Eine Linde schlägt Wurzeln - Den Blick gen Praios
Die Baronie Bragahn im Rondra 1034 nach Bosparans Fall
In gemütlichem Tempo bewegte sich die zehnköpfige, berittene Reisegruppe zwischen Eschen und Ulmen durch einen üppig grünenden Forst. Das silberne Band des Großen Flusses hatten sie schon eine Weile hinter sich zurückgelassen. Dennoch konnten die Reiter immer wieder feuchte Niederungen in dem langsam ansteigendem Hügelland entdecken. Ein von Vogelgezwitscher erfülltes Blätterdach erstreckte sich über ihnen und ließ nur selten zu, dass sich Praios goldenes Licht seinen Weg zwischen den knorrigen Ästen hindurch erkämpfen konnte. An einem dieser sonnengesegneten Orte, auf einer Insel grünen Grases in dem von braunen Blättern bedeckten Boden, hob eine Gruppe Rehe die Köpfe. In ihrer Suche nach Nahrung gestört, flohen sie in das lichte Unterholz aus Hirschfarn, Brombeere und anderem, dornigem Gestrüpp.
Der Wald machte einen ruhigen, friedlichen Eindruck, doch die vier Leibwachen der Familie von Lindholz blieben wachsam, konnten sie doch kaum damit rechnen, im Falle eines Überfalls große Hilfe von den übrigen Berittenen zu erhalten. Weder Domna Siona noch ihre beiden hübschen Töchter konnten mit blankem Stahl umgehen. Welche Möglichkeiten dem Zauberer Amaros zur Verfügung standen, war für die Söldlinge nicht zu ermessen. Ihnen war lediglich bekannt, dass er keinerlei Kampfzauberei beherrschte. Sie ersparten sich dahingehend jeglichen Kommentars. Der Heiler Etilian von Lindholz-Hohenried, würde sich wohl selbst verteidigen können, aber einzig von seiner Schwester Saria war gute Unterstützung zu erwarten. Gegen eine größere Bande von Räubern, könnte man sich aber wohl kaum erwehren. So waren alle erleichtert, als sich der Wald endlich zurück zog und den Blick auf Bergund freigab.
Für einen Moment ließ Saria die Gruppe anhalten. Sie blickte, beschienen von der wärmenden Sonne des frühen Sommers, auf Bergund. Die Ritterin wusste nicht genau, warum, aber etwas ließ sie an Darpatien zurückdenken. An das Feste Haus, umgeben von den niedrigen Katen, die sich in den Talgrund duckten.
Was hier vor ihr lag hatte wenig mit Hohenried gemein, auch wenn mit Bergund ebenfalls ein Rittergut vor ihr lag. Sanft schwang sich der mit staubiger Erde bedeckte Weg weiter die Hügelflanke hinauf und lief in den Ort hinein. An dieser, der Südseite der Anhöhe, zogen sich Reihen von Wein hinauf, deren Ranken sich in sattem Grün an ihren hölzernen Gestellen wiegten. Knapp zwei Dutzend Gehöfte boten den Einwohnern ein wohnliches Heim.
Dort, wo die kleine Straße zwischen den ersten, mit grauen Schilden gedeckten Fachwerkhäusern verschwand, hatte sich eine Schar Menschen versammelt. In ihrer Mitte befand sich eine gedrungen wirkende Gestalt mit kupferroten Zöpfen in dem aquamarinblauen Gewand der Kirche des Herren der Gezeiten. Rechts neben der Efferdgeweihten, die sich kurioserweise als Zwergin entpuppte, stand ein etwa fünfzigjähriger Mann mit ergrautem Haarkranz und Kinnbart, der etwas in die Breite gegangen war. Auf der andere Seite waren zwei Jugendliche in den Novizengewändern der Rondrakirche zu sehen.
Als die Reiter dichter kamen, konnte man an der verschlossenen Miene und den vor der Brust gekreuzten Armen deutlich erkennen, dass das Mädchen nicht gerade mit Begeisterung der neuen Herrin von Bergund entgegensah. Damit schien sie jedoch recht alleine zu sein, denn als die Gruppe wenige Schritte vor dem Empfangskomitee zum Stehen kamen und absaßen, blickte man ihnen ansonsten eher mit Neugier oder sogar Hoffnung in den Augen entgegen.
