Ritter Boromils Gespür für das Moor - Nur nicht auffallen
Neuvaloor im 1032 nach Bosparans Fall
Nebel hing in großen Schwaden über dem Moor. Es schien einer dieser trüben Tage zu werden. Boromil vom Kargen Land befand, dass diese Aussichten seine Laune nur allzu gut wiedergaben. Er ärgerte sich über sich selbst. Da plante er vorsichtig seine Schritte, holte sich Unterstützung von mehreren Seiten, doch sobald einige Unternehmungen einigermaßen glimpflich verlaufen waren, neigte er zu unhesindianischem Übermut! Zugegegen, nachdem das Kellergewölbe im Turm freigelegt und auf Magisches untersucht worden war, war ihm ein großer Stein vom Herzen gefallen. Es war ihm wahrlich gut gelungen, sowohl die Talente der Rohalswächter als auch die der Zwerge zu nutzen. Gleichzeitig hatte er sie so behandelt, dass sie ihr Gesicht gewahrt hatten und der berechtigte Eindruck blieb, dass ihre Interessen berücksichtigt wurden. Und dennoch....
Beschwingt durch den Erfolg, hatte er am Abend seine Siedler zusammenrufen lassen. Er wollte mit allen in großer Runde ein wenig feiern und über ihre Gründe reden, ein neues Leben in Moorbrück anzufangen. Und er wollte die Gelegenheit nutzen, um sich ihre Namen einzuprägen, denn bei vielen fiel ihm das noch sehr schwer und es würde wenig helfen, sie dauerhaft nur mit ihrem Beruf oder ihrem Herkunftsort anzureden.
Egal, was er beabsichtigt hatte und aus welchen Motiven – es war aus seiner Sicht gründlich schiefgegangen. Anstatt dass alle gemeinsam miteinander redeten, plauderten letzten Endes nur einige offen, während viele edle Motive vorzuschieben schienen und andere es vorzogen hätten, ganz zu schweigen.
Es war klar, dass sich Tsalva Lehmfeld, die Töpferin aus Salmingen, zuerst zu Wort melden würde. Sie sagte ganz unverblümt, dass die Moorbrücker Neusiedlung ein mutiges und göttergefälliges Vorhaben sei und sie sich darauf freue, neue Leute kennenzulernen. So sehr sich Boromil über diese Einstellung freute, so sehr befürchtete er auch, sie irgendwann enttäuschen zu müssen. Denn nach der ersten Welle von Siedlern würde es nicht mehr so schnell neue geben.
In die gleiche Kerbe schlug Arombolosch Rüsslinger, der zwergische Schweinehirt aus Fürstenhort. Er habe bereits vorher ein gutes Leben geführt, sich jedoch nach Veränderung gesehnt. Mit der Neusiedlung könne er nicht nur sich selbst glücklich machen, sondern auch der Heimat einen Dienst erweisen. Seine Frau Roglima jedoch schaute bekümmert in die Runde, was darauf hindeutete, dass noch andere Motive beim Ortswechsel eine Rolle gespielt hatten.
Alphak Schröterwald, der Waldbauer aus Bragahn, beeilte sich, dem zuzustimmen. Sicherlich hätte die Aussicht eine Rolle gespielt, eines Tages ein größeres Stück Land zu beackern, als er in seinem Herkunftsort jemals hätte bearbeiten können. Gleichzeitig hätten die Liebe und das Pflichtgefühl gegenüber der Heimat eine große Rolle gespielt. Die Augen seiner Frau Boltsa blitzten dabei auf, während sein Vater Ugdalf nur selig in die Runde schaute, als ginge ihn das alles nichts an, und die Kinder Firnia und Alrik nicht so recht wussten, was sie unter all den älteren zu suchen hatten. Nun gut, man musste ihnen zugestehen, dass sie die einzigen Kinder der Siedlung waren, auch wenn Firnia bereits sechzehn Götterläufe vollendet hatte und damit gar nicht so weit von den jüngsten Erwachsenen entfernt war.
Jallik Halmanger etwa, der Großbauernsohn aus Hochfeld in der Baronie Drakfold, hatte gerade erst elterlichen Hof verlassen. Er war guten Mutes, hier etwas Besseres zu finden, und lobte die Entschlussfreudigkeit seiner Durchlaucht. Das sei der wahre Koscher Geist, die Hände nicht in den Schoß zu legen, sondern das Glück durch ordentliche Arbeit zu suchen.
