Du und all mein Glück - Bleib dabei, es wird schon werden!

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Oberangbar, 5. Rondra 1042

Die Zeit fürs Abendessen war gekommen. So fand man sich zum zweiten Mal an diesem Tag im Speisezimmer des »Dotterhauses« ein. Nun war auch Alane von Tarnelfurt zugegen, die Tante des Hausherrn. Wie so oft bei heißem Wetter plagten sie auch heute die fürchterlichsten Kopfschmerzen, und so hatte sie sich vor der Ankunft der Gäste zurückgezogen in ihr dunkles Gemach, um mit einem kühlen Tuch auf der Stirn lautlos vor sich hin zu leiden. Jetzt aber bewachte sie mit strengen Blicken jeden Handgriff des Gesindes, denn nichts war schlimmer als ein misslungenes Mahl. Außer vielleicht der Alagrimm.
»Ich hoffe, es gibt Wild!«, brummte Travian von Garnelhaun und schnupperte erwartungsvoll. »Zumindest einen Hasenbraten, gut gespickt!«
Zunächst einmal gab es eine Rübensuppe, wogegen nichts zu sagen war. Den Hauptgang aber bildeten Forellen, in hellem Mehl gewälzt, in brauner Butter gebraten, gefüllt mit frischen Wiesenkräutern. »Ach du meine Güte!«, seufzte der Jäger von Trallikshöh, als er die Bescherung erblickte. »Wie soll man das nur essen? Alles voller Gräten!«
Wortlos reichte ihm seine Gemahlin ein schönes Stück Forelle herüber, das sie bereits von allen Gräten befreit hatte. Brummend nahm er es entgegen. Der Nachtisch – Beerengrütze mit saurem Rahm – erfreute wieder alle Gaumen.
Nachdem die Tafel aufgehoben worden war, begab sich die kleine Gesellschaft ins Musikzimmer. Und hier sah Nadyana endlich das, worauf sie so lange gewartet hatte: Die Wände waren geschmückt mit wundersamen Instrumenten aus aller Herren Länder. Da gab es eine almadanische Laute, eine yaquirische Mandoline und eine Fiedel aus Darpatien, eine elbische Flöte, eine tobrische Schalmei und ein bornisches Horn. Auf einem Bord standen etliche Bücher, Octav- und Quartbände zumeist, und auf einem Lesepult lag ein in rotes Leder gebundener Foliant mit der Geschichte des Neuen Reiches.
»Ihr scheint mir eine wohlgefüllte, große Schatulle zu besitzen«, meinte Tsaja-Josmene, und es war schwer zu entscheiden, ob es im Scherz oder aus Neid gesagt war. Wolfhardt seufzte. »Groß ist die Schatulle durchaus, aber nicht ganz so gefüllt, wie es den Anschein hat. Das meiste von dem, was Ihr hier seht, sind Geschenke von reichen Gönnern. Die Mandoline zum Beispiel ...«
»Mein lieber Neffe«, fiel ihm seine Tante ins Wort, »statt lange Reden über Instrumente zu halten, solltest du sie lieber spielen, um deinen Gästen – und auch mir – die Zeit zu vertreiben.«
»Wohl gesprochen!«, meinte Brinessa und machte es sich bequem. »Wie wäre es mit einem rondragefälligen Heldenlied?«
Das ließ sich der Baron nicht zweimal sagen. Er ging zu einer großen Truhe, öffnete sie und holte daraus seine Harfe hervor. Es war ein herrliches Stück, um das sich bereits etliche Sagen rankten. Die einen behaupteten, es sei ein altes Artefakt von Elbenhand; andere hatten gehört, die Fee Farindel habe es dem Dichter einst geschenkt, als Dank für ein Lied über sie und den Zauberwald, in dem sie lebte. Der Baron freilich sagte nichts dazu, sondern griff in die Saiten und begann zu singen:
»Ein Hornstoß schallt durch das ganze Tal,
Ein Warnruf vom Angenburgturme,
Denn Legionen marschieren in großer Zahl,
Und Bosparan rüstet zum Sturme!«
Da klatschte Jung-Immo in die Hände und rief: »Das kenne ich!« Doch sein Vater gebot ihm zu schweigen, und so begnügte sich der Junge darauf, leise mit seinem Fuß den Takt zu stampfen.
Das Lied vom Widerstand der alten Schwurbündler regte den Junker dazu an, im Anschluss ein langes Gespräch über die Lage in Wengenholm zu beginnen ... und über die Zwerge von Koschim ... und die Orkengefahr ... und die Umtriebe der bösen Charissia von Salmingen. Wann man denn endlich ihrer habhaft werden und sie ihrer mehr als gerechten Strafe zufüh- ren würde? – Keiner wusste darauf eine Antwort, und so schaute der Junker grimmig triumphierend in die Runde, als habe er soeben einen großen, noch unbekannten Missstand im Lande aufgedeckt.