„Du musst die Ritterin Saria sein.“
Es klang eher wie eine Feststellung als eine Frage, als die zwergische Geweihte das Gespräch eröffnete.
„So ist es“, bestätigte die braunhaarige Kämpin, „und dies sind mein Zwillingsbruder Etilian und meine Verwandten aus Almada. Domna Siona von Lindholz mit ihrem Sohn, dem Adeptus Amaros Desiderio sowie ihren Töchtern Alisea und Lianna, die so freundlich waren, mir Geleit zu geben.“
Die Gefährtin von Wind und Wogen lächelte und neigte das Haupt.
„Seid alle willkommen in Bergund. Möge es Dir und den Deinen eine neue Heimat werden, Saria von Lindholz-Hohenried. Mein Name ist Dorlike Weißtrunk, Tochter der Pergascha. Dies ist Jobdan Zuckerhold, der Schulze des Dorfes, und seine Frau Alma.“
Sie deutete auf den korpulenten Mann neben sich und seine nicht minder wohlgenährte Frau, die sich rasch verbeugten. Saria tauschte einige Worte mit dem Schultheiß und gewann schon nach kurzer Zeit den Eindruck, dass er bei den Dörflern einen guten Stand hatte und seinen Pflichten mit dem nötigen Ernst nachkam.
„Ich würde mich freuen, wenn Ihr Euer Amt als Schulze weiterhin ausüben würdet und mir Eure Erfahrung zur Verfügung stellen würdet“, eröffnete die Ritterin ihrem in die Jahre gekommenem Gegenüber. Jobdan Zuckerhold schien nicht sonderlich überrascht über das Angebot zu sein, stimmte aber mit ehrlicher Dankbarkeit zu.
Schon seit einiger Zeit, schien sich ein schlacksig wirkender, junger Mann mit kupferroten Haare und einem schmalen Gesicht kaum zurückhalten zu können und nun nutzte er die Gelegenheit, sich nach vorne zu drängen. Er stellte sich als Berichterstatter des Kosch-Kuriers namens Torgrim Runkelanger vor und fragte mit überraschend wohltönender Stimme, was die Pläne der neu eingesetzten Vasallin des Barons Barytoc Naniec Thuca wären. Saria von Lindholz-Hohenried formulierte eine zurückhaltende Antwort, wusste sie doch noch sehr wenig über die Herausforderungen, die sie hier erwarten würden. Der Schreiberling notierte die Worte und zog sich, fürs Erste offensichtlich befriedigt, wieder in die zweite Reihe zurück.
„Wenn Du es wünscht, Euer Wohlgeboren, würde ich Dir gerne den Ort kurz zeigen, bevor Ihr hoch zur Burg geht.“
Die Ritterin schien sich nicht im geringsten an dem Mangel an Etikette zu stören, den die Efferdgeweihte mit dem Duzen an den Tag legte. Selbst ihre almadanische Verwandschaft hatte von einer Zwergin augenscheinlich kaum ein anderes Verhalten erwartet und blieben weiterhin gelassen während Saria zustimmend nickte.
"Ich nehme diese Offerte gerne an. Es wäre mir wichtig, den Ort und jede der ansässigen Familien kennen zu lernen."
Die Angroschna lächelte zufrieden, drehte sich um und begann mit stapfenden Schritten ihre Führung durch den Ort.
Am Dorfeingang befanden sich die Katen des Kuhirten, des Schweinehirten und des Schäfers. Sie waren nur von kleinen Gärten umgeben, in denen jedoch Kräuter und Blumen genauso prächtig gediehen wie im restlichen Ort. Die fast zwei Schritt hohen Stockrosen blühten aufs Prächtigste in Tönen von strahlendem Weiß bis hin zu kräftigem Purpurrot. Die Badilakanerkresse hingegen hielt ihre gelborangen Häupter näher am Boden, wo sie mit Petasil, Schnittlauch und Methumian ein stilles Schwätzchen halten konnte. Hinter den kleinen Häusern schlossen sich von der Größe her bescheidene Beete mit Gemüse an: Weißkohl und Artischocken grünten dort, Feuerbohnen rankten der Praiosscheibe entgegen, Möhren zeigten ihr gefiedertes Blätterkleid und die kräftigen Halme der Zwiebeln hatten sich jetzt im Frühsommer längst ihren Weg durch das Erdreich gebahnt. So wie es den Anschein hatte, mussten wohl selbst die Hirtenfamilien in dieser Ortschaft nur in den seltensten Jahren am Hungertuch nagen. Das bunte Schauspiel in den Gärten, ließ Etilian hoffen, hier auch gute Anbaubedingungen für einige Heilkräuter zu finden. In letzter Zeit hatte er fast all seine Reserven aufgebraucht.
