Du und all mein Glück - Anfangs war es eine Grille
Oberangbar, 5. Rondra 1042
Es war zur Mittagsstunde des 5. Rondra, und ganz Oberangbar war von emsiger Geschäftigkeit erfüllt. Gassen, Gärten, Höfe und Häuser wurden geschmückt für das kommende Fest,
den Heldentag von Brig-Lo, der im Koscherlande zwar nicht zu den wichtigsten Daten im Kalender zählt – doch warum sollte man sich einen Grund zum Feiern entgehen lassen? Manch
einer hatte die Verwandtschaft oder Freunde aus dem Umland eingeladen, und so wunderte es niemanden, dass sich auch eine edle Gesellschaft auf dem Weg zum »Dotterhaus« befand. So
hieß im Volksmund nämlich der Sitz des Barons, weil ein großer Teil des Gebäudes aus gelbem Fachwerk bestand. Überhaupt fand man in Oberangbar kein einziges Haus, das gänzlich aus Stein errichtet war, abgesehen von der »Alten Trutz«, dem Bergfried aus der Gründerzeit, der wie ein dicker Humpen auf der Hügelkuppe thronte. Ansonsten sah man nur Sockel aus
Bruchstein und darüber buntgefärbtes Fachwerk in Schneeweiß, Rostrot, Grasgrün oder Himmelblau.
Reich war Oberangbar nicht, doch es herrschte ein bescheidener Wohlstand, den man einerseits der günstigen Lage verdankte, andererseits dem glücklichen Umstand, dass der Ort vor den Verwüstungen im Jahr des Feuers verschont geblieben war. Einzig den Baron hatte man damals verloren, als Seine Hochgeboren Tradan von Unterangen Hals über Kopf die Flucht ergriffen hatte. Seither residierte der Herr Wolfhardt von der Wiesen im »Dotterhaus«, und soeben trat er vor die Tür desselben, um seine Gäste willkommen zu heißen. Es war vor ein paar Wochen gewesen, beim Fest von »Fürstlich Gnaden« zu Angbar, da hatte er seine Nachbarin Tsaja-Josmene von Garnelhaun mit ihrer Familie zu sich eingeladen. Mit ihrer Familie, das hieß vor allem, mit ihren Töchtern. Im Grunde war es ein Zufall, der zu dieser Einladung geführt hatte. Beim Bankett nämlich hörte der Baron, wie sich zwei junge Ritter unterhielten; der eine sagte zum andern: »Seht Ihr die edle Dame dort vorne? Sie gilt als eine der besten Partien im Lande.« Damit war Brinessa Praiodane Angenlind gemeint, die älteste Tochter der Baronin von Garnelhaun. Und in der Tat: Sie stammte nicht nur aus altem Adel, sondern war auch bezaubernd schön und tugendhaft.
Anfangs war es eher eine Grille, die den Baron von Oberangbar dazu veranlasste, Tsaja-Josmene von Garnelhaun zum Tanz zu bitten und ihr zwischen zwei galanten Drehungen den Vorschlag zu machen, den Heldentag von Brig-Lo gemeinsam in Oberangbar zu feiern. Doch dann ließ ihn die Sache nicht mehr los: Vielleicht war es ja wirklich an der Zeit, noch einmal auf Brautschau zu gehen. Acht Jahre waren mittlerweile vergangen, seit Wolfhardts Gattin im Kampf gefallen war; noch immer gab es keinen Erben für die Baronie – und überhaupt, es war sehr still geworden in seinem Hause. So still, dass manche schon munkelten, der »Fürst der Dichter« habe seine Harfe an den Nagel gehängt und sei in Trübsinn versunken. Also waren sie nun hier, die edlen Nachbarn aus Garnelhaun: zuvörderst die Baronin und ihre älteste Tochter, außerdem ihr Bruder Travian von Trallikshöh mit seinem Anhang. Wolfhardt kannte den Junker wohl, denn er war ein glühender Verehrer des Herrn Firun und weilte regelmäßig in Oberangbar bei den Treffen des Hanghasenordens. Auch heute trug Travian ein grünes Wams nach Waidmannsart, und sicher hätte er sich bei dem herrlichen Wetter lieber in den Wald begeben als in die gute Stube des Barons; seine grämliche Miene ließ jedenfalls darauf schließen. Neben ihm stand seine Gattin Vieska von Gormel, von der es hieß, sie sei zwar von der Mutter Travia, doch nicht so sehr von Hesinde gesegnet. Begleitet wurde sie von einem schlaksigen Burschen und einer jungen Dame, die etwa zwanzig Lenze zählen mochte. Verglichen mit der atemberaubenden Erscheinung Brinessas wirkte sie fast unscheinbar, aber auch sie besaß die sinnlichen Lippen und die rehbraunen Augen, die den Frauen aus dem Hause Garnelhaun zueigen sind. »Dies hier«, erklärte Vieska von Gormel und wies auf den Jungen, »ist Immo. Er heißt nach meinem Vater und ist schon jetzt ein tüchtiger Bogenschütze. Und das ist Nadyana, unsere älteste Tochter. Sie hat Euch, Herr Wolfhardt, vor Jahren beim Sängerstreit zu Trallik gehört, und seither schwärmt sie von Euch.« Der Bruder grinste, der Vater brummte, die Tante lächelte. Nadyana indessen war bei den Worten ihrer Mutter puterrot geworden und hatte die Blicke gesenkt. Am liebsten wäre sie sogleich im Boden versunken. »Das ... freut mich zu hören«, sagte der Baron, und die Jungfer war sich nicht ganz sicher, wie sie den Tonfall in seiner Stimme zu deuten hatte.