Bewährungsprobe am Trolleck - Sturm auf Burg Trolleck 02
Das Trolleck im Ingerimm 1033 nach Bosparans Fall
Gero vom Kargen Land war es, als hörte er sein eigenes Herz schlagen. Dabei war um ihn herum genug Lärm von klirrenden Rüstungen und schnaubenden Pferden.
Die Angreifer hatten keinen Grund, besonders leise zu sein. Im Gegenteil, sie sollten ja die Besatzer der Burg Trolleck ablenken. Auch wenn man darauf hoffte, die gemeinen Banditen aus der Burg hinauszulocken, so musste dennoch Belagerungswerkzeug herangeschafft werden, mit dem sie sich zur Not stürmen ließe.
Einige der Spießgesellen brachten eine Ramme für das Tor und bereiteten sich geschützt hinter einem Schildwall darauf vor, gegen das Burgtor zu stürmen. Bisher hatte es noch keine Pfeile und Brandsalven geregnet; die übliche Verteidigung war also ausgeblieben. Waren die Räuber am Ende doch nicht taktisch so bewehrt, wie bisher angenommen?
Plötzlich gab es einen Tumult in der Gruppe. Gero drehte irritiert den Kopf. Was war da los?
"Euer Hochwohlgeboren!", hörte er jemanden außer Atem rufen. Bei den Zwölfen, war das nicht... Derwart von Garnelhaun, der fürstliche Herold? Der Ritter vom Kargen Land beobachtete, wie von Garnelhaun dem Grafen ein Schriftstück überreichte, dass dieser schnell überflog.
"Rückzug!", befahl Wilbur vom See.
Eine plötzliche Änderung der Pläne? Das konnte nichts Gutes bedeuten!
Die Spießgesellen befolgten den Befehl, doch war ihnen anzusehen, dass sie an dem taktischen Geschick des Grafen ihre Zweifel hatten.
Als sich die gräflichen Truppen etwa hundert Schritt von der Burg entfernt hatten, wurde die Zugbrücke heruntergelassen. Gut drei Dutzend Gesetzlose stürmten den Angreifern entgegen.
Ganz so dumm gingen sie jedoch nicht vor, denn sie bewegten sich in Formation, wobei die vorderste Reihe lange Schilde hielt, so dass ein Großteil der Pfeile und Armbrustbolzen, die man auf sie schießen konnte, daran abprallen musste.
Graf Wilbur ließ seine Leute nun wieder vorrücken. Gero vom Kargen Land versuchte sich ein letztes Mal einen Überblick über die eigenen Reihen zu verschaffen, bevor das Getümmel unweigerlich losgehen würde.
Dicht bei seiner Hochwohlgeboren stand die Kommandantin seiner Leibgarde, Dorinde von Cellastein. Angbart von Salzmarken-See hielt sich ebenfalls in seiner Nähe auf und Gero selbst war nicht viel weiter weg, so wie er es versprochen hatte.
Nun prallten die beiden Seiten aufeinander. Dabei waren die Banditen zunächst im Nachteil, denn die langen Waffen der Spießgesellen trafen zuerst. Eben deswegen hatte der Graf wohl noch eine Vorwärtsbewegung befohlen, damit noch ein wenig Schwung dazu käme.
Es entging Gero nicht, dass die Mitglieder der Gräflichen Leibgarde, deren Gesichter er sehen konnte, sehr nervös wirkten. Es war offensichtlich, dass sie solchen Kampf nicht gewohnt waren.
Die Hügelländer Spießgesellen hingegen hielten grimmig stand. Das schien die Waagschale zugunsten der gräflichen Truppen zu neigen:
Die Reihe der Banditen war nach dem erste Zusammenstoß durcheinander, während Polter von Pirkensee scheinbar unablässig Befehle brüllte und dafür sorgte, dass sich jede auftuende Lücke schnell wieder schloss. Es gelang nur einzelnen Räubern, ihre Gegner in ein Handgemenge zu verwickeln.
Während die Spießgesellen noch recht schnell auf Nahkampf umschalten konnten und dafür ihre Schwerter zogen, war die Gegenwehr der Leibgarde erschreckend schwach.
"Ja, sind die denn nach ihrem Aussehen ausgewählt worden?", durchfuhr es Gero. Immerhin hatte er überhaupt Zeit für solche Gedanken, denn er stand in relativer Sicherheit hinter dem Schildwall der Spießgesellen und musste vorerst nicht selbst ins Kampfgeschehen eingreifen.