Ging man die Straße weiter zur Mitte des Dorfes kam man an den kleineren Gehöften der Kotsassen und jenen, größeren der hiesigen Ackermänner und -frauen vorbei, an die sich direkt die ersten Felder anschlossen. Der Wein wurde hier nicht an Pfählen kultiviert, sondern rankte sich an Pergeln hinauf - waagerecht mit Ästen untereinander verbundenen Holzgerüsten - sodass die Blätter der begehrten Reben ein fast durchgehendes Dach bildeten. Neben dem Wein wurde auch Gemüse und weiter unten im Tal Weizen, Roggen und Hafer angebaut. Obstbäume, weiß blühender Hollunder, Esskastanien und Haselnusssträucher spendeten im Ort wie in den Weingärten Schatten.
Während seine um wenige Minuten ältere Schwester damit beschäftigt war, von Haus zu Haus zu gehen und mit jedem der Oberhäupter der Bauersfamilien ein paar Worte zu wechseln, hielt sich Etilian schweigsam zurück. Er warf einen neugierigen Blick auf seine almadanische Verwandtschaft und musste schmunzeln. Der blonden Alisea und ihrem magisch begabten Bruder standen deutlich die Langeweile ob des in ihren Augen überflüssigen Prozederes ins Gesicht geschrieben.
Siona von Lindholz hingegen war zu erfahren in solchen Situationen, um sich etwas anmerken zu lassen. Mit einem höflichen Lächeln betrachtete sie das Geschehen und kostete in aller Ruhe von Brot und Wein, welche den Adligen und anschließend ihren Söldnern gereicht wurden.
Die neunzehnjährige Lianna hingegen lauschte den Worten der Bauern und den Erläuterungen der Efferdgeweihten mit ehrlichem Interesse. Einige Male öffneten sich ihre Lippen, als wollte sie eine Frage stellen, hielt sich dann aber doch zurück. Als sie den Dorfplatz in der Mitte Bergunds erreichten, gesellte sich Etilian an die Seiten der hübschen, gelockten Domnatella und schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln, was die junge Frau nur schüchtern erwiderte, bevor sie ihre Aufmerksamkeit Dorlike Weißtrunk zuwand. Diese war auf den tropfenförmige Platz getreten, der seine Form dem Tempel in seiner Mitte verdankte.
"Dies ist das Haus des unergründlichen Efferd hier in Bergund. Errichtet um den wärmenden Sinterquell", verkündete die Hügelzwergin und der Stolz auf diesen besonderen Ort war ihrer Stimme durchaus anzuhören.
Das Gebäude bestand aus hellgrauem Stein, welcher aus ungleichmäßigen Blöcken bestehend zu vier Schritt hohen Mauern aufgeschichtet worden war. Halbsäulen mit muschelförmigen Kapitellen dienten der Fassade als Zierde. Im oberen Drittel der Wände waren in regelmäßigen Abständen Bogenfenster eingelassen, welche mit schilfgrünem und tiefblauem Butzenglas versehen waren. Während im südlichen Teil helles Licht die Fenster in aller Farbenpracht erstrahlen ließ, war hinter den firunwärtigen Öffnungen, dort wo die Außenmauern spitz aufeinander zuliefen, nur Dunkel zu erkennen. Zum Ausgleich plätscherte hier zwischen den Säulen dampfendes, warmes Wasser aus drei, zwei Finger breiten Löchern und ergoss sich in flache Becken, welche zwischen den Füßen der Säulen eingelassen waren. Bei aller Spiritualität hatte der Erbauer des Tempels offenbar auch an pragmatische Lösungen gedacht, konnten die Bauersfrauen doch hier ihre Wäsche waschen. Das Wasser floss durch eine Rinne, für die die Basis der einzelnen Säulen durchbrochen worden war, am Gebäude entlang, um sich im Süden gemeinsam mit einem Gegenstück von der anderen Seite des Bauwerks mit dem Hauptabfluss der Quellezu vereinigen. Etilian entging nicht, dass die Waschbecken, die Abflussrinne und auch der Bachlauf weiß gefärbt waren von den Ablagerungen, die dem Bach seinen Namen gaben. Vermutlich blieben die Waschfrauen nicht davor verschont, die Kleidung noch einmal durch aufgefangenes Regenwasser zu schwenken, wenn sie Röcke, Blusen und Hosen auf Dauer tragbar halten wollten.