Nadyana seufzte und blickte sehnsüchtig nach Wolfhardts Harfe hinüber. Der Abend hatte so gut begonnen, und nun schwiegen die herrlichen Saiten schon wieder. In eine Pause des Gesprächs, als alle sinnend in die Flammen des Kamins starrten, sagte sie plötzlich: »Herr Wolfhardt, darf ich eine Bitte äußern?« Es war das erste Mal, dass sie an die- sem Tag den Hausherrn von sich aus ansprach.
Wolfhardt von der Wiesen hob die Brauen und wandte sich ihr zu. »Aber natürlich, Jungfer Nadyana. Womit kann ich Euch dienen?«
»Würdet ...« – sie räusperte sich, dann fing sie nochmals an – »Würdet Ihr mir die Ehre erweisen, einmal mit Euch spielen zu dürfen?«
»Wie darf ich das verstehen?«, fragte der Baron.
»Ach ja, das Kind und seine Flöte!«, rief Frau Vieska dazwischen. »Die liebt sie heiß und innig. Seid doch so gut, Herr Nachbar, und tut ihr den Gefallen.«
Schon bereute Nadyana, ihre Bitte geäußert zu haben. Die Mutter war zwar herzensgut, doch manchmal war sie einfach ... ach, sie wusste auch nicht wie. Nun stand sie wieder ein- mal da wie ein kleines, verträumtes Mädchen, und dabei war sie doch ... »Das werde ich gerne tun«, erwiderte der Baron und sah Nadyana fragend an. »Was für ein Lied soll es denn sein?«
»Du und all mein Glück!« Die Antwort kam wie der Blitz, und zur gleichen Zeit spürte sie, dass sie wieder über beide Ohren rot wurde.
»Dann soll es so sein. Holt also Eure geliebte Flöte und ...«
»Ich trage sie immer bei mir!«, rief Nadyana und zog das kleine Rohr aus ihrer Tasche. »Sie hat’s von einem Kiepenkerl gekauft, soweit ich weiß«, erklärte die Mutter. Doch wurde sie damit der Wahrheit nicht ganz gerecht.
Nadyana erinnerte sich noch genau. Es war vor sechs Jahren gewesen, am ersten Tag im Traviamond, und die Bäume in den Wäldern hatten schon begonnen, sich rot und golden zu färben. Doch noch immer war es mild und warm, und Nadyana saß an einem Bachlauf unweit des Gutes, spielte mit den Händen im Wasser und pfiff ein Liedchen vor sich hin. Eben jenes Lied des Wieseners.
Da hörte sie plötzlich eine tiefe Stimme hinter sich sagen: »Ein hübsches Vöglein sitzt da am Bach, doch fehlt ihm noch der Schnabel zum Pfeifen.«
Erschrocken fuhr sie herum. Da stand ein Krambold auf dem Weg, ein hünenhafter Kerl mit zottiger roter Mähne und einem stattlichen Bart, die Nase dick wie eine Rübe, die Äuglein klein und schwarz wie Kohlen. Sein Mantel war mit tausend Flicken aus Filz und Leder be- näht, als gäbe es ihn schon viele hundert Jahre lang und immer wieder sei er ausgebessert worden, um den Wandersmann auf seinen Reisen gegen Wind und Regen zu schützen. In den Händen hatte der Fremde einen knotigen Stecken, mit dem er einem Rittersmann den Helm zerbeulen konnte. Und auf dem Rücken trug er ein gewaltiges Gestell, von dem Tiegel und Töpfe, Trinkschläuche und Tücher, Kämme aus Bein und kleine Kräutersäckchen baumelten. Nun griff der Krambold nach hinten und zog – wie auch immer das so schnell gehen mochte – eine kleine, zierliche Flöte hervor; die reichte er Nadyana.
»Hier, nimm, mein Vögelchen, und spiel’ einmal darauf.«
Nadyana, die sich zuerst vor dem Fremden gefürchtet hatte, setzte gehorsam die Flöte an die Lippen und begann zu spielen. Da fiel ihr ein, dass sie ja gar nicht wusste, wie es geht und wie die Finger zu greifen hatten, und so wurde nur Unsinn daraus. Doch der Klang der Flöte war erstaunlich rein und klar.
Der Fremde lachte und rief: »Du musst noch üben, manches Jahr. Bleib dabei, es wird schon werden!« Und damit wandte er sich um und stapfte durch den Wald davon. Sie sah ihn niemals wieder.