Ulinai und Ibrom Wasserlieb, die Baderin und ihr Ehemann, gaben unumwunden zu, dass die Steuerfreiheit sie aus dem heimischen Ferdok hierhin gelockt habe. Sie wollten eine Familie gründen.
Eine Familie wolle er auch gründen, pflichtete Thimorn Hiligon, der halbthorwalsche Hafenarbeiter, bei. Nur habe er noch keine Frau in Ferdok gefunden. Bei den Blicken, die er den anwesenden alleinstehenden Damen zuwarf, hätte Boromil am liebsten die Augen verdreht. Viel offensichtlicher wäre es wohl nicht gegangen!
Algrid Bachzuber, das Waschweib aus der gleichen Stadt, ignorierte die Bermerkung geflissentlich. Steuerfreiheit für die ersten zwölf Götterläufe, ja, dazu die Aussicht, sich zu verbessern, und dazu ein klein wenig tsagefällige Lust auf Veränderung, das seien ihre Motive, wog sie bedächtig ab.
Neu anfangen und sich etwas eigenes aufzubauen, das sei ihr Grund gewesen, hierhin zu kommen, sagte Caya Folmin, welche von Boromil bisher nur als "die Rakulbruckerin" bezeichnet worden war. Ob sie denn eine eigene Schänke aufmachen wolle, nachdem sie in einer gearbeitet habe, wollte er wissen. Nicht notwendigerweise, antwortete sie, sie könne sich auch gut etwas ganz anderes vorstellen. Genauer wurde sie nicht.
"Ein Neuanfang", war der einzige Kommentar Aldur Haubenschreiers, des Glockengießers aus Angbar. "Genau", unterbot Gilia Ulfaran, von Boromil bisland "die Dunkelforsterin" genannt, seinen Redebeitrag. Hanno Weidentreu, der Ziegenhirte, der aus Wengenholm gekommen war, trieb es jedoch auf die Spitze, indem er einfach zustimmend nickte. Das ärgerte Boromil. Sie hatten zwar seine Frage beantwortet, aber er wusste kaum mehr als vorher über sie.
Zolthan Grobbfold, Boromils Rossknecht aus Fürstenhort, war offenbar schüchtern. Mit rotem Gesicht schaute er zu Boden und wusste nicht so recht, was er sagen sollte. Er stammelte etwas von "Fürstentreue" und "nur göttergefällig, einem wackeren Edlen in Moorbrück zu dienen". Hierauf hatte der zahnlose Breikoch Kascha heftig genickt und versucht, etwas zu sagen. Richtig verstanden hatte Boromil es zwar nicht, aber es war klar, dass er seinem Vorredner zustimmte. Boromil hatte inzwischen den vollständigen Namen des bisherigen Ferdokers herausgefunden: "Kalmun Süßmaul" stand auf einem einfachen bronzenen Anhänger. Eigentlich hätte sich Boromil denken können, dass es so einen Gegenstand geben musste. Wie sollte man sonst bei offiziellen Angelegenheiten den Namen des Mannes in Erfahrung bringen?
Blieb Connar Tannhaus, sein neuer Schreiber, der früher Musikant in Andergast gewesen war. Er hatte auf seine Tafel geschrieben: "Ich suchte einen guten Herrn, bei dem ich in Lohn und Brot stehen kann." Während er dies Boromil zeigte, senkte er demütig sein Haupt.
Zusammengefasst kamen einige mit einer Mischung aus Hoffnung auf ein besseres Leben und Naivität, andere aus durchaus wohlüberlegten wirtschaftlichen Gründen und wieder andere waren glühende Verehrer ihrer Heimat, wenn sie denn aufrichtig gesprochen hatten. Genau daran hatte Boromil jedoch seine Zweifel, zumindest insofern, als dass dies als einziger Grund kaum reichen konnte. Bei einigen seiner Siedler konnte er sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie ihm etwas verheimlichten. Die knappen oder ausweichenden Antworten beunruhigten ihn. Dazu kam, dass bei zwei Ehepaaren die Frau anscheinend nicht zufrieden über den Umzug war.