Ihre Gnaden Dorlike Weißtrunk führte die Gruppe zur praioswärtigen Seite des Tempels. Dort, wo das Bachbett seinen Weg zwischen Häusern den Hügel hinab nahm, öffnete sich ein herrlicher Blick in das Tal, doch die Neuankömmlinge hatten kaum Zeit, die Aussicht zu genießen, waren sie doch ebenso begierig darauf, das Innere des Efferd geweihten Ortes zu erblicken.
Der Eingang war um die zwei Schritt breit. In der Mitte floss ihnen der Sinterbach entgegen, doch war das Bett des Gewässers noch schmal, sodass man bequem rechts und links daneben in das Gotteshaus gelangen konnte. Schon der Eingangsbereich war mit zahlreichen Mosaiksteinen verziert, welche eine faszinierende Unterwasserwelt zeigten, die sich weiter in das Innere des Tempels zogen. Wobei 'Innere' in diesem Fall ein relativer Begriff war; war der kreisrunde Raum doch nicht durch eine Decke begrenzt. Praios Antlitz sandte seine hellen Strahlen ungehindert auf ein Bassin von sechs Schritt Durchmesser. Hier fing sich das Licht an vielen Stellen in weißlichen Schwaden, konnte jedoch mindestens genau so oft strahlende Reflektionen auf das kristallklare Wasser werfen. Die Oberfläche von Efferds Element kräuselte und wölbte sich leicht in der Mitte des Beckens, wo es aus den Tiefen Deres empordrang.
Am Rand war das Wasser noch nicht sonderlich tief; ein erwachsener Mann mochte einen Schritt hinein waten können, ohne, dass seine Knie von dem dampfenden Nass benetzt wurden, doch dann fiel der Grund wie bei einem Kelch steil ab. Das Bassin war ebenso wie die Rinnen draußen mit einer Fläche aus weißem Sinter bedeckt. Nur in der Mitte blickte man in ein Loch aus tiefblauer Schwärze. Der Heiler malte sich aus, wie es sein musste, dort vor sich hinzutreiben und in den Hauch von Unendlichkeit hinabzublicken, den der Unergründliche seinen Gläubigen gewährte. Ein seltsamer Schauer lief ihm über den Rücken und er wandte seine grünen Augen lieber den Wänden zu. Auch hier waren wieder die halbrunden Säulen zu finden. Zwischen diesen waren Bänke in die Wände eingelassen worden, auf denen man Platz nehmen oder seine Kleidung deponieren konnte. Vom Becken waren sie durch einen mosaikverzierten Weg von etwas mehr als einem Schritt Breite getrennt. Ein Überlauf, der wohl die Waschbecken draußen speiste, verhinderte, dass die Mosaiksteine vom Wasser überspült wurden.
Ebenso beeindruckend wie die kräftig sprudelnde Thermalquelle war das Götterbildnis des Herren der Gezeiten auf der gegenüberliegenden Seite des kreisrunden Raumes. Das lebensgroße Abbild zeigte Efferd mit einem Dreizack in der rechten Hand und dem spiralförmigen Haus einer Seeschnecke in der linken. Zwischen den Fingern und Zehen, waren Schwimmhäute herausgearbeitet worden. Die Augen waren aus Lapislazuli und Perlmutt. Ein einfacher Reif aus Muscheln umkränzte das Haupt. Schulterlanges, gewelltes Haar floss um ein überraschend junges und dennoch stolzes Gesicht, welches nur einen kurzen Vollbart zeigte. Der Künstler hatte sich entschlossen, dem Launenhaften, hier am Geburtsort eines Flusses, einen Körper zu geben, der gerade erst dem Jünglingsdasein entwachsen war.
