Eine Linde schlägt Wurzeln - Den Blick verstellt

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Land am Greifenpass im Ingerimm 1033 nach Bosparans Fall

Wieder eine Anhöhe geschafft!
Etilian wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er den Blick über die Aussicht schweifen ließ, die sich vor ihm eröffnete. Die grauen, schneebedeckten Gipfeln des Kosch waren jetzt ganz nah und Schäfchenwolken trieben gemächlich über einen strahlend blauen Himmel. Die Praiosscheibe warf ihre Schatten auf den Boden, wo sie über das saftig-grüne Gras der Almen und die dunklen, undurchdringlichen Tannenwälder glitt, die die steil abfallenden Täler des Hochgebirges bedeckten. Ihr harziger Duft vermengte sich mit der klaren Bergluft und dem süßen Bouquet der Kräuter und Blumen zu einem erfrischenden, leicht herben Aroma.
Der Heiler atmete tief durch, während er ein rasches Gebet an Aves richtete, in dem er darum bat, dass er sich nicht völlig verirrt haben möge. Sein Orientierungssinn war nicht der beste, aber nachdem er in Rhôndur Gerüchte von einer weisen Kräuterfrau vernommen hatte, welche in der Nähe des Greifenpasses leben sollte, hatte er dem einfach nachgehen müssen. Er hatte sich bei Graf Wilbur entschuldigt und versprochen, ihm so rasch wie möglich nach Grauensee zu folgen.
Der angehende Hofmedicus hatte nicht wirklich ein schlechtes Gewissen deswegen, denn er konnte die Reise auch dazu nutzen, die unberührten Wiesen, Wälder und Auen zu durchstreifen und zahlreiche heilsame Pflanzen in seine Kiepe wandern zu lassen. Auch hatte Etilian mit den Menschen in den Bergdörfern geredet, die teilweise Beeindruckendes von den Anwendungsmöglichkeiten verschiedener Kräuter über Generationen weitergegeben hatten. Und wenn ihn der freundliche, alte Senner in dem kleinen Weiler gestern nicht angelogen hatte, war es auch nicht mehr weit bis zum Ziel seiner Reise. In ruhigem Tempo schritt Etilian weiter voran.
Seiner Schwester hatte er nur einen kurzen Brief geschrieben und ihr die Gründe mitgeteilt, warum er noch nicht nach Valpos Horn zurückkehren konnte. Er war ganz froh gewesen, ihr dies nicht persönlich berichten zu müssen.
Saria war ein durchweg optimistischer Mensch, doch er befürchtete, dass sie dennoch beunruhigt reagieren würde. Genau genommen konnte er ihr das kaum vorwerfen. Er war ja selbst noch immer am Grübeln, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte.
Als der Graf der Hügellande zu den Waffen gerufen hatte, wollte seine Schwester sofort aufbrechen. Immerhin hatte auch Gero vom Kargen Land auf dem Familiengut angekündigt, der Aufforderung des Grafen zu folgen. Zu ihrem Schutz hatte Etilian daraufhin die Karten gelegt. Es war ein komplexes Muster, welches er nicht mehr in allen Einzelheiten erinnerte, doch ausschlaggebend waren für ihn die Lage der Karten von Rondra, Praios und Travia gewesen. Der Hexer hatte diese so gedeutet, dass seine Schwester die Ritterin (Rondra) von ihrer Familie (Travia) Gutes aus dem Süden (Praios) zu erwarten hatte. Deswegen hatte er sie davon überzeugt, in der Baronie Zwischenwasser zu bleiben und war an ihrer Statt gegangen.
Doch vielleicht hatte er sich auch geirrt? Er neigte dazu, wichtige Ereignisse auf seine Schwester zu beziehen. Vielleicht hatte Rondra auch für den Kampf in Trolleck gestanden, Praios für das Amt, welches ihm für seine Treue, im Inrah verkörpert durch Travia, angeboten worden war. Ja, so musst es sein. Er hatte lediglich sein Schicksal angenommen, also musste er auch keine Angst vor der Zukunft haben!