Wilburs Augen wechselten rasch zwischen verschiedenen Punkten des Kampfes. Er schien alles überblicken zu wollen und hatte einen ungewohnt ernsten Gesichtsausdruck.
"Gut so!", lobte Gero ihn innerlich.
Das Diebesgesindel schien zu merken, dass es hier den Kürzeren zog. Die Angriffe kamen längst nicht mehr mit solcher Wucht wie zu Beginn, während sich Spießgesellen und Leibgarde langsam gemeinsam zurechtfanden.
Es war für Gero nur noch eine Frage der Zeit, bis sich die Gesetzlosen wieder Richtung Burg Trolleck zurückziehen würden. Mit dem Beistand der Götter hätte das Kommando unter Roban Grobhand von Koschtal inzwischen die Gefangenen befreit und die Burg eingenommen. Dann säßen die Räuber in der Falle... doch was war das?
Aus der Burg stürmte in vollem Galopp eine Gruppe von Berittenen. Die Reiter schrien laut und schwangen Säbel und Schwerter.
"Ja, sind die denn wahnsinnig? Die werden noch ihre eigenen Leute niederreiten, wenn sie nicht anhalten!", schoss es Gero durch den Kopf.
Doch genau das hatten sich die Reiter vorher überlegt und nahmen es nun in Kauf, denn ihr eigentliches Ziel war es nicht, in den Kampf einzugreifen, sondern auszubrechen und zu entkommen.
Ihre eigenen Kameraden hatten ihnen den Rücken zugewandt und damit keine Chance, rechtzeitig auszuweichen. Bei den gräflichen Truppen hingegen hatte nicht nur Gero erkannt, was sich abzeichnete. Polter von Pirkensee schrie den Soldaten zu, eine Gasse zu bilden, was im letzten Moment gelang. Ein Mitglied der Leibgarde wich nicht rechtzeitig aus, geriet unter die Hufe eines Pferdes und blieb mit zerschmettertem Schädel liegen.
Nun geschah alles innerhalb weniger Herzschläge. Erschrocken blickte sich Gero nach dem Grafen um. Wo war Wilbur?
Als er ihn erblickte, blieb ihm fast das Herz stehen. Der Graf, welcher vom Zentrum aus seine Befehle gegeben hatte, stand nun genau in dem Korridor, durch den Reiter preschten.
Der Anführer der Berittenen lachte auf, als er Hochwohlgeboren anhand seiner Kleidung erkannte, und schwang sein Schwert nach ihm.
"Nein!" entfuhr es Dorinde von Cellastein, die während des Ausweichmanövers von Wilbur getrennt worden war. Mit einem schnellen Schritt trat sie auf ihn zu und riss ihn aus der Gefahrenzone. Er taumelte direkt in die Arme von Angbart von Salzmarken-See, der sich nun ebenfalls aus der Sicherheit der Menge gelöst hatte und sich seinerseits bemühte, seinen Grafen hinter die Schilde der Spießgesellen zu bringen. Dabei wehrte er zuerst mit dem Schwert einen zweiten Reiter ab, der einen Streich gegen Wilbur führen wollte.
Inzwischen waren die ersten Reiter vorbei und Dorinde von Cellastein beeilte sich, hinter den schützenden Schildwall zu kommen. Gero vom Kargen Land stand nun direkt neben Wilbur, Angbart und Dorinde. Die Erleichterung darüber, dass der Graf in Sicherheit war, war ihr anzusehen. Sie war schweißüberströmt und erschöpft, aber auch glücklich.
Während sich weiter vorne die Spießgesellen gegen den Rest des verbrecherischen Fußvolkes wandte, sprach sie mit lauter Stimme über den Lärm hinweg zu Gero und Angbart:
"Sprecht einen heiligen Eid, dass Ihr alles in Eurer Macht stehende tun werdet, um das Leben des Grafen zu schützen."
Beide Angesprochene verstanden nicht. Sie hatten den Treueeid bereits gegeben. Was sollte das jetzt?
"Schwört es!", schrie Dorinde von Cellastein sie fast flehentlich an.
"Bei den Zwölfgöttern, ich werde Wilbur vom See beschützen!" rief daraufhin Gero, sichtlich erschüttert von der Heftigkeit ihrer Worte. Angbart tat es ihm unmittelbar darauf nach.