Während er dies zum ersten Mal an dem Abend selbst gedacht hatte, waren die kleineren Gespräche verstummt und alle hatten ihre Aufmerksamkeit auf ihn gerichtet. Die Stille war bedrückend und in mehreren Gesichtern las er Unruhe darüber, dass er so vor sich hinbrütete. Man erwartete von ihm, immer zu führen, gab ihm aber nicht die Informationen, die er dafür benötigte!
Gerettet hatte ihn an diesem Abend ausgerechnet Dugobalosch. Seit Boromils Entscheidung, den im Keller der Turmruine gefundenen Hammer den Angroschim zu überlassen, hatte der Zwerg ihm gegenüber eine deutlich freundlichere Verhaltensweise an den Tag gelegt, auch wenn er anderen gegenüber noch genauso grummelig war wie zuvor. Hatte Boromil Olgoschs Vertrauen durch sein Wort gewonnen, so hatte er hier durch diese einzelne Tat die Zweifel beseitigt.
Nun kam der Griesgram von seiner Wache in die Runde der Siedler, fröhlich pfeifend und eine kleine Flasche schwenkend. "Das ist guter Stoff von zu Hause! Ich gebe eine Runde für jeden!" Die anderen Siedler hatten zuerst erstaunt geguckt, dann jedoch das Angebot angenommen – ausgenommen die Kinder natürlich. Mit einiger Befriedigung hatte Boromil registriert, dass der Zwergenalkohol offenbar vorher unangetastet gewesen war. Dugobalosch hatte also nicht während seiner Dienstzeit getrunken.
"Auf unseren Herrn, der Angroschim und Menschen ordentlich behandelt! Möge seine Siedlung wachsen und gedeihen!", rief der Zwerg, der nicht zu bremsen war, laut in die Runde, und diejenigen seiner Gefährten, die keine Wache schoben und inzwischen ebenfalls dazugestoßen waren, wiederholten seine Worte lautstark. Nun tranken alle, und gleich darauf klopften sich einige der Menschen an den Hals. Solches Zeug waren sie nicht gewohnt.
Zugegeben, rückblickend war dieser zweite Teil gar nicht so schlecht verlaufen. Es ärgerte ihn wohl nur, wie sich Boromil nun eingestand, dass er genau von dem Angroscho hatte unterstützt werden müssen, den er vorher beinahe sicher als Störenfried angesehen hatte – und als ein mögliches Problem. Zu kritisieren, befand er nun, war jedoch nicht unbedingt die Situation am gestrigen Abend, sondern seine vorschnelle Einschätzung. Nicht der zwergische Siedler, der ihm doch nun mit Wort und Tat zur Seite gestanden hatte, war töricht – er selbst war es! Wo war denn seine Besonnenheit, diese wichtige hesindianische Tugend? Boromil starrte auf die Landschaft, welche von Nebelschwaden verhangen war. Er dachte wieder etwas ruhiger nach und geriet ins Philosophieren. Im Grunde waren seine Siedler ganz ähnlich wie das Bild, das sich ihm gerade bot: Wer konnte schon sagen, was echt war und was nicht, wo der Eindruck täuschte und was verborgen blieb? Er musste noch viel lernen.
Immerhin, nach der Runde war doch noch etwas wie eine Unterhaltung aufgekommen. Als das Eis einmal gebrochen war, hatte sich Boromil wieder auf sicherem Gelände befunden – und war erstaunt, wie sehr die Neusiedlung bereits seinen Metapherngebrauch beeinflusste.
"Verzeiht, Euer Wohlgeboren, aber wir haben soviel über uns geredet. Wollt Ihr uns etwas mehr über Eure Pläne erzählen?" Die hübsche Tsalva hatte ein bezauberndes Lächeln aufgesetzt. Boromil ermahnte sich innerlich, nicht alles preiszugeben. Mit ihrer Schönheit hatte die Salmingerin bestimmt schon vielen Leuten Informationen entlockt. "Was möchtest Du denn wissen?" "Nun, es hieß, der Fürst bezahle jedem der adligen Neusiedler einen Schrein für einen der Zwölfgötter. Habt Ihr Euch schon entschieden, welcher es sein wird?" "Ah, also das ist so: Man würde bei meiner Herkunft vielleicht vermuten, es müsse doch Hesinde werden, die Schutzgottheits meines Hauses. Da ich aber weiß, dass unsere zwergischen Mitbürger gewisse Probleme haben mit Echsen" – hierbei nickten ihm einige der Ambosszwerge zu – "und Neuvaloor ausdrücklich jedem ehrbaren Koscher offenstehen soll, egal ob Mensch oder Angroscho, habe ich lange überlegt. Ich hatte von Anfang an vor, mich mit den anderen fünf Neusiedlern abzusprechen. Sechs unterschiedliche Schreine sollten uns doch am meisten Schutz gewähren. Es gab unter Berücksichtigung dieser Aspekte mehrere günstige Möglichkeiten, doch letzten Endes fiel meine Wahl auf Phex."
