Ritter Boromils Gespür für das Moor - Entdeckt
Teil der Briefspielgeschichte "Ritter Boromils Gespür für das Moor"
Blut ist dicker als Moorwasser | wird fortgesetzt |
"Für eine kleine Siedlung im Moorbrücker Sumpf bekommen wir erstaunlich viel Besuch", stellte Olgosch Sohn des Ogrim fest. Ein paar Tage war es erst her, seit der Herr von Neuvaloor, Ritter Boromil vom Kargen Land, verreist war, und nun musste er, ein ehrenwerter Ambosszwerg, bereits als sein Vertreter in dessen Abwesenheit Gäste empfangen. Noch kurze Zeit zuvor waren zwei Verwandte des Neusiedlers aus Darpatien eingetroffen, zusammen mit Parinor, einem Bediensteten des Hauses. Und davor hatten sich bereits allerlei Gestalten die Ehre gegeben... Magierinnen, Hügelzwerge, Händler, Adelige, Boronis... "Hatte es nicht geheißen, vor dem Sumpf hätten alle eine panische Angst?", überlegte er laut. Ohne Olgoschs Gedankengänge ahnen zu können, antwortete Parinor pflichtbewusst: "Wir sind ja noch am Rand und nicht mittendrin. Seine Wohlgeboren hat offensichtlich noch viele Personen kontaktiert und diese erscheinen nun. Es ist nur bedauerlich, dass dies gerade jetzt geschieht, wo er nicht da ist." "Da hast Du mehr recht als Du glaubst, lieber Parinor", brummte der Angroscho in seinen Bart, "aber es hat ja keinen Zweck." Nun fügte er etwas lauter hinzu, so dass es der Diener verstehen konnte. "Dann wollen wir mal die Neuankömmlinge begrüßen." Wenigstens musste er sich nicht umziehen oder gar waschen. Sein Kettenhemd war der gefährlichen Umgebung ganz angemessen und wer hier allen Ernstes versuchte, für längere Zeit so sauber wie frisch gewaschen zu bleiben, konnte nicht ganz bei Trost sein. Selbiges dachte er deswegen heimlich von dem Baderehepaar Ulinai und Ibrom Wasserlieb und dem Waschweib Algrid Bachzuber. Was die wohl von Ferdok in den Sumpf verschlagen hatte? Und dieser Ziegenhirte aus Wengenholm, Hanno Weidentreu war sein Name, war ebenfalls merkwürdig. Immer ziemlich still und ruhig, hörte man von ihm meistens sein Flötenspiel. Den hätte man besser bei einem Siedlungsprojekt der Elfen untergebracht! Derweil kontrollierte der Sohn des Ogrim, dass sein zu prächtigen Zöpfen geflochtener Bart richtig saß und kein Stroh enthielt und dass seine Waffe deutlich sichtbar an seinem Gürtel hing. Handgriffe mit der Gewohnheit von Jahrzehnten liefen fast mechanisch ab und ließen dem Zwergen viel Zeit zum Nachdenken. Es hatte schon seinen Grund, dass die Angroschim so traditionsbewusst waren. "Wer in sich ruht, ist wie ein Fels", rief sich Olgosch eine Geodenweisheit ins Gedächtnis und verließ das provisorische Gebäude.
Der kleine Alrik Schröterwald hatte den unangekündigten Besuch gemeldet und wartete nun auf dem Weg zwischen den Baustellen auf ihn. Hatte der eigentlich nichts anderes zu tun den ganzen lieben Tag lang? Sicher, er war ja noch kaum älter als ein Säugling nach Zwergenmaßstäben. Aber so eine Siedlung errichtet man mit Leuten, die kräftig zupacken können. Oh, da kam ja gerade ein Prachtexemplar von ihnen des Weges vorüber... Olgosch grüßte er den hochgewachsenen Thimorn Hiligon. Komisch nur, dachte er sich, dass dieser die Brautschau so übertrieb. Ständig guckte er hinter den Frauen her. Dabei hätte er das doch gar nicht nötig, mit seiner Statur wäre er eine gute Partie. Versteh einer diese Großlinge!