"Gut", sagte Dorinde von Cellastein noch, dann sackte sie nach vorne.
Angbart und Gero fingen sie auf, bevor sie auf dem Boden aufkam. Als sie sie auf den Rücken drehten, sahen sie die Verwundung.
Der erste Reiter musste die Kommandantin der Leibgarde erwischt haben, als sie Wilbur gerettet hatte! Ein Heiler war keiner der beiden, aber es war ihnen auch ohne dies klar, dass sie schon bald auf Golgaris Schwingen sein würde. Schon jetzt fiel es ihr schwer, die Augen offenzuhalten.
"Dorinde... nein!", rief Wilbur, der erst jetzt begriffen hatte.
Mit einer letzten Kraftanstrengung rang sich Dorinde von Cellastein ein Lächeln ab. "Mein Graf..."
Dann schloss sie die Augen für immer.
Gemeinsam ließen Gero und Angbart sie sanft zu Boden gleiten, nur um sich danach jeweils auf einer Seite direkt vor den Grafen zu stellen. Wer auch immer Wilbur angreifen mochte, musste mindestens an einem von ihnen vorbei.
Im Bergfried von Trolleck hatte man sich leidlich in Geduld geübt.
Roban ließ eine Schnapsflasche kreisen und fragte die ihm zugeteilten Streiter nach ihrer Herkunft, ihrer Familie, ihren Plänen für die Zukunft. Eigentlich war es ihm gleich, ob die Leute nun Alrike oder Eichbart hießen, aber das Reden machte das Warten leichter. Außerdem gab er den Kämpfern damit das Gefühl, dass er sie nicht gedankenlos opferte.
Nach endlosen Minuten rückte das Fußvolk aus. Nicht Hals über Kopf, sondern anständig formiert, die Schildträger vorweg, der Rest in Reih und Glied hintendrein. Nur die Reiter blieben zurück.
"Orken, Arsch und Zwirn!" knurrte er, als ihr Beobachter diese Meldung nach unten durchgab. "Hoffentlich ziehen die auch noch Leine, sonst können wir gleich wieder in den Keller abtauchen!"
Aber lange warten mussten sie nicht mehr, dann zogen auch die Reiter in die Schlacht, die vor der Burg ihren Verlauf nahm. Die Rufe und Schreie von Kämpfenden und Sterbenden hallte bis in die Mauern des Bergfrieds.
"Helme ab zum Gebet!" befahl Roban. Als alle Streiter die Helme unter dem Arm trugen, schlug er die Faust an die Brust.
"Herrin Rondra, alveranische Leuin, schenk uns am diesem Tage deinen Segen für den Waffengang, der vor uns liegt. Führe du unsere Klingen nach deinem Willen und sammle an deiner Tafel, wen du als würdig erwählst!"
Er ließ den Blick in die Runde schweifen. Die Unsicherheit war noch nicht ganz aus den Blicken seiner Kämpfer gewichen, aber sie war wenigstens zum Teil finsterer Entschlossenheit gewichen.
"Also, ihr Koscher: Rondra will es!"
Er zog Schwert und Hammer und trat an die Tür, öffnete sie vorsichtig. Noch einen Blick über den menschenleeren Hof, dann durch das Torhaus zur Vorburg. Da standen die beiden Figuren, die man zurück gelassen hatte. Einer der Torflügel stand noch offen, vermutlich rechnete man damit, sich rasch in die Burg zurück ziehen zu müssen.
Aber im Notfall würden auch diese zwei genügen, um das Tor binnen Sekunden zu schließen und zu verriegeln. Mit einem Kopfnicken befahl Roban den Angriff.
Im Gänsemarsch, immer im Schatten der Mauer, arbeiteten sie sich bis zum Torhaus der Hauptburg. Etilian und seine zwei Streiter würden hier zurück bleiben.
"Wir sehen uns an der Tafel, Heiler", sagte Roban zum Abschied. "Ob an Wilburs oder Rondras, das wissen die Götter allein!"
Mit einem schiefen Grinsen nickte er dem Darpatier noch einmal zu, und huschte um die Ecke.
Vom Torhaus bis zur Vorburg war es eine Strecke von gut zwanzig Schritten, ohne Deckung oder Verstecke. Aber das Verstecken war Roban sowieso leid.