Bei dieser Ankündigung blieben die meisten der Siedler äußerlich ruhig. Schier begeistert reagierte Arombolosch Rüsslinger, der vor Freude in die Hände klatschte und sich gar nicht mehr einkriegen wollte. "Eine hervorragende Wahl! Ein Gott, der jedem nahesteht – und das von einem hohen Herrn. Roglima, freue Dich, denn so etwas bekommt man nicht alle Tage geboten!" Tatsächlich ließ sich seine Frau nun zu einem Lächeln hinreißen, auch wenn es mehr der Höflichkeit geschuldet zu sein schien.
Algrid Bachzuber pflichtete ihm bei. "Phex, der Listige, als Schutzherr über unseren neuen Wohnort – man könnte meinen, es sei selbst eine listige Wahl! Überhaupt ist das besser als reines Bücherwissen wie bei Hesinde. Damit können die meisten von uns ja doch nichts anfangen!"
Tsalva Lehmfeld hingegen wirkte zunächst ein wenig enttäuscht. Sie hatte vielleicht gehofft, einen der Göttin des Wissens und der Weisheit geweihten Ort zu bekommen, wenn auch keinen Tempel wie in ihrer alten Heimat Salmingen. Dennoch bedankte sie sich artig für die Beantwortung der Frage.
Die Ambosszwerge schienen das Gehörte stumm eine Weile abzuwägen und waren dann einigermaßen zufrieden. Es war klar gewesen, dass die Wahl nicht auf Ingerimm fallen würde, denn es sollten laut Boromil möglichst viele der Zwölfe repräsentiert werden. Den Gott des Schmiedens und der Handwerkskunst hatte Edelbrecht von Borking für Neufarnhain gewählt, wie sie wussten. Phex war zwar nur ein Diener Angroschs, auch wenn ihre Verwandten, die Brillantzwerge, ihn als dessen listigen Gefährten ansahen, aber Phex war wenigstens über jeden Zweifel erhaben und hatte nichts mit Schuppentieren zu tun!
Jallik Halmanger war sich noch unschlüssig, was er davon halten sollte. "Phex ist doch der Gott der Händler, richtig? Also nicht gerade der ideale Schutzpatron für den siebten Sohn eines Großbauern..."
"Bedenke vor allem", erwiderte Boromil rasch, "dass jeder, ob Handwerker oder Bauer, auf guten Handel angewiesen ist. Außerdem ist Phex Gott des Glücks – und das können wir alle gebrauchen! Bei der Neusiedlung ist jeder seines Glückes Schmied. Und wie sagt die Phex-Kirche so treffend: Jeder muss seinen eigenen Weg gehen." "Seines Glückes Schmied.... seinen Weg gehen.", wiederholte Aldur Haubenschreier leise und nickte dann.
"Verzeiht, edler Herr", wandte sich nun Zoltahn Grobbfold an Boromil, "aber ist Phex nicht auch der Gott der Diebe? Sollen wir denn den Neuanfang wagen mit einer Gottheit, die auch Gesetzlose schützt?"
"Diesen Aspekt gibt es natürlich. So wie jede Münze zwei Seiten hat, so wird man, wenn man denn unbedingt suchen muss, immer etwas finden, was einem bei der Verehrung der Zwölfgötter scheinbar schwierig vorkommt. Erinnere Dich jedoch daran, dass diese Eigenschaften kein Makel sind, sondern vielmehr einer übergeordneten Weisheit folgen, die wir als Sterbliche einfach nicht begreifen können! Ja, wir dürfen uns bereits glücklich schätzen, wenn wir diese höheren Wahrheiten auch nur für einen flüchtigen Moment streifen!"
