Man erntet, was man sät - Post für Alvide
Post für Alvide
Es ist Nacht. Alvide von Eichental sitzt in einer Kammer der Vogtei von Yassburg am Fenster über einen Stapel Papiere gebeugt und schreibt.
Motten tanzen um eine kleine Lampe, die einzige Lichtquelle des Raumes, und werfen diffuse Schatten an die Wand.
Der warme Sommerwind lässt die vergilbten Vorhänge tanzen und trägt den Streit zweier Betrunkener in Alvides Kammer.
Ein Pochen an der Tür unterbricht Alvides Schreibfluss und lässt sie murrend hochfahren: „Herein!“
Die Tür öffnet sich und Alerich von Rohenforsten, Alvides Knappe, tritt ein: „Entschuldigt die späte Störung. Ein Bote hat einen Brief für euch in der örtlichen Herberge abgegeben.“
Alvide streckt wortlos ihre Hand aus. Alerich überreicht ihr einen versiegelten Brief.
Alvide mustert das Stück Papier: „Hm … Dem Wachs wurde kein Siegel eingedrückt.“ Sie wendet den Brief: „Kein Absender. Wo ist der Bote?“
Alerich zuckt mit den Schultern: „Der Bote hat den Brief dem Wirt des Rabenhofes übergeben mit der Bitte, ihn an euch zu überbringen. Mehr konnte ich nicht in Erfahrung bringen.“
Alvide blickt zuerst Alerich an, dann zur offenen Tür: „In Ordnung.“
Alerich verneigt sich: „Wenn ihr erlaubt, werde ich mich nun zurückziehen. Ruft, wenn ihr mich braucht.“
Alerich verlässt die Kammer und schließt die Tür hinter sich.
Alvide öffnet den Brief, faltet ihn auf und beginnt zu lesen.
Euer Hochgeboren!
Eure Ankunft in Drift und Eure Unterstützung für die Sache der Bauern ist ein Lichtblick in diesen finsteren Tagen.
Lange war ich Zeuge der immer größer werdenden Habgier des Barons, welcher er in den letzten Jahren mehr und mehr alle ritterlichen Tugenden geopfert hat und seine Pflichten als Lehensherr völlig darüber vergaß.
Es ist noch keine zwei Wochen her, da starb in Durstein eine Frau bei der Niederkunft, weil die nächste Hebamme aus Drift nicht rechtzeitig geholt werden konnte.
Die Dursteiner Hebamme hat der Baron diesen Sommer entlassen, weil sie ihm zu teuer kommt und sich die Bauern sowieso wie Ungeziefer vermehren – so die Worte des Barons.
Ich bin sicher, ihr habt auf der Yassburg ähnliche Geschichten über den Baron gehört und ich versichere euch, sie sind alle wahr!
Die Bauern danken es ihrem Herrn nicht nur mit Waffengewalt.
Auch jene, die sich nicht den Aufständischen angeschlossen haben, bekämpfen ihn mit ihren eigenen Mitteln. Für den Frondienst nehmen sie nur ihr schlechtestes Werkzeug und ihre ältesten Ochsen. Auf den Feldern des Barons verschonen sie Mäusenester, die sie auf ihren eigenen Feldern zerstören würden.
So geht alles den Bach runter und die Dursteiner, die ich einst als lebensfroh und tüchtig kennengelernt habe, sind heute arm, verbittert und zynisch.
Die Belagerung im Frühjahr hat nicht minder dazu beigetragen.
Ich dachte schon, dass es in unserem schönen Koscher Land nicht schlimmer kommen könnte, aber auch hier hat der Herr Baron mich eines Besseren belehrt:
Am Abend des dritten Rondra fuhren unvermittelt und unangekündigt drei voll beladene Wägen in die Burg ein, mit dem Befehl, die darauf befindlichen Vorräte einzulagern.
Am nächsten Tage vernahm ich am Dursteiner Markt, dass der Bauernhaufen am Vormittag des besagten dritten Rondra einen Tross aus drei Wägen, die für den Grafen bestimmt waren, geraubt hatte.
Zu anderen Zeiten hätte ich den Gedanken, der mir danach kam, sofort verworfen. Nun aber beschloss ich, die eingelagerten Waren genauer zu inspizieren, und mich bei den Kutschern, die den Transport begleiteten, genau zu erkundigen.
Ich bin mir nun absolut sicher, dass die Waren, die in Burg Durstein eingelagert wurden, dieselben Waren sind, die dem Grafen geraubt wurden.
Was bedeutet, dass nicht der Bauernhaufen, sondern der Baron für den Raub verantwortlich ist!
Ich bitte euch, dieses Wissen an den Grafen und auch an den Cantzler weiter zu tragen, damit sie ebenfalls im Bilde über den Charakter des Barons sind, der nichts weiter als ein Raubritter ist!
Ich bitte euch außerdem, dieses Schreiben mit absoluter Sorgfalt zu behandeln, da, falls es in die Hände eines Freundes des Barons kommt, ich um mein Leben fürchten muss.
Ein Freund.
Alvide schüttelt immer wieder ungläubig den Kopf, dann faltet sie den Brief zusammen und steckt ihn ein. Sie erhebt sich und dreht gedankenversunken einige Runden in der kleinen Kammer. Dann atmet sie tief durch und marschiert aus ihrer Kammer, den dahinter liegenden Gang entlang bis zu einer Tür, die von einem gräflichen Axtschwinger bewacht wird.
Nach kurzem Wortwechsel wird sie vorgelassen und steht dem schlaftrunken Graf Growin gegenüber, der missmutig fragt: „Ka roboschan hortiman Angroschim! - Was willst du?“
Alive streckt ihm den Brief entgegen: „Ich bitte euch um Erlaubnis, Narmur von Karma die Fehde erklären zu dürfen!“