Mit weit ausgreifenden Schritten überwand er die Strecke. Waffenklirrend folgte ihm das kleine Häufchen im Laufschritt.
Die Aufmerksamkeit der zwei Halunken war auf das Kampfgeschehen gerichtet. Roban hörte eine Art Protestruf von einem, als er beinahe heran war.
"RONDRA!"
Das laute Gebrüll des Ritters ließ die beiden Männer herum fahren. Zu spät, um sich noch wirklich zu wehren.
Roban sprang den einen frontal an und warf sich mit ihm gegen den geschlossenen Torflügel, stieß ihm die eigene Stirn auf das Nasenbein. Der Kerl jaulte auf, als der Ritter zurück sprang, krümmte sich vor Schmerz, ging zu Boden, als ihn der Schwertknauf im Genick traf.
Der Kampf hatte kaum fünf Sekunden gedauert, aber diese Zeit hatte den anderen gereicht, auch den zweiten Vogelfreien zu bezwingen. Er lag im Schatten des offenen Torflügels in seinem eigenen Blut.
"Tor zu! Riegel vor! Macht schon, wir essen zeitig!" drängte Roban augenblicklich.
Zwei Streiter zerrten die Leiche zur Seite, die anderen warfen das Tor zu. Mit vereinten Kräften wurde der eisenbeschlagene Riegel eingelegt, mit lautem Rumpeln rastete er ein.
"Geschafft, Wohlgeboren!" schnaufte eine junge Hügelländerin. Sie blutete aus einer flachen Schnittwunde am Arm dem einzigen Widerstand, den die Torwache geleistet hatte.
"Noch nicht ganz!" widersprach Roban. "Erstens müssen wir noch diesen vergammelten Fetzen da runter holen", er deutete auf das Bärenbanner mit dem Bastardbalken, dass auf der Vorburg ebenso wie auf dem Bergfried thronte, "und dann müssen wir die Vorburg noch halten, falls der Feind versucht, in die Burg Trolleck zurück zu kehren!"
Die junge Frau nickte betreten. So weit schien sie noch gar nicht gedacht zu haben.
"Äh, welches Banner sollen wir denn statt des...vergammelten Fetzens hissen?" fragte sie verwirrt. Der Ritter überlegte kurz, dann zog er den eigenen Wappenrock über den Kopf.
"Binde das Ding ans Seil, bis der Graf uns was besseres schickt! Es muss nur weithin sichtbar sein, dass der Feind nicht mehr im Besitz von Burg Trolleck ist!"
Nach dem Durchbruch der Berittenen zerbrach der Widerstand der Banditen endgültig. Jeglicher Formation beraubt, hatten ihre eigenen Gefährten Ihr Schicksal besiegelt: Von den gräflichen Truppen umzingelt, blieb den Gesetzesbrechern keine Möglichkeit zur Flucht und mit Bestürzung mussten sie feststellen, dass die Tore von Trolleck ihnen versperrt blieben, egal wie heftig sie gegen das schwere Eichenholz hämmerten und mit Wut oder Verzweiflung in der Stimme die Namen der beiden Zurückgebliebenen brüllten.
Früher oder später mussten sie alle einsehen, dass Ihnen nur die Wahl blieb, im Kampf zu sterben oder in Gefangenschaft zu gehen. Und fast alle wählten den Kampf bis zum Ende wohl aus der Furcht heraus, dass das gräfliche Urteil über sie kein angenehmeres Schicksal bereithalten würde.
Vom Torhaus der Vorburg aus beobachtete Roban das Geschehen schweigend bis er Schritte hinter sich hörte.
"Sieht so aus, als wäre Burg Trolleck gesichert, Heiler."
Etilian nickte und setzte hinzu, als ihm aufging, dass diese Geste für den Ritter nicht sichtbar war:
"Ja, wie es scheint ist Rondra an unserer Seite gewesen."
Als der Darpatier sah, wie sich die Faust des Koschtalers in den schweren Handschuhen anspannte, fragte er sich, ob dieser wohl an seinen Lehrmeister Answein denken musste und sprach schnell weiter:
"Ich soll Euch von Helke berichten, dass Euer 'Banner' gehisst ist. Ihre Wunde habe ich versorgt; nichts Beunruhigendes, wie Ihr sicher gesehen habt. Für den Mann, den ihr niedergeschlagen habt, konnte ich allerdings nichts tun."