Warum etwa hatte Ritter Boromil so viele Einzelpersonen als Siedler gewählt und nur eine richtige Familie mit Kindern? Für einen Zwergen, der das Leben in der heimischen Sippe gewohnt war, eine nur schwer nachvollziehbare Entscheidung. In Neufarnhain, dort wo sein alter Freund Etosch Gabelbart nun wohnte, verhielt es sich anders. Ohnehin machte sich Olgosch Gedanken, wie sie über den Winter kommen sollten. Bei einigen Siedlern hatte er ernsthafte Zweifel, dass sie es schaffen würden, egal wie frohen Mutes sie jetzt auch waren. Der neu hinzugestoßenen Grimma Siebenrüb traute er es hingegen zu, obschon sie sich offensichtlich im Sumpf nicht wohl fühlte. Sie war eben eine Handwerkerin und hatte kräftige Arme, das gab den Ausschlag. Der Tag müsste noch kommen, an dem Zwerge nicht mehr der eigenen Hände Kraft vertrauten!
So in Gedanken versunken, nahm der Sohn des Ogrim seine Umwelt erst dann wieder bewusst war, als er vor den Besuchern stand. Anscheinend musste sein Schweigen sehr grimmig gewirkt haben, denn einige von ihnen wirkten nervös. Doch einer trat ohne lange zu zögern auf Olgosch zu. Es war der Händler Bosper Hopfenwart, der der Siedlung bereits früher einen Besuch abgestattet hatte. Ihn begleitete ein weiterer Händler, der aus dem fernen Lieblichen Feld stammte und neue Kontakte entlang des Großen Flusses zu knüpfen versuchte, sowie ein Tagelöhner namens Alerich Siebenschröter, der schon als Flussschiffer gearbeitet hatte und sich jetzt in den Siedlungen nach neuer Beschäftigung umsehen wollte.
Olgosch rief sich ins Gedächtnis, wie wichtig das Ansehen für den Erfolg der Siedlung war, und hieß alle Gäste herzlich willkommen. Da keiner von ihnen höheren Standes war (zwar trug der Händler aus dem Horasreich ein "von" im Namen, aber er war eben als Händler da), wies der Zwerg ihnen kurzerhand Schlafplätze bei den anderen Siedlern zu und nicht im sogenannten Magierturm, in dem sein Herr und dessen edleren Gäste unterzukommen pflegten.
Viele der Siedler waren erfreut über den Besuch. Bosper Hopfenwart musste beim Abendessen besonders viel erzählen, denn er hatte Neuigkeiten von der Phex-Kirche mitgebracht. Arombolosch Rüsslinger war völlig aus dem Häuschen und konnte nur mühevoll von seiner Frau Roglima davor zurückgehalten werden, Freudensprünge zu machen. "Das muss doch eine große Ehre sein, im Namen des Phex zu reisen! Was würde ich dafür geben, einmal an Eurer Stelle zu sein!" "Nun ja", wiegelte Hopfenwart schmunzelnd ab, "es liegt in der Natur der Aufträge, dass sie bis zum Erreichen des Erfüllungsortes geheim sind. Außerdem zahlt man nichts dafür, sondern bekommt eine Entlohnung. Sonst wäre es ja nicht phexgefällig!"
