Ein Bogen, ein Pfeil und ein Kuss

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Ausgabe Nummer 63 - Rahja 1042 BF

Ein Bogen, ein Pfeil und ein Kuss

Vom Ende einer langen Wartezeit

OBERANGBAR, am 1. Firun 1042 BF. Schon neulich bei der Grafenhochzeit auf Schloss Grauensee war offenbar geworden, dass Frau Rahja zwischen den Häusern Garnelhaun und Oberangbar zarte Bande geknüpft hatte. Doch es sollte noch einige Monde dauern, bis Seine Hochgeboren Wolfhardt von der Wiesen seine Verlobung mit der jungen Nadyana von Garnelhaun verkünden konnte.

Vorausgegangen war eine lange, an Wendungen reiche Geschichte, die eng mit dem Orden der Hanghasenjagd verbunden ist. Dieser hat sein immerwährendes Biwak bekanntlich in Oberangbar, und eigentlich wäre es naheliegend, dass auch der Baron von Oberangbar dieser angesehenen Gemeinschaft angehört. Dem ist aber nicht so, wie Eingeweihte wissen. Dreimal hatte Seine Hochgeboren Wolfhardt von der Wiesen schon um Aufnahme gebeten, und dreimal war es seiner Gegnerin, Cathine von Unterangen, gelungen, diese zu verhindern – zuletzt vor einem Dutzend Götterläufen. Damals stellte sie offen seine Firungefälligkeit in Frage, was zur Folge hatte, dass er, gemäß den Statuten des Ordens, einen Probeschuss mit Pfeil und Bogen ablegen musste. Dieser Prüfung unterwarf sich der Baron, doch während er noch zielte, brach sein Bogen entzwei – ein böses Omen! Daraufhin wurde entschieden,dass ihm der Beitritt auf zwölf Götterläufe untersagt sei.

All die Jahre war dies zwar ein Grund des Ärgers für den Baron, aber in Schwierigkeiten geriet er dadurch erst jetzt. Denn Travian von Garnelhaun, sein Schwiegervater in spe, ist ein glühender Anhänger des Herrn Firun, und der Orden der Hanghasenjagd geht ihm über alles. Undenkbar also, dass seine Tochter einen Edelmann heiraten würde, der nicht bei den „Jägern“ zu finden ist.

So kam es, dass Seine Hochgeboren in diesem Winter erneut seinen Antrag stellte. Und endlich erhob sich kein Widerspruch, auch nicht von Jungfer Cathine – was auch immer ihren Sinneswandel bewirkt haben mochte. Doch eines blieb dem Baron nicht erspart, und das war der Probeschuss; denn das böse Omen von vor zwölf Jahren musste aufgehoben werden. Der Verfasser dieser Zeilen war leider nicht zugegen bei dem Ritual, das in der Abgeschiedenheit des winterlichen Waldes stattfand, und so basiert der folgende Bericht allein auf Hörensagen. Doch die Geschichte ist so rührend und erhebend, dass wir sie der geneigten Leserschaft nicht vorenthalten wollen.

Man stelle sich also die Lichtung vor, erhellt vom flackernden Schein der Fackeln; man sehe die Gesichter der edlen Waidleute vor sich, allen voran das des guten Fürsten Anshold; man spüre den frostigkalten Wind, die sanfte Berührung der fallenden Flocken auf der Haut; man schmecke den harzigen Duft der Tannen.

Nun tritt der Baron in den Kreis. Er trägt ein grünes Jagdgewand und über der Schulter einen Köcher mit einem einzigen Pfeil, in dessen Schaft der Name Nadyana eingeschrieben ist. Die Schützenscheibe wird aufgestellt. Man reicht ihm einen Bogen und einen der Weißen Pfeile aus dem Schatz des Ordens. Doch Wolfhardt lehnt dankend ab; er will sein eigenes Geschoss verwenden, den Pfeil der Liebe. – Gemurmel ist zu hören: Ob das den Regeln entspricht? Man ist sich nicht einig. Nur Eine wüsste zuverlässig Antwort: die Jagdmeisterin Eisegrina von Rübfold. Doch diese weilt schon lange bei Boron, und das Amt ist noch immer vakant. Da muss der Fürst entscheiden, der Marschall des Ordens. Lange denkt er nach, dann schüttelt er traurig den Kopf und sagt bedauernd: „Der Probeschuss gilt nur mit einem der Weißen Pfeile – so ist es schon immer gewesen. Es tut mir leid, mein guter Wolfhardt. Aber verliert nicht den Mut, es wird Euch auch so gelingen!“

Da wird er bleich, der gute Wolfhardt! Doch ist es ihm zu verdenken? So viel hängt ab von diesem Schuss, viel mehr als nur die Mitgliedschaft in einem Orden. Er zögert, er schwankt, und seine Hände zittern.

Doch plötzlich hört er seinen Namen, gerufen von einer hellen Stimme. Sie kommt vom Rande der Lichtung, wo im Schatten der Zweige Nadyana steht. Ihr Vater schüttelt streng den Kopf, doch die Jungfer beachtet ihn nicht. Sie kommt auf die Lichtung geschritten, ein Mädchen im weißen Gewand, Kristalle im Haar und Schnee auf den Schultern. Wie Ifirn sieht sie aus! So schreitet sie auf den Geliebten zu, nimmt seine Hände in die ihren und haucht einen Kuss darauf. Dann hebt sie den Pfeil an ihren Mund und drückt die Lippen auf die eiserne Spitze. Nachdem sie dies getan hat, wendet sie sich um und kehrt zurück in den Schatten. Niemand sagt ein Wort, und niemand wagt es, Einspruch zu erheben. Der Baron legt an und schießt.

Es war ein Firunsritual, bei dem kein Jubel erscholl. In würdigem Schweigen erkannte man beides an: den Schuss und den Schützen. Doch zu späterer Stunde, in der wohlig-warmen Hütte des Ordens, wurde ausgelassen gefeiert nach Koscher Sitte, und Travian von Garnelhaun legte stolz die Hand seiner Tochter in die des Barons. Am 5. Rondra soll die Hochzeit sein – genau ein Jahr, nachdem sich die beiden zum ersten Mal begegnet sind.

Karolus Linneger