Nun blickte sich Roban doch irritiert um. Er war sicher gewesen, dass er den Mann nicht so hart getroffen hatte und etwas verspätet bemerkte der Heiler die ungünstige Formulierung:
"Äh, ich meine, er ist soweit in Ordnung. Nur die Nase ist gebrochen. Möglicherweise wächst sie nicht ganz gerade wieder zusammen, aber ich denke, das wird sein kleinstes Problem sein."
Roban stimmte ihm mit einem grimmigen Nicken zu, den Blick wieder zur Schießscharte gewandt.
Inzwischen hatte sich das Schlachtfeld draußen vollkommen geklärt und der Ritter von Koschtal konnte sehen, wie sich die gräflichen Truppen bereits neu formierten.
Einige waren zu schwer verletzt und blieben zurück. Andere würden sich nie mehr von dem dunklen, steinigen Boden erheben, auf den sie gefallen waren; mit zerschnittenen Kehlen, durchbohrten Herzen, hervorquellenden Gedärmen, starrend auf Glieder die nicht mehr an ihrem Körper waren oder Arme, Finger, Beine, die niemals zu ihrem Körper gehört hatten und dennoch nicht dort waren, wo sie eigentlich hätten sein sollen.
Starre, weit aufgerissene Augen, gebrochene Blicke ohne den göttlichen Seelenfunken. Doch die meisten, die dort ihres Lebens geraubt der Verwesung entgegengingen, waren Feinde gewesen. Die eigenen Verluste waren überschaubar und für Trauer keine Zeit.
Befehle wurden gebrüllt und während eine junge Kavalleristin noch fluchend das etwas unwillige Pferd einfing, von dem sie geworfen worden war, nahm die Schlachtreihe wieder Form an. Dieses Mal jedoch mit Burg Trolleck im Rücken, um sich dem Angriff auf die Feste Zwietrutz anzuschließen.
Gleichzeitig bemerkte Roban eine kleinere Gruppe, die sich dem Burgtor näherte. Unter Ihnen befanden sich Angbart von Salzmarken-See, Gero vom Kargen Land sowie die etwas schmächtigere Gestalt des Grafen, der von den beiden geführt wurde und leicht schwankte.
"Öffnet das Tor!" brüllte Roban nach unten, um etwas leiser hinzuzufügen: "Etwas stimmt nicht mit dem Grafen. Geht besser mal nachschauen, Hei..." doch als sich der Ritter umwand, war von Etilian schon Nichts mehr zu sehen.
Etwas missmutig stapfte der Moorbrücker Ritter die Treppe hinab, wo die kleine Gruppe gerade durch den Torbogen in den leicht ansteigenden Innenhof der Vorburg trat. Etilian von Lindholz-Hohenried empfing bereits die Neuankömmlinge und schien sich ein Bild von der Lage zu machen.
Verletzt war Wilbur vom See wohl nicht, aber sein Atem ging dennoch schnell und leicht röchelnd. Die Hände des jungen Grafen hatten sich vor der Brust verkrampft und sein Mund stand offen, wie bei einem Fisch, den man an Land geworfen hatte.
Roban selbst hatte solche Symptome noch nie gesehen, aber davon gehört: Gelegentlich waren junge Rekruten mit ähnlichen Problemen geschlagen, wenn sie in Ihrer ersten Schlacht mehr sahen, als offensichtlich gut für sie war. Wenigstens brach der Graf nicht zusammen, was in solchen Fällen auch vorkommen soll.
Etilian zögerte nicht lange. Er nahm Wilburs Gesicht zwischen seine Hände und fixierte so seinen Kopf. Die Geste erinnerte ein wenig an einen Vater, der seinem ungehorsamen Sohn dazu zwingen wollte, ihn anzusehen und zuzuhören. Tatsächlich schien das Vorgehen auch hier einem ähnlichen Zweck zu dienen. Mit ruhiger, aber klarer Stimme begann der Heiler auf den Neunzehnjährigen einzureden:
"Seht mich an, Euer Hochwohlgeboren. Es ist alles in Ordnung." Es dauerte ein wenig, aber schließlich gelang es ihm, den Blick des Grafen einzufangen.
Etilian löste eine der zittrigen Hände des Schweratmenden und drückte sie gegen den eigenen Brustkorb. Unter sehr deutlichem und gleichmäßigem Luftholen fuhr er fort:
"Achtet auf mein Atmen und tut es mir nach."