Das nahe Krächzen eines Raben riss Etilian von Lindholz-Hohenried aus seinen Gedanken. Überrascht richtete der braunhaarige Mann den Blick seiner grünen Augen hoch in das Geäst der einsam stehenden Lärche, in deren Schatten ihn der steinige Pfad geführt hatte. Die Sonnenstrahlen fielen zwischen den Ästen mit ihren hellgrünen, kurzen Nadelbüscheln und den ovalen, taubeneigroßen Zapfen hindurch und blendete ihn.
Der Adlige musste ein wenig nach links und zwei Schritte nach hinten gehen; dann entdeckte er nahe dem Stamm mit seiner schuppigen Borke den schwarzfedrigen Vogel von beeindruckender Größe. Kluge, dunkle Augen schauten zu ihm herab und Etilian hatte den Eindruck, dass der Blick des Tieres bis tief in seine Seele reichte.
"Wirst Du mich zu ihr führen?" fragte der Heiler, während er die Riemen der Kiepe verschob, um die Schultermuskeln zu entlasten.
Einen Augenblick schien es so, als wollte der geflügelte Vertraute die Frage unbeantwortet lassen, dann beugte er sich nach vorne und ließ sich nach unten fallen. Erst weniger Halbfinger über dem Kopf des Adligen spannte er die Flügel auf und zwang diesen, um auszuweichen in die Knie zu gehen.
Mit einigen Flügelschlägen stieg der nachtschwarze Vogel ein paar Schritt in den Himmel hinauf. Dann ließ er sich von den Aufwinden weitertragen. Er hatte keine Eile und immer wieder ließ er sich auf einem Felsvorsprung, einem Strauch oder Baum nieder, um auf den ihm folgenden Wanderer zu warten. Dieser hatte seine liebe Mühe, denn der Kurs des Vogels führte querfeldein über staubiges Geröll und die teils steil aufsteigenden Wiesen. Einige Bergziegen mit langem, buschigem Fell verfolgten interessiert den teils halsbrecherischen Weg des angehenden Hofmedicus. Diesem lief inzwischen wieder der Schweiß über die Stirn und der Rücken verlangte inständig nach einer Pause.
Etilian war schon kurz davor, das Risiko einzugehen und seinen gnadenlosen Führer einfach warten zu lassen, als hinter einer kleinen Gruppe von tiefgrünen Tannen, am Lauf eines schimmernden Bergbaches endlich eine Haus in sein Blickfeld trat. Erleichtert atmete er auf, während er mit neuer, durch die Hoffnung geweckten Kraft die letzten Schritte überbrückte.
Das Gebäude war einstöckig, wobei man sicherlich unter dem mit dicken, hölzernen Schindeln bedeckten Dach noch einen Heuboden oder Lagerraum einrichten könnte. Der größte Teil des Hauses bestand aus den hiesigen Nadelhölzern, welche in einer stabilen Blockbauweise zusammengefügt worden waren. Einzig das Fundament und der Kamin, aus dessen Schornstein eine dünne, gräuliche Fahne hinauswehte, waren aus Stein gefertigt. Leise waren das Gemecker von Ziegen und das unruhige Gackern von Hühnern aus dem hinteren Teil zu vernehmen, als Etilian nach einem beherzten Sprung über den kristallklaren Gebirgsbach und einigen kräftigen Schlücken von dessen Nass an der Seite des kleinen Berghofes vorbeischritt.