Der Rossknecht schaute etwas beschämt zu Boden. Es war ihm offenbar im nachhinein unangenehm, dass er überhaupt gefragt hatte. Also sprach Boromil weiter, um ihn zu ermutigen: "Was die Diebe angeht: Gar keine schlechte Frage! Wir braven Koscher kümmern uns um diese spezielle Schutzfunktion Phex' nicht so sehr. Ich meine mich jedoch zu erinnern, dass Phex, selbst wenn er den einen oder anderen Dieb nicht verdammt, so doch nie seine schützende Hand über gewalttätige Räuber oder Mörder gehalten hat. Wer zu diesem Gesindel zählt, der darf sich keine Unterstützung erhoffen!"
Er wandte sich an Gilia Ulfaran: "Wie habt Ihr das denn in Dunkelforst gesehen? Da gab es doch zuletzt ebenfalls immer wieder Ärger mit Räubern." Die Angesprochene machte ein Schutzzeichen mit der Hand. "Natürlich schützt Phex keinen, der seine Waffe in böser Absicht gegen andere erhebt oder gar bereit ist, für seine Beute Blut fließen zu lassen. Diebstahl und Mord, das sind auch für ihn zwei verschiedene Sachen. Ihr habt es schon ganz richtig gesagt!"
"Wenn ich noch etwas aus meiner früheren Heimat ergänzen darf", brachte sich nun Caya Folmin ein. "Selbst ein uns so ans Herz gewachsener Glaube wie der an Travia kann unschöne Seiten aufweisen, etwa wenn Lebensfreude und -genuss verschmäht werden. Das habe ich in Rakulbruck gelernt! Ich danke Euch, Euer Wohlgeboren, für Eure Offenheit und Klugheit, denn Phex kennt keine so strenge Moral und ist für alle, die guten Herzens sind, da."
Besser hätte Boromil den Abend nicht beschließen können, und so wünschte er den anderen eine gute Nacht, nachdem er sich vergewissert hatte, dass klar war, wer die weiteren Nachtwachen übernehmen würde. Jetzt, am anderen Morgen, war er schon früh wachgeworden.
Doch was war das? Hörte er da Geräusche aus dem Moor? Spielten ihm seine Sinne einen Streich? Nun vermeinte er Stimmen wahrzunehmen, Pferde schnauben zu hören... und da! Ein größerer Umriss schien sich auf ihn zuzubewegen.
Und tatsächlich, da schälte sich ein Wagen vor ihm aus dem Nebel. Voran ging ein Torfstecher, der mit einem Stock den Weg abtastete. Als er Boromil sah und begriff, dass er die Siedlung erreicht hatte, stand ihm die Erleichterung ins Gesicht geschrieben. "Ihr Zwölfe, habt Dank dafür, dass ich den Weg ein weiteres Mal unbeschadet passiert habe!", rief er in Richtung Himmel.
Nun erst bemerkte Boromil, was für Passagiere auf dem großen Leiterwagen saßen: Es waren alles Zwerge, drei insgesamt. Sollten das etwa...?
Der erste von ihnen sprang sogleich herab und eilte auf Boromil zu. "Angrosch zum Gruße! Man nennt mich Jalosch Pilzanger und ich bin gekommen, um die ehemalige Angbarer Sappeurin kennenzulernen!" Der Ritter vom Kargen Land grüßte zurück und wies mit Bedauern darauf hin, dass sie zwei Siedlungen weiter wohnen würde. Anscheinend hatte der Zwerg das inzwischen wieder vergessen oder man hatte ihn nicht darauf hingewiesen. "Gut, dann hole ich meine Sachen vom Wagen und reise gleich weiter!" "Nicht so schnell, junger Freund. Bei dem Nebel kommt man nicht weit. Außerdem ist es doch nicht gerade elegant, ohne Ankündigung hereinzuplatzen. Ich schlage daher folgendes vor: Sobald das Wetter es zuläßt, schicke ich jemanden Richtung Hohentrutz, um Bescheid zu geben. So wie ich Roban Grobhand von Koschtal kenne, wird er sich ohnehin gerne auf seinen neuen Siedler vorbereiten." Der junge Pilzanger nickte, konnte seine Ungeduld und Aufregung jedoch kaum im Zaum halten.