Alle im Burghof starrten so gebannt auf das Geschehen, dass eine geradezu unheimliche Stille eingetreten war. Nur von fern drangen die Geräusche der Truppen über die Burgmauern zu ihnen. Und langsam schien sich tatsächlich die Atmung des Oberhaupt des Hauses vom See zu beruhigen.
'Fast wie Zauberei', dachte Ritter Roban und schüttelte sich innerlich, als ausgerechnet in diesem Moment flatternd ein Rabe mit lautem Krächzen auf dem Dach der nahen Stallungen Platz nahm.
Einen Augenblick wartete Etilian von Lindholz-Hohenried noch, aber dann löste er sich aus seiner Haltung. Der Graf, der seine Umgebung jetzt wieder zur Gänze wahrzunehmen schien, machte einen erschöpften Eindruck, stand aber sicher auf seinen eigenen Beinen.
"Seine Hochwohlgeboren sollte sich etwas ausruhen", wandte sich der Heiler an Gero vom Kargen Land. Dieser nickte stumm und führte Graf Wilbur in Richtung der Hauptburg.
Gerade bei den einfachen Soldaten, die die Szene beobachtet hatten, konnte man eine gewisse Unsicherheit ablesen, die auch Angbart nicht entgangen war.
"Sie haben Zweifel. Können Sie einem Grafen ihr Leben anvertrauen, der so leicht außer Gefecht zu setzen ist? Wollen sie wirklich ihr Leben für ihn auf das Spiel setzen? Wir sollten wohl dankbar sein, dass nur so wenige Zeugen dieses Zwischenfalls geworden sind", meinte er leise und es war schwer abzuschätzen, ob er zu sich selbst, dem Heiler oder Roban von Koschtal gesprochen hatte, der sie inzwischen erreicht hatte.
Nervös presste Etilian von Lindholz-Hohenried den Mund zu einer dünnen Linie zusammen und war gar versucht, an der Lippe zu nagen, wie er es als Kind oft getan hatte, wenn er sich nicht recht entscheiden konnte. Dann rang sich der Neukoscher zu einem Entschluss durch und seine Verabschiedung von den beiden edlen Herren fiel fast schon überstürzt aus:
"Ich werde besser über den Schlaf des Grafen wachen, falls er einen Rückfall haben sollte. Habt Dank für Euren Schutz, Euer Wohlgeboren von Koschtal, und Rondra mit Euch beiden."
Eine kurze Verbeugung und schon eilte der Heiler in die Richtung der Hauptburg davon, durch deren Torhaus der noch kindlich wirkende Graf gerade schritt.
"Genug geglotzt! Nehmt euren Krempel und dann Abmarsch! Helke, gaff Hochwohlgeboren nicht an wie den wiedergekehrten Kaiser Hal!"
Roban streifte seinen Wappenrock wieder über, den die junge Frau ihm gebracht hatte. Wessen Farben von jetzt ab über Trolleck wehen sollten, darüber sollte der Graf selbst befinden. Seine Kämpfer brauchten jetzt jemanden, der ihnen die Unsicherheit austrieb.
Das Jammerbild eines Heerführers, dass Wilbur abgab, veranlasste ihn zu einem verächtlichen Schnauben. Ein Rekrut mochte sich nach der ersten Schlacht das Gekröse aus dem Leib würgen, aber ein Heerführer musste an sich halten, wollte er die Moral seiner Truppen nicht erschüttern.
"Answein, was mache ich hier überhaupt?" murmelte er leise. Dann erinnerte er sich an einige ernste Worte, die er erst vor kurzem gehört hatte. Ärgerlich presste er die Lippen aufeinander und trieb seinen kleinen Haufen zur Eile an. Je eher sie die vermaledeite Zwietrutz eroberten, desto besser.
Der Weg über das Schlachtfeld wurde für seine Streiter zu einer weiteren Bewährungsprobe. Obwohl jeder versuchte, es sich nicht anmerken zu lassen, bemerkte Roban die aschfahlen Gesichter und das krampfhafte Schlucken.
Als nicht weit von ihnen ein Verwundeter seine Pein laut heraus schrie, blieben zwei der Soldaten entsetzt stehen.
"Weiter!" Roban stieß den einen zwischen die Schulterblätter, dass er zwei, drei Schritt vorwärts taumelte.
"Der kