die meisten aber sind kränklich, düster, verbittert, finden keinen Trost mehr im Gebet und keine Geborgenheit in der Familie. In der kurzen Zeit, die ich hier bin, habe ich zwei Kinder getroffen, etwa sieben und dreizehn Jahre alt, die sich auf ein Schiff schleichen wollten, um nur ja wegzukommen von diesem Ort. Beide wussten nicht einmal, ob sie unterm Schutz eines der Zwölfe standen, auch der ältere hatte noch nicht seinen Jugendsegen erhalten. Das konnte ich immerhin nachholen. Der Zustand dieser beiden Kinder zeigt den Zustand vieler Leute hier, was Glauben und Göttergefälligkeit angeht. Nicht aller! Aber leider doch eben vieler. „Wozu?“ bin ich gefragt worden, als ich anbot, einem Kind den Jugendsegen zu geben, und ich habe von Toten gehört, die ohne Boronssegen in einem abgelegenen Sumpfloch versenkt worden sind.
Dabei ist der Borontempel das einzige Haus eines der Zwölfgötter, das hier noch sichtbar existiert und aufrecht steht. (Zu Phex weiß ich nichts, aber ich kann es mir nicht vorstellen. Der Brückentempel, den es hier mal gab, ist zerstört und kein Haus Travias mehr.) Leider kümmert sich Schwester Morlind kaum um die, die nicht willentlich zu ihr kommen. Sie dient dem Raben, nicht den Menschen. Ich fürchte nur, dass sie ihrem Herrn dadurch keinen Gefallen tut, und auch nicht seinen göttlichen Geschwistern. Es gibt hier Leute, die vor mir ihre Tür verschließen, nicht wegen mir, sondern wegen meinem herdfeuerfarbigen Gewand, also: weil ich Travia zugehöre. Dasselbe würden sie auch vor Ingerimm, Rondra und allen anderen Göttern und deren Gefolgsleuten tun. Schlimmer: Ich fürchte, hier beten manche sehr unheilige Mächte an. Sie sind nicht so etwas Grausiges und zugleich Plumpes wie Dämonenpaktierer, das wohl nicht. Aber sehr nahe dran. Sie ergeben sich dem Sumpf, manche opfern ihm sogar. Doch, tatsächlich! Es fängt damit an, daß man nur die Schultern zuckt, wenn einer vom Torfstechen nicht zurückkommt: Der Sumpf hat ihn halt geholt. Manche lassen, wenn sie ein Huhn oder einen Stallhasen schlachten oder gar ein Schwein (was selten vor- kommt), das Blut in das nächstgelegene Moorloch fließen:
„Dann holt es sich schon nicht unsere Kinder“, heißt es. Einer ging mit einem Huhn ins Moor und kam ohne das Huhn wieder. Niemand fragte, was er da gemacht habe, man grüßte ihn verhalten und kümmerte sich nicht weiter um ihn. Von den unheiligen Begräbnissen habe ich schon erzählt. Durch Zufall habe ich aber mitbekommen, daß es sogar Legenden gibt, man müsse sein erstes Kind dem Moor geben, damit folgende Kinder am Leben blieben! Ich fürchte, es sind auch schon Leute diesem verluchten Rat gefolgt, zumindest in früheren Zeiten. Dabei sind die Moorbrücker nicht eigentlich böse. Sie ergeben sich dem Sumpf wie einem verderbten Herrn, dem sie nicht entfliehen können und gegen den niemand etwas ausrichten kann - nicht einmal unsereins, die Priester der alveranischen Götter.
Mein großer Wunsch und dringender Rat wäre, mutige und auch körperlich kräftige Anhänger unserer heiligen Mütter Travia, Peraine und Tsa hierher zu schicken, auch Schwestern und Brüder in Efferd und Ingerimm, vielleicht sogar Hesinde (ob Rahjani es hier aushalten würden, weiß ich nicht), auf jeden Fall Unterstützung für Schwester Morlind, bevor jemand die Inquisition hierher schickt. Ich glaube, die hätten die meisten Moorbrücker nicht verdient!
Ilvine Ilmenstroh