Als zweites stieg ein ebenfalls noch recht jung wirkender Zwerg vom Wagen herab. Er schien dem Wetter zum Trotz recht guter Laune zu sein. "Boromil vom Kargen Land? Ich bin Ingramosch Grambart, der Großneffe Olbyns, welcher einst mit Eurem Vorfahren Foldan durch den Kosch zog." Boromil war der junge Kerl gleich sympathisch. "Willkommen in Neuvaloor!" "Euer Wohlgeboren, es freut mich, Euch kennenzulernen!" Als sich Mensch und Zwerg die Hand schüttelten, schien Boromil die Situation etwas Besonderes zu haben. Was hatte Olbyn ihm noch gesagt: Boromil und Ingramosch würden nebeneinander wie Foldan und er wirken?
Der dritte und letzte Zwerg war Thoram Dornenstrauch. Er machte einen gar nicht glücklichen Eindruck und verließ des Wagen nur ungern. Wehmütig schaute er sich um. Nein, hier schien nichts an seine Heimat zu erinnern. Alles viel zu ungemütlich, brrr! Dennoch hieß Boromil auch ihn herzlich willkommen und fragte nach dem Wohlbefinden Hagebars und Gareschas.
Dann wies er seinen Rossknecht an, sich um die Pferde zu kümmern. Grobbfold beeilte sich, dem Befehl Folge zu leisten.
Als Roglima Rüsslinger, die gerade vorbeikam, die drei Neuankömmlinge sah und feststellte, dass es sich um Hügelzwerge wie sie handelte, begrüßte sie sie enthusiastisch. Fast schien sie vor Freude zu weinen, dass sie hier in der Einöde drei Angroschim von ihrer Art getroffen hatte. Nun, wenn sie sich gut verstehen, umso besser, dachte Boromil.
Doch nun galt es sich wieder praktischen Dingen zu widmen. "Heda, Dunkelforsterin!" Gilia Ulfaran war nicht weit weg gewesen. "Ja, Herr?" "Könntest Du es bis Hohentrutz schaffen?" "Wenn der Nebel sich ein wenig lichtet..." "Natürlich, solange wollen wir warten. Ich habe einen Spezialauftrag für Dich. Du musst einige Stöcker und Stoffstreifen dafür mitnehmen. Und eine Waffe solltest Du auch bei Dir tragen, zur Sicherheit." Gilia zeigte ihm ein Messer und einen harten Stock. Gut, das müsste reichen. Obwohl, wenn sie nun einen falschen Schritt machte... "Hej, Angbarer!" "Ihr wünscht, Herr?" "Du begleitest sie. Orientiert Euch am besten entlang der Warna, bis Ihr zur Siedlung von Grimm Goldmund von Koschtal kommt. Danach müsst Ihr abbiegen. Wenn Ihr durch unsicheres Gelände geht, markiert Eure Route mit einem Stück Stoff, dass Ihr an einem Stock festbindet. So wisst Ihr auf dem Rückweg, wo der Grund sich nicht verändert hat." Und wenn Phex ihnen hold war, blieben alle Markierungen stehen und es wäre nicht nur leichter, wieder zurückzureisen – der gesamte Weg wäre in Zukunft bereits deutlich verkürzt zu gehen. "Richter dem Herrn von Hohentrutz meinen Gruß aus und sagt, der versprochene Pilzzüchter sei nun bei mir eingetroffen und warte darauf, abgeholt zu werden." "Das werden wir tun, Herr.", sagte Aldur Haubenschreier. Es gefiel zwar Boromil nicht sehr, gleich zwei Arbeiter mit einem Botengang zu beschäftigen, aber zu zweit war man einfach deutlich sicherer. Außerdem verrichteten sie unterwegs bereits Arbeit – ein Grund, den jungen Pilzanger nicht gleich alleine losziehen zu lassen.
Dass Gilia Ulfaran nichts gegen den Auftrag hatte, der nicht ungefährlich war, verwunderte Boromil nicht weiter. Sie schien eine gewisse Scheu vor Menschen zu haben, nicht jedoch vor der Wildnis. Einen Moment überlegte er, ob er durch das Wegschicken unbewusst die beiden bestrafen wollte, weil es ihm so schien, dass sie ihm ihre wahren Beweggründe für die Teilnahme an der Moorbrücker Neusiedlung verschwiegen. Doch dann schalt er sich einen Narren. Er musste die Leute so einsetzen, dass jeder nach seinen Fähigkeiten gefordert wurde. Sie hatte keine Angst vor offenem Gelände, er hatte bereits bewiesen, dass er zur Not Kroppzeug tothauen konnte. Selbst wenn die Ratten nicht gerade furchteinflößende Gegner gewesen waren, so hatte Aldur zeigen können, dass er mit der Waffe gegen wilde Tiere umgehen konnte.
Ob es der launische Efferd war, der die Wassertropfen steuerte, die im Nebel enthalten war, oder Phex zwinkerte – gegen Mittag klarte es auf und die beiden machten sich auf den Weg. Es war davon auszugehen, dass sie es nicht mehr am selben Tag zurück schaffen würden, daher packte man ihnen Proviant ein. So ausgerüstet, gingen sie eine ganze Weile, ohne allzu viele Worte zu wechseln, abgesehen von den Situationen, in denen sie Stöcke mit Stoffstücken aufstellten und sich dabei absprachen.
"Was haltet Ihr von unserem neuen Herrn?", fragte Gilia schließlich. "Er führt den Beschluss des Fürsten aus und ist mit den früheren Baronen von Farnhain verwandt. Also handelt er rechtmäßig. Das ist es, was zählt." "Nein, das meinte ich doch nicht", winkte die Dunkelforsterin ab. "Ist es nicht ungewöhnlich, dass er nicht die Hausgottheit der Familie wählt?" "Ja, schon, aber er hat ja einen Grund angegeben. Es stimmt schon, dass die Zwerge keine Echsen mögen. Und einen Phextempel hatten wir in Angbar auch. Das waren alles ordentliche Leute, keine Diebe oder so etwas." "Wie ist die Hauptstadt? Ich bin dort nie gewesen und kenne sie nur vom Hörensagen." "Angbar hat sich verändert, seit der Alagrimm dagewesen ist", bei diesen Worten nahm Aldurs Gesicht einen schwer zu deutenden Ausdruck an, "aber der Mut und die Tüchtigkeit der Koscher dort sind ungebrochen. Den Göttern und ihren Dienern sei Dank; sie haben sich gerade in der Not viel um die einfachen Leute gekümmert." Gilia nickte verstehend. "Ja, es muss schlimm gewesen sein..." "Aber Dunkelforst ist auch nicht gerade friedlich. Was man sich so über Räuber dort erzählt oder den Wald..." "Ach, der Dunkelwald! So schlimm ist der gar nicht. Man kann jedenfalls Holz und Pilze sammeln – naja, wenn man nicht zu weit hineingeht jedenfalls." "Gibt es dort nicht auch eine Hexe?" "Jaja, aber vor der braucht man sich nicht fürchten, denn die ist gutmütig! Klar, man sollte sie nicht verärgern." "Und die Räuber? Man sagt, da wäre doch eine ganze Bande gewesen von diesem... Humbert." "Die haben tatsächlich eine ganze Weile in Dunkelforst gehaust." "Und da habt Ihr nie Angst gehabt?" "Nein. Man lernt aber ganz gut, außerhalb der Ortschaften achtzugeben, damit man keine Überraschungen erlebt." "Ah, deswegen habt Ihr weniger Angst vor dem Sumpf als die anderen?" "Muss wohl so sein. Ich kenne das nicht anders. Schwer zu sagen, wieviel Unbehagen normal ist." Haubenschreier nickte anerkennend. "Da seid Ihr eine gut geeignete Siedlerin für diese Gegend." "Ihr hingegen seid die Stadt gewohnt. Ich kann mir kaum vorstellen, was genau Euch bewogen hat, Angbar zu verlassen." "Wisst Ihr, als der Herr vom Kargen Land von uns wissen wollte, warum wir mit ihm siedeln, da habe ich gesagt, dass ich einen Neuanfang wagen möchte. Er war mit meiner Antwort offenbar zufrieden, denn er hat nicht weiter nachgehakt. Unsere Vergangenheit interessiert ihn anscheinend nicht. Und wisst Ihr was? Ich bin froh, dass er nicht nachgefragt hat." "Ja, da habt Ihr recht. Es geht ihm um das, was wird, nicht das, was gewesen ist. Das ist gut." "Hm. Genau." Danach schwiegen sie wieder für lange Zeit und hingen jeweils ihren eigenen Gedanken nach.
Inhaltliche Fortsetzung in Neues aus Hohentrutz - Die Gesandtschaft (1)