Nachdem er die vordere Seite erreicht hatte, konnte der Heiler die aus knorrigen Ästen zusammengefügte Sitzbank neben der einen Spalt geöffneten Eingangstüre erkennen. Dort saß eine nach vorne gebeugte Gestalt, die gemächlich Korn in einer einfachen, aus zwei Steinscheiben bestehenden Handmühle zu Mehl zerrieb. Der Rabe hatte sich auf die Schulter der Person gesetzt, deren Gesicht von grauen, strähnig gelocktem Haar verborgen war, welches unter einem schwarzen Kopftuch hervorfiel. Auch die restliche Kleidung unterschied sich nicht von dem, was man von einer hiesigen Bäuerin erwarten würde: Eine hellbeige Bluse, darüber ein grün-rot verziertes Halstuch, ein dunkelbrauner Rock und schwarze Lederschuhe zwischen deren Schnüren dicke Wollsocken hervorquollen.
Obwohl sich Etilian kaum vorstellen konnte, dass die alte Frau ihn nicht bemerkt hatte, wo er doch nur noch einen knappen Schritt von ihr entfernt stand, zeigte sie keinerlei Reaktion auf seine Anwesesenheit. Lediglich die schwarzen, runden Augen des Raben ruhten aufmerksam auf ihm. Scheinbar gleichgültig hielt die Person, wegen der er die strapaziöse Reise in die Berge auf sich genommen hatte, den unteren Mühlstein mit der linken Hand fest, während sie mit der rechten die Kurbel im Kreis führte. Das gleichmäßige, schabende Geräusch begleitete das unhörbare Rieseln des Mehls, welches in eine hölzerne Schüssel zur rechten der Sitzenden fiel. Ab und an nahm die Alte eine weitere Hand Getreide, um sie über die Öffnung in der Mitte zwischen die mahlenden Steine zu befördern.
Schließlich fasste sich Etilian ein Herz und fragte: "Seid Ihr Teka Simmerlerch?"
Wieder wartete er eine Zeit lang, doch eine Antwort blieb aus. Wenn sie ihn ansehen würde, könnte er wenigstens überprüfen, ob sie seiner Zunft angehörte, dachte er. Gerade begann er, eine Möglichkeit zu ersinnen, um ihren Blick einzufangen, als endlich die die recht hohe Stimme der Alten erklang: "Du bist viel zu ungeduldig, Etilian von Lindholz. Das ist wahrlich Dein Problem."
"Ihr kennt also meinen Namen", stellte der Heiler beeindruckt fest.
"Überrascht Dich das wirklich?"
Zum ersten Mal blickte ihn die Seherin von Heute und Morgen und Etilian zuckte lediglich verlegen mit den Schultern, da er sich belehrt fühlte wie ein Schuljunge.
"Und hör auf mit diesem 'ihr'. Ich bin vielleicht nicht die Jüngste, aber noch hält alles ganz gut zusammen und ich bin nicht in mehrere Teile zerfallen", fügte die Hexe grantig hinzu.
Der braunhaarige Adlige war so erfreut, endlich Teka Simmerlech gefunden zu haben, dass er über ihre ersten Worte gar nicht weiter nachdachte, sondern losplapperte: "Ich danke Satuaria, dass sie mich zu Dir geführt hat! Der Zirkel in Darpatien, dem ich angehörte, ist zerschlagen; einige haben sich sogar dämonischen Kräften zugewandt. Und mein geliebter Dimo ist gestorben. Schon seit so vielen Monden bin ich allein und diese Einsamkeit lastet schwer auf meinen Schultern. Ich bitte Dich: Nimm mich in Deinen Zirkel auf!"
"Nein", antwortete Teka trocken.
Die Hoffnung in Etilians Augen verwandelte sich in verunsichertes Erstaunen und das Lächeln auf seinem Gesicht ließ deutlich nach. Der Hexer musste tief durchatmen, bevor er sich wieder so weit gefangen hatte, dass er weitersprechen konnte.
"Könnt... Kannst Du mir auch sagen, wieso nicht?"
"Das fragst Du noch?"
Verärgerung war in den Zügen der Alten abzusehen. Energisch nahm sie eine weitere Hand Korn, führte sie der Mühle zu und wand den Blick nach unten auf ihre kreisende Hand, als mochte sie ihn nicht weiter ansehen.
"Du versuchst das Schicksal dieses Landes zu beeinflussen! Es gibt gute Gründe, warum wir Seherinnen uns aus weltlichem Geschehen heraushalten. Es ist unsere Aufgabe, das Schicksal der Welt zu verfolgen und mit sanftem Fingerzeig auf Gefahren hinzuweisen. Aber wir mischen uns nicht in diese Dinge ein. Die Welt zu gestalten, ist anderen überlassen."
"Was habe ich denn schon groß getan?" fragte Etilian entgeistert.
"Du hast den Grafen mit einem Zauber beeinflusst. Glaubst Du etwa, dass Du es bei dem einem Mal belassen wirst, wenn Du dem Graf auf Dauer so nahe bist?" antwortete die Hexe.
"So viel kann Euch unmöglich das Zweite Gesicht verraten haben. Ihr habt meine Gedanken gelesen!" erbost blickte Etilian zu dem Raben, der unbeeindruckt krächzte und mit den Flügeln schlug.
"Dieses Vorgehen dient meinem Schutz. Schließlich ist dies mein Land. Außerdem suchtest Du doch meinen Rat und ich versuche nur zu helfen."
"Glaubst Du, ich habe mit meinem Handeln etwas anderes tun wollen, als zu helfen? Was ist tat, tat ich doch nur zum Schutz der Grafschaft und des Grafen; nicht aus persönlichem Ehrgeiz. Er ist noch sehr jung und ich wollte ihm nur ermutigen, seinen Weg weiterzugehen. Außerdem haben mir die Karten dieses Schicksal vorhergesagt", führte der Heiler aus und verschwieg hierbei, dass dies nicht das war, was er am Anfang aus dem gelegten Kartenmuster abgelesen hatte.
Die alte Frau seufzte und blickte für einen Moment mit müden Augen zu dem Adligen auf
"Wenn es so einfach wäre, seine eigene Zukunft vorherzusagen, wäre wohl nie eine unserer Schwestern auf dem Scheiterhaufen verbrannt, Bruder. Auch wenn man sich selbst am besten zu kennen glaubt, ist es doch so schwer, das eigene Ich zu sehen. Wenn Du es könntest, wüsstest Du auch, dass Du auf einem Weg bist, welcher Dich immer weiter weg von unserer Schwesternschaft führt. Deswegen wirst Du nie wieder einem unserer Zirkel beitreten können, wenn Du Deine weiteren Schritte nicht mit bedacht wählst. Auch wird kein Rabe je wieder Deine Nähe suchen. Ich sehe große Schatten in Deiner Zukunft. Denk darüber nach."
Etilian sog hörbar die Luft ein.
"Wie kannst Du nur so reden? Was weißt Du schon von mir? Ich bereue nicht, dem Grafen beigestanden zu haben und seine Dankbarkeit bedeutet mir viel! Ich werde mich ihrer als würdig erweisen", brachte Etilian aufgebracht hervor und fuhr nicht weniger laut fort: "Die Jahre haben wohl nicht nur Deinen Blick getrübt. Du siehst nur noch was Du sehen willst! Wenn ich hier nicht erwünscht bin, dann werde ich weiter alleine mein Schicksal suchen. Und ich werde einen Vertrauten finden, der diesen Wunsch mit mir teilt. Auch ohne Deine Hilfe!"
Verbittert wandte der adlige Hexer sich ab und ging davon, als er nur Schweigen von der Alten hörte.

Der ehemalige Darpatier war nur noch ein kleiner Punkt auf dem Grün der Almwiese. Traurig blickte Teka auf und streichelte das schwarze Gefieder ihres Gefährten.
"Ich bin die Sache wohl falsch angegangen, oder? Vielleicht werden meine Augen wirklich schlechter", merkte sie an, und Ihr Vertrauter krächzte zur Antwort.