Die wie stets neugierige Tsalva Lehmfeld bekam große Augen. "Hat man Euch viel gezahlt? Wie lautet der Auftrag? Hat es mit dem Schrein zu tun?" "Gemach, gemach! Zunächst die wichtigste Neuigkeit: Die Kirche des Fuchses ist hocherfreut darüber, dass diese Siedlung einen Phexenschrein bekommen soll. Bis zur Schreinweihe dauert es zwar noch etwas, aber es gilt, bereits jetzt einige Vorbereitungen zu treffen. Um keine Zeit zu verlieren, hat man mich damit beauftragt, einen geweihten Gegenstand nach Neuvaloor zu bringen." Ein Raunen ging durch die Menge. Bosper Hopfenwart erklärte: "Bei den Ritualen anderer Götter spielen Boden oder Luft, die Natur oder das Wetter eine große Rolle. Bei Phex sind es die Menschen! Und natürlich die Zwerge." Die anwesenden Ambosszwerge quittierten die Ausführungen stumm oder nur mit einem Nicken. Ungerührt erzählte Hopfenwart weiter. "Darum muss vor der Schreinweihe sichergestellt werden, dass hier nur würdige Siedler wohnen. Dazu gehören aufrichtige Arbeiter, aber auch phexgefällig tätige Händler und Diebe. Ausdrücklich ausgenommen sind jedoch", und hier bekam seine Stimme einen drohenden Unterton, "skrupellose Räuber und Halsabschneider, die vor Gewalt nicht zurückschrecken und auch dem Fuchs seinen Anteil verwehren. Um diese zu erkennen, muss der Stein wider Mord und Habgier eine Nacht unter dem Sternenhimmel in der Mitte der Siedlung liegen." Mit diesen Worten zog er einen faustgroßen, glatten Stein hervor. Der Waldbauer Alphak Schröterwald war so fasziniert, dass ihm der Unterkiefer herunterklappte. Seine Frau Boltsa schloss ihm den Mund und schüttelte den Kopf, verärgert darüber, was für eine lächerliche Figur ihr Mann wieder einmal machte. Großvater Ugdalf guckte nur mit einem seligen Gesichtsausdruck auf den Stein und nickte amüsiert, als ginge ihn das alles gar nichts an oder als wäre es die normalste Sache der Welt. "Wie funktioniert der Stein?", fragte Gilia Ulfaran. "Also, es ist so: Wer böse ist, der wird heute nacht keine Ruhe finden! Seine Untaten vergangener Tage werden ihn quälen!" "Aber wir haben doch Nachtwachen", wandte der Großbauernsohn Jallik Halmanger ein. "Die werden doch – die Zwölfe mögen es verhüten! – sowieso nicht einschlafen." "Ein guter Hinweis!", lächelte der Händler. "Der Stein hat eine weitere Eigenschaft, die uns in diesem Fall helfen wird: Wenn er von jemandem berührt wird, der etwas auf dem Kerbholz hat, dann glüht er rot auf!" "Von so etwas höre ich zum ersten Mal", bemerkte Aldur Haubenschreier skeptisch. "Nun, es ist ein Ritual der Phex-Kirche, da liegt das ja sozusagen in der Natur der Sache! Ihr werdet doch nicht eine solche Tradition brechen wollen, oder?" "Nein, nein, natürlich nicht!", beeilte sich der ehemalige Angbarer zu sagen.
"Kann ich den Stein einmal sehen?", fragte Dugobalosch. "Aber selbstverständlich, bitte!" Der Sohn des Dramosch besah sich das Artefakt genau und sprach dann: "Nichts Ungewöhnliches festzustellen. Sieht wie ein ganz gewöhnlicher Stein aus." Er reichte ihn weiter an Duglim Sohn des Dergam, der den Stein ebenfalls genauestens prüfte. Doch weder er noch seine Gefährten Korok und Krimog, Söhne des Korbosch, vermochten etwas auszumachen, das äußerlich darauf hingedeutet hätte, dass es sich um mehr als einen schönen glatten Stein handelte. "Da hört Ihr aus kundigem Mund, wie gut das Artefakt gemacht wurde! Denn so kann man es schön unauffällig einsetzen, wenn man es will. Hier in Neuvaloor braucht das natürlich nicht zu geschehen. Ich habe deswegen lieber davon erzählt. Nicht, dass Ihr mich noch für merkwürdig haltet, wenn ich nachher einen Stein mitten in der Siedlung ablege!" Die junge Firnia Schröterwald musste kichern und auch der Breikoch Kascha bebte vor stummem Lachen.
"Wie erkennt man denn überhaupt, dass der Stein geweiht ist?", fragte Denderan Sohn des Dragoran. "An seiner Wirkung. Das ist wie bei geweihten Waffen. Man sieht es ihnen ja ebenfalls zunächst nicht an." "Sagt, woher kennt Ihr Euch zu gut mit dem Artefakt aus?", fragte Thoram Dornenstrauch. "Es war Teil der Abmachung, mir all dieses Wissen zu merken. Auftrag ist Auftrag!", lächelte der Händler. "Woher weiß die Phex-Kirche, dass Ihr uns das alles wirklich erzählt? Ihr könntet es ja weglassen.", schrieb der stumme Schreiber Connar Tannhaus auf seine Tafel. "Man sagte mir, ich könne mir nie sicher sein, ob nicht ein Beobachter hier sei, der Bericht erstatten würde. Der Fuchs sieht vieles, von dem man meint, es geschähe im Verborgenen." "Wie Ihr das so erzählt, klingt das ganz schön spannend. Ich glaube, ich wäre auch gerne einmal für Phex von Dorf zu Dorf unterwegs.", gab Ingramosch Grambart unumwunden zu. "Gegen ein wenig Abenteuer scheint Phex ja nichts zu haben." "Aber gegen Geheimnisse. Das hätte ich nicht erwartet", merkte Caya Folmin an. "Nun, werte Dame, nur soweit es um brutale Verbrechen geht! Mit wem man heimlich der Rahja geopfert hat oder welches Leben man sonst führt, das bleibt verborgen!" Die Rakulbruckerin verzog ein wenig gekränkt das Gesicht. "Verzeiht, ich wollte Euch nicht beleidigen! Bei Eurem bezaubernden Äußeren fällt es leicht, sich vorzustellen, dass Ihr viele Verehrer habt." Jetzt entspannten sich ihre Gesichtszüge wieder. Die Schmeichelei hatte sie offenbar versöhnt.
Nachdem Bosper Hopfenwart soviel Aufmerksamkeit bekommen hatte, wandte sich das Gespräch den anderen beiden Gästen zu. Der Liebfelder hörte sich an, welche Probleme bei den Arbeiten für die Siedlung anfielen und versprach, gute Erde, Setzlinge und sogar Experten für Bodengewinnung aus seiner Heimat besorgen zu können. Alerich Siebenschröter war deutlich stiller. Neben ihm wirkte selbst der zurückhaltende Rossknecht Zolthan Grobbfold aufgeschlossen. Da die Flussschiffer als maulfaul galten und einige der Siedler selbst nicht gerade Plaudertaschen waren, gab man nach einigen kurz und knapp beantworteten Fragen Ruhe. Er war beeindruckt von der Großzügigkeit des Fürsten, soviel Geld zur Verfügung zu stellen, und lobte die Tatkräftigkeit der Siedler.
Am späten Abend legte Bosper Hopfenwart den Stein auf eine leere Kiste, damit er leicht wiederzufinden sein würde. Dann begaben sich die letzten zur Nachtruhe – bis auf die Wachen. Doch während am Rande der Siedlung, wo Zwerg und Mensch nach Räubern, wilden Tieren oder gar Schlimmerem Ausschau hielten, alles ruhig blieb, gab es zwischen den wiederzuerrichtenden Häusern Bewegung.
Eine Gestalt schlich sich Richtung Turm. Lautlos öffnete sie die Tür und schlüpfte hinein. Vorsichtig wurde eine Laterne entzündet und soweit abgedunkelt, dass das Licht nicht in alle Richtungen strahlte, sondern nur die unmittelbare Umgebung etwas erhellte. Nachdem sich die unbekannte Person ein wenig orientiert hatte, ging sie zum Schreibtisch des Ritters. Dort lag offen ein Dokument. Mit Erstaunen stellte der heimliche Leser fest, dass es in Füchsisch verfasst war, einer Geheimsprache für Händler und Gauner. Es war nur ein Satz, doch der war klar und deutlich geschrieben: "Finger weg!"
"Na, hat Euch meine kleine Überraschung gefallen?", erklang da eine leise Stimme aus der Dunkelheit. Erschrocken fuhr der Ertappte herum und fuchtelte ziellos mit der Laterne in der Gegend herum. Da sie nach wie vor fast abgedeckt war, konnte er immer noch nicht viel erkennen. "Stellt die Laterne weg oder ich rufe die Wachen. Mit Euch werden sie kurzen Prozess machen. Ich hingegen werde schon eine Begründung finden, warum ich nachts auf bin.", setzte die Stimme ebenso ruhig fort.
"Also gut, Ihr habt gewonnen", knurrte der Angesprochene leise. "Sehr gut, so ist es schon viel besser", lobte die Stimme. "Eure Tarnung ist leicht zu durchschauen für jemanden, der sich damit auskennt. Doch wenigstens haben die Späher des Roten Jast noch Manieren." "Woher wisst Ihr...? Wer seid Ihr?", fragte der Räuber sichtlich gehetzt. "Ja, das wüsstet Ihr wohl gerne, was? Bin ich einer der Reisenden, in deren Begleitung Ihr Euch leichter einzuschleusen gedachtet? Oder habe ich mich als Siedler ausgegeben? Oder bin ich gar nicht offen in Erscheinung getreten und habe auf der Lauer gelegen, bis Ihr kamt? Das wäre sicherlich eine wertvolle Information für Euch. Aber warum Euch diese kostenlos geben? Für Euch soll ausreichen, dass ich die Interessen der Phex-Kirche vertrete. Und deswegen bin ich mir sicher, dass mir nichts passieren wird, wenn ich die Nachtwache rufe, falls Ihr Zicken machen solltet." "In... Ordnung. Worin bestehen die genannten Interessen?" "Diese Siedlung steht unter dem Schutz des Fuchses. Falls der Rote Jast gedacht haben mag, hier auf die Schnelle das Geld des Fürsten abzugreifen, hat er Pech gehabt. Es wird ohnehin nicht als ein Geldbetrag von der Fürstlichen Kasse hierhin befördert, sondern in Angbar, Ferdok und den anderen Städten für Baumaterial ausgegeben." "Das werde ich dem Roten Jast gerne ausrichten. War das alles?" "Nicht so schnell. Phex liebt das Feine, nicht das Grobe. Er schätzt das Gerissene, nicht das Gemeine. Falls Ihr tatsächlich daran gedacht haben mögt, die Siedlung zu überfallen, so seid gewarnt: Das wird Phex keineswegs dulden! Wenn den Leuten von Neuvaloor etwas zustößt, weiß ich ja, bei wem ich zuerst nachfragen werde. Allerdings weniger freundlich als bei diesem Mal. Doch wo wir gerade bei den Fragen sind: Wer, lieber Alerich Siebenschröter, hat Euch eigentlich auf die Spur gebracht, hier in Moorbrück nach den Dukaten des Fürsten Erkundigungen einzuziehen?" Nachdem seine Identität nun gelüftet war, gab es keinen Grund mehr, sich zurückzuhalten. Er nannte seine Quelle, nicht ohne diese kunstfertig in Reimform zu packen – eine alte Marotte von ihm, um sich Neuigkeiten und Gerüchte leichter zu merken.
"Es war ein Zwerg in Koschtal,
der hat mir's wohl erzählt,
das Zuhör'n war kein' Mühsal,
er sprach von sehr viel Geld."
"Bravo, das gefällt mir!", lobte die Stimme, hörbar amüsiert. "Ich sehe, Ihr seid jemand, mit dem man reden kann. Dann lasse ich Euch jetzt gehen. Keiner außer mir wird von Eurer wahren Absicht erfahren, solange Ihr die Siedler in Ruhe lasst. Wie Ihr mit dem umgeht, was Ihr heute erfahren habt, sei Euch überlassen. Und richtet dem Roten Jast schöne Grüße aus." "Das werde ich", versprach Alerich Siebenschröter, blies die Laterne aus und verließ den Turm wieder. Er dachte über das Gehörte nach. Kurz vor dem Einschlafen wurden ihm einige Dinge klar. Die geheimnisvolle Stimme hatte ausdrücklich nur Überfälle ausgeschlossen. Von der einen oder anderen Dieberei war nicht die Rede. Vielleicht war hier doch noch etwas möglich, wenn auch nicht im großen Stil... und die anderen Siedlungen hatten nicht diesen besonderen Schutz.