Die Jahre vergingen, und sie übte. Wann immer eine ruhige Stunde kam (und es waren derer viele in den langen, dunklen Winternächten auf Trallikshöh), da zog sie sich zurück mit ih- rer Flöte und spielte. Das Schönste aber war für sie der Rahjamond, wenn in Trallik der Wett- streit der Sänger ausgetragen wurde; dann saß sie da und lauschte, und jedes Mal hoffte sie, ein neues Lied zu lernen und ihren Schatz an Melodien zu erweitern. Von den Liedern des Herrn Wolfhardt hatte sie schon viele gehört, doch spielen konnte sie nur zwei; die hatte sie von einem fahrenden Barden gelernt. Und eines davon war »Du und all mein Glück«. Das spielten sie nun zu zweit, die Jungfer und der Baron.
Bei der ersten Strophe litt sie Höllenqualen, weil sie stets befürchtete, dass die Töne miss- raten könnten. Aber alles ging gut. Wolfhardt griff in die Saiten und sang:
»Rauscht ein Bach vom Berg zum Tal,
Über Fels und Stein,
Saß dort schon so viele Mal,
Saß dort ganz allein.«
Bei der zweiten Strophe wurde Nadyana schon ruhiger. Die Töne der Harfe und die ihrer Flöte schwebten miteinander im Takt dahin, die Harfe wie das Plätschern des Baches, die Flö- te fein und hell darüber wie das Zwitschern der Vögel im Wald.
»Saß dort einmal wohl zu oft,
In der Mittagsruh’,
Hatte mir nie ’was erhofft,
Aber dann kamst du:
Durch den blauen Sommertag,
Durch den Wiesengrund,
Wo ich müd’ im Schatten lag
In der Mittagsstund’ –«
So sang er, und sie spielte dazu. Bei der vierten Strophe nahm sie allen Mut zusammen und wagte die kleine Variation, die ihr an einem Winterabend einmal in den Sinn gekommen war. Ängstlich schielte sie zu Wolfhardt hinüber, wie er darauf reagieren würde, und sie vermeinte, ein leichtes Heben seiner Augenbrauen zu erkennen.
»Setztest dich auf einen Stein,
Ließ’t die Haare weh’n,
Tauchtest in die Flut hinein,
Deine nackten Zeh’n.
In der fünften Strophe spielte er nach ihrer Weise.
»Sprachest nicht ein einz’ges Wort,
Sahst nur zu mir her.
Lachtest und gingst grußlos fort,
Durch das Blütenmeer.«
In der sechsten auch. Ach, es war so herrlich, wie sich ihre Stimmen vereinten zu völligem Einklang und sanfter Harmonie. Als er plötzlich die Weise langsamer werden und fast stocken ließ, da ahnte sie es voraus und kam nicht aus dem Takt, und als er ein Zwischenspiel ein- flocht, da fanden ihre Finger wie durch Zauberhand die richtigen Töne. Oder meinte sie es nur, und in Wahrheit war es wieder einmal völliger Unsinn, was sie spielte? Nein, es klang so wunderbar in den Ohren und im Herzen, es musste richtig sein.
»Und ich Träumer, und ich Tor,
Sah dir sprachlos nach,
Brachte nicht ein Wort hervor,
Nur ein leises: Ach.«
Nun waren es bloß noch zwei kurze Strophen. Danach würde es zu Ende sein, das Lied.
»Hab’ seither gar oft geträumt,
War seither oft hier,
Wo der Bach durch Felsen schäumt,
Hab’ geträumt von dir.«
Ja, es war ganz sicher nur ein Traum!
»Doch ich finde keine Ruh’,
Kommst du nicht zurück:
Haar im Wind und ohne Schuh’,
Du – und all mein Glück.«
Die letzten Töne verklangen, und einen Herzschlag lang war es still. Nadyana spürte, wie sie am ganzen Körper bebte. Dann klatschten die Verwandten in die Hände, und ihre Mutter rief: »Wie nett!«, und auch die anderen sagten etwas dieser Art. Ihr Vater brummte nur. War es denn »nett« gewesen? Wirklich nur nett? Nichts anderes als nett? Hatte nur sie die Magie der Musik gespürt und niemand sonst? War sie wirklich eine Traumsuse, wie ihre Mut- ter oft sagte?
Und Wolfhardt? (Sie dachte: »Wolfhardt«, nicht »Herr Wolfhardt«, nicht »Hochgeboren Wolfhardt«, nicht »der Baron«) – Was hatte er empfunden? Er musste es doch auch gespürt haben? Oder nicht?
Ängstlich sah sie zu ihm hinüber.
Da stand er eben auf und kam auf sie zu. Er nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss da- rauf. Es konnte alles sein: Galanterie und Höflichkeit, oder ...
»Ich danke Euch sehr. Ihr habt mein Lied bereichert«, sagte er.
Ach, nur sein Lied, dachte sie traurig und dachte zugleich: doch immerhin sein Lied!