"Die Statue wurde aus dem Sinter geformt, als man das Becken herausgeschlagen hatte", erklärte Dorlike Weißtrunk und fuhr begeistert fort, "die Figur ist aus zwei Teilen zusammengesetzt. Ist es nicht beeindruckend, wie nahtlos der Übergang ist?"
In diesem Augenblick erinnerte sie sich daran, dass eher die Zwergin in ihr gesprochen hatte als die Geweihte des Wassergottes und räusperte sich. Domna Siona beendete ihre Verlegenheit indem sie sich nach den beiden Türen seitlich des Götterbildnisses erkundigte.
"Dort befinden sich die Dinge, die ich für den Gottesdienst benötige, ein kleines Archiv und natürlich die Gaben, die die Gläubigen dem Tempel gestiftet haben. Auf der rechten Seite findet sich außerdem meine Kammer. Klopft einfach, falls ihr meiner bedarft."
Dorlike Weißtrunk ließ den Besuchern des Gotteshauses noch einen Augenblick, bevor sie wieder auf den Dorfplatz trat. Als auch die anderen sich dort wieder versammelt hatten, deutete sie auf ein zweistöckiges Fachwerkhaus, hinter dem ein rechteckiger Sandplatz lag. Saria fühlte sich sofort an die Zeit ihrer Ausbildung erinnert.
"Dort neben dem Gasthaus 'Zum guten Tropfen' lebt seine Gnaden Perval von Bergundtal, dessen Novizen uns begleiten: Harika Sauerstein und Tann Kreisinger."
Der Bursche von vielleicht 15 Lenzen verbeugte sich, doch das gleichaltrige Mädchen mit den blonden, kurzgeschorenen Haaren verschränkte die Arme und erwiderte lediglich: "Seine Gnaden befindet sich auf einer meditativen Reise in den Bergwäldern von Bragahn."
Saria erwiderte den Blick der funkelnden Augen eine Weile bevor sie mit ruhiger, klarer Stimme erwiderte: "Ich verstehe."
Die Efferdgeweihte nahm einen Schluck Quellwasser zu sich, damit die beiden genug Zeit hatten, ihren Gefühlen Ausdruck zu verleihen, doch die Ritterin und die Pagin der Leuin schienen es erst einmal dabei belassen zu wollen.
"Na dann wollen wir mal weitergehen. Du willst sicher noch die Burg in Ruhe anschauen, bevor die Praiosscheibe versinkt und es liegen noch einige Häuser vor uns."
Der rahjawärts gelegene Teil des Ortes bot Gehöfte, die jenen westlich des Platzes in Nichts nachstanden. Ganz am Ende der Stichstraße befand sich die Schmiede des Ortes. Üblicherweise war dieses Gebäude eher in der Mitte einer Siedlung zu finden. Etilian fragte sich, ob sich der Vorfahre des Schmiedes mit Rücksicht auf den Efferdtempel dazu entschlossen hatte, seine Esse dort zu errichten, oder ob es vielleicht ganz andere Gründe gegeben hatte. Nachdem der hünenhafte Schmied ihm kräftig die Hand geschüttelt hatte, betrachtete der Heiler die Mauern, hinter denen Ingerimms Flammen und kräftige Hammerschläge das Eisen zu formen vermochten. Sie waren wie der Tempel aus dem Gestein der Umgebung zusammengefügt worden und machten den Eindruck, uralt zu sein.
Da der Schmied kaum eigenes Land bestellte, trennte ihn nur ein kleiner Garten von dem Boronsanger Bergunds, in dessen Mitte, im Schatten zweier Mehlbeeren, ein kleiner Schrein errichtet war. Von dort blickte jedem, der den letzten Ruheort der Dorfbewohner betrat, ein aus dunklem Gestein gehauener Golgari mit kleinen Knopfaugen entgegen und wachte über die Toten, die ihm anvertraut worden waren.