Die Sterne leuchteten hell über einem klaren Himmel, als einige Zeit später eine weitere Gestalt sich dem Stein näherte. Zuerst huschte sie verstohlen von Hauswand zu Hauswand und hielt sich besonders in den Schatten zwischen den Gebäuden auf. Dann schließlich ging sie in langsamen, weiteren Schritten auf die Kiste zu. Sie legte eine Hand auf den Stein und wartete ab. Nichts geschah. Die Gestalt atmete tief aus vor Erleichterung.
"Sehr beruhigend, zu wissen, dass man nicht böse ist in den Augen der Zwölfgötter, was?", erklang ein Flüstern aus dem Schatten in der Nähe. "Wer ist da?" wisperte die Gestalt erschrocken zurück. "Reden wir doch etwas weiter weg von den Häusern. Wie wäre es beim alten Turm?" "In Ordnung." "Dann geh voraus." Die Gestalt bewegte sich geschwind auf den Turm zu, gegen die wachsende Panik und den inneren Drang, sofort davonzulaufen, ankämpfend. Kurz nachdem sie angekommen war, sah sie, wie sich ein Umriss auf sie zu bewegte.
"Ich wusste, dass Du kommen würdest", eröffnete dieser das Gespräch. "Mit Deiner Vergangenheit würdest Du nicht so einfach Ruhe finden." "Was war, zählt jetzt nicht mehr. Phex zürnt mir nicht, das hast Du selbst gesehen!" "Du meinst, weil der Stein nicht rot aufgeleuchtet hat, so wie es der Händler erzählte? Das beweist gar nichts. Es ist nämlich ein ganz gewöhnlicher Stein." "Was? Aber es hieß doch, er habe besondere Kräfte." "Das stimmt, wenn auch anders, als die meisten gedacht haben. Der Stein hat Dich schließlich zu mir geführt. Wenn er so wirkt, ist er auch ein Artefakt." Die Gestalt konnte anhand der Stimmlage nur erahnen, dass der Umriss gerade triumphierend lächelte. Nachdem der ertappten Person schlagartig klar wurde, wie sie überlistet worden war, fuhr der größere Schemen fort: "Ich bin derjenige, der Bosper Hopfenwart den Stein gegeben hat. Ich bin der Phexgeweihte, der den Schrein weihen wird." Die Gestalt beeilte sich, eine Ehrbezeugung zu machen, und verneigte sich. "Euer Gnaden..." "Schon gut. Reden wir nun darüber, was Dich nicht schlafen läßt. Erleichtere Dein Gewissen." "Ich denke, dass wisst Ihr doch schon. Wie habt Ihr mich gefunden?" "Das war nicht weiter schwer. Wer meldet sich schon freiwillig für ein Vorhaben wie die Moorbrücker Neusiedlung? Entweder Leute mit besonders viel Vertrauen in die Zukunft oder solche, die nichts mehr zu verlieren haben. Mit den richtigen Kontakten war es ein Leichtes, die Liste der Siedler einzusehen. Von den fünf Dutzend Leuten, die den Rittern nicht vorher bekannt waren, sondern dem Aufruf des Fürsten gefolgt sind, sind die meisten Familien oder Ehepaare. Bei denen ist es unwahrscheinlich, dass sie vor der Justiz geflüchtet sind. Ebenso konnten fast alle den Beamten eine überzeugende Geschichte erzählen. Also galt es nur den Hintergrund von wenigen Personen zu prüfen. Als ich Deinen Herkunftsort erfuhr, wurde ich hellhörig." Wieder hatte die Gestalt den Eindruck, dass der Phexgeweihte im Dunkeln breit grinste. Trotzig erwiderte sie: "Was hätte ich denn tun sollen? Eine falsche Angabe wäre aufgeflogen, wenn jemand aus der Gegend in dieselbe Siedlung gekommen wäre." "Ja, das ist wohl wahr. Auch Lügen will gelernt sein. Jedenfalls habe ich bereits erfahren, wer Du bist. Welch Ironie: Eine ehemalige Räuberbraut, die im Sumpf wohnt, genau an der Stelle, an