Das Wunder von Honingen
Wolfhardt von der Wiesen: Das Wunder von Honingen
Täglich schwebt der finstre Rabe
Düster wie die Totenlieder
Rauscht sein schwarzes Schwingenpaar.
Denn zum kalkbestreuten Grabe
Ziehn gehäufte Leichenwagen,
Die der Pocken Opfer tragen.
Klagend folgt die Trauerschar.
Kranke sind’s, die weither kamen,
Weil die Menschen sie verstießen.
Wo des Tommels Wasser fließen,
Ward das Siechendorf erbaut.
Jammerloch heißt es mit Namen:
Jammer herrscht dort und Verderben,
Krankheit, Aussatz, Tod und Sterben,
Daß es jedem Fremden graut!
Eine Frau nur, voll Erbarmen,
Trat dem Leiden kühn entgegen.
Mit ihr war Peraines Segen,
Téria ward sie genannt.
Täglich kam sie zu den Armen,
Füllte Hungernden die Schalen,
Linderte die schlimmsten Qualen,
Hielt den Sterbenden die Hand.
Doch nach mondelangem Ringen
Sah sie in des Wassers Spiegel:
Pocken wie Dämonensiegel
War’n in ihre Haut geprägt.
„Wer soll nun noch Hilfe bringen?
Göttin!“ rief sie, „soll ich’s glauben?
Willst du diesen Menschen rauben
Auch die letzte, die sie pflegt?“
Ungehört blieb all ihr Klagen,
Doch sie trotzte dem Geschicke,
Bis aus ihrem hellen Blicke
Glanz und Lebenshoffnung schwand.
Fast schon wollte sie verzagen,
Als sie, tief gebeugt von Sorgen,
Vor der Türe, früh am Morgen,
Einen Topf voll Honig fand.
Staunend nimmt sie diese Gabe,
Und auf die gewohnte Weise
Kocht sie ihre karge Speise,
Rührt den Brei der Bitterkeit.
Doch das süße Gold der Wabe
Macht ihn heut’ zum Festtagsschmause.
Und sie trägt’s zum Siechenhause:
Hundert Schüsseln stehn bereit.
Hundert Schüsseln darf sie füllen,
Hundert Augenpaare strahlen,
Und es fängt trotz Leid und Qualen
Froh ein Kind zu lachen an.
Und da fall’n wie düstre Hüllen
Schmerz und Siechtum ab von ihnen:
Die wie Todgeweihte schienen,
Fangen neu zu leben an!
Weithin fliegt die frohe Kunde
Hin auf allen Sieben Winden:
Heilung mag ein jeder finden
Durch Peraines Wundertat!
Und im schönen Abagunde
Hält man ihr Geschenk in Ehre —
Heut’ noch heißt nach jener Märe
Honingen die fromme Stadt.