Ebenso schweigend wie das Abbild des Totenvogels erwiderte Etilian das ewige Starren der kleinen Statue. Sie ließ ihn an den Gefährten denken, dessen Verlust in seinem Herzen einen schwarzen Schmerz hinterlassen hatte, der einfach nicht weichen wollte. Wie lange es wohl noch dauern würde, bis sich ihm ein neuer Vertrauter offenbaren würde? Wenn es nötig war, dass er zuvor seinen Schmerz besiegte, müsste er wohl alle Hoffnung fahren lassen, jemals diese Einsamkeit hinter sich lassen zu können. Der Gedanke ließ dem Heiler die Kehle eng werden. Etilian musste sich dazu zwingen sich abzuwenden, bevor seine Schwester seine dunklen Gedanken bemerkte und schloss sich wieder der Gruppe an.
Der Weg zurück zum Dorfplatz war schnell geschafft, jetzt, da alle Höfe besucht und alle Bauersfamilien gesprochen waren. Die Dörfler hatten sich wieder an ihre Arbeit auf den Feldern, in den Ställen und Stuben gemacht und Saria wurde neben ihrer Familie nur noch von ihrer Gnaden Weißtrunk, dem Schulzen Jobdan und Tann Kreisinger begleitet, als sie den Weg die Anhöhe hinaufschritt. Die Sonne, die sich bereits auf die Abendstunden vorbereitete, ließ ihr orange-goldenes Licht auf ein doppelflügeliges Tor in einer drei Schritt hohen Mauer fallen. Die hölzernen Flügel des Durchlasses waren geschlossen und machten einen massiven Eindruck, jedoch war die aufgebrachte, rote Farbe schon so weit abgeblättert, dass nur ein wahrer Optimist noch von einem Anstrich sprechen würde.
"Die beiden Büttel des Barons haben die Burg verlassen, sobald sie von der Neubelehnung erfahren haben", erklärte die Hügelzwergin, als sie den Pfad emporstiegen und in ihrer Stimme klang Sorge mit. "Ich war selten dort oben, aber ich befürchte, es steht nicht alles zum Besten."
Etilian wechselte einen besorgten Blick mit seiner Schwester, doch diese zuckte nur mit den Schultern und stieß die Torflügel auf. Nachdem die neue Burgherrin den Eingang durchschritten hatte, konnte sie erkennen, dass die Außenmauer in keinem guten Zustand war: Sie umspannte zwar die gesamte Kuppe der Anhöhe, war jedoch an zwei Stellen völlig in sich zusammengefallen. Auch war sie nicht mit einem Umlauf versehen und wäre somit selbst im besten Zustand gegen einen Angriff nur schwer zu verteidigen. Die Umfriedung schloss einen völlig verwilderten Garten ein: Wildblumen und Brenesseln hatten den Boden für sich erobert. Aus dem Gestrüpp erhoben sich Obstbäume deren schuppige Rinde von blass-grünen Flechten überzogen waren. Eine wohl um die zwölf Schritt hohe Zwetschge, deren ausgehöhlt Stamm schon auseinanderzubrechen drohte, überragte die Stallungen. Das Reetdach war zur Hälfte eingefallen und die Lehmwände waren bröcklig. Auch das L-förmige Nebengebäude hatte schon bessere Tage gesehen.
Der Donjon hingegen war gut instand gehalten worden. Etilian sah vor seinem inneren Auge geradezu, wie die Soldaten den Auftrag erhalten hatten, die Anlage im verteidigungsfähigen Zustand zu halten und genau daran hatten sie sich gehalten - und kein Stück mehr.
"Bei den Göttern, das wird eine Menge Arbeit, die hier auf uns wartet", murrte der Heiler und stieß einen inbrünstigen Seufzer aus. Seine Schwester lachte nur.
"Es wäre doch wohl auch langweilig, wenn nichts zu tun wäre, oder? Wie es aussieht haben wir ein festes Dach über den Kopf. Das ist doch das Wichtigste für den Anfang."
Etilian blickte seiner Schwester an und er sah, wie die Zukunft in ihren Augen Form annahm. "Wir sind daheim, Bruder. Alverans Segen ruht auf uns."
Ihr Blick richtete sich wieder auf Burg Sinterquell.
"Er ruht wahrlich auf uns."