der früher eine Siedlung war, deren Bevölkerung von Räubern getötet wurde." "Humbert war doch nicht so wie Ronkwer! Dessen dreckige Bande von Halsabschneidern hat die Leute von Klippbrühl erschlagen. Er war Humberts Erzfeind. Humbert hat in Wirklichkeit mit seinen Leuten den Weg bei der Burgruine in Dunkelforst überwacht und so sicherer gemacht." "Sicher, natürlich, das wird Dir der Herr von Neuvaloor so glauben! Er wird bestimmt den Unterschied zwischen zwei Räuberbanden kennen und Dich entsprechend nachsichtig behandeln, falls er Deine Geschichte erfährt. Hast Du Dich deswegen hier eingeschlichen?" "Ich habe ein reines Gewissen! Ich habe nichts Unrechtes getan!" "Dein Verhalten straft Dich Lügen! Du magst selbst kein Verbrechen verübt haben, aber Du weißt, dass Du vor dem strengen Auge des Gesetzes wohl kaum als unbescholtene Bürgerin durchgehen würdest und daher nicht die Bedingung für Moorbrücker Siedler erfüllst. Darum hast Du verschwiegen, was Dich wirklich hierhin getrieben hat. In Deiner alten Heimat hätte man kurzen Prozess mit Dir gemacht, wenn man Dich ergriffen hätte." Nun wurde die Siedlerin kleinlaut. "Ja, Ihr habt ja recht. So ist es gewesen." Sie ließ den Kopf hängen. "Gut", antwortete der Geweihte, "nun zum Geschäft. Du wirst für mich in Neuvaloor die Augen und Ohren offenhalten und von Zeit zu Zeit berichten. Bosper Hopfenwart genießt mein Vertrauen. Er ist durch einen heiligen Eid an die Kirche des Fuchses gebunden und würde nie etwas tun, das ihr schadet. Wenn der Händler in der Siedlung zu Gast ist, dient er gleichzeitig als Bote. Dieses Dienstverhältnis bleibt natürlich ebenso geheim wie unsere Abmachung. Ansonsten wird Ritter Boromil sehr schnell erfahren, wen er sich da an Land gezogen hat." "Ihr wollt mich erpressen!", warf die Frau entrüstet in den Raum. "Ganz im Gegenteil. Ich gebe Dir Gelegenheit, Buße zu tun für Deine Schuld, mit Räubern gemeinsame Sache gemacht zu haben. Umarme die Kirche des Phex! Sie ist bereit, Dich aufzunehmen! Du wirst im Dienst des Fuchses stehen und damit unter seinem Schutz. Das ist ein ehrliches Angebot und mehr, als Du in Deiner Lage verlangen könntest. Also, wie lautet Deine Entscheidung?" "Ich bitte Euch um Verzeihung. Ich werde für Euch arbeiten." "Für Phex, nicht für mich! Der Fuchs freut sich, mit Dir einen fairen Handel abschließen zu können." So wenig sie es mochte, von anderen bestimmt zu werden, so sehr sah sie ein, dass ihr im Augenblick keine andere Wahl blieb. "Habt Dank, Euer Ehren. Und Dank an Phex." "Gern geschehen. Gehe jetzt wieder schlafen, sonst fällt auf, dass Du allzu lange weggewesen bist." "Ja, Euer Gnaden." Mit diesen Worten entfernte sich die Frau und schlich zurück. Was vielleicht nur eine Durchgangsstation hätte sein sollen, entwickelte sich nun zu einem Daueraufenthalt für sie. Fliehen kam jetzt nicht mehr in Frage.
Der Geweihte lächelte. Er hatte nicht erwähnt, dass er noch über manch anderen Siedler Interessantes erfahren hatte. Es war klug, immer nur soviel zu enthüllen, wie notwendig war. Für dieses Mal konnte er zufrieden sein. Er richtete den Blick zum Himmel in stummem Gebet zu seinem Gott. "Phex, schlauer Händlervater, schaue gütig auf Deinen bescheidenen Diener. Siehe, wie viele Verirrte wir noch zurückbringen können unter das schützende Dach der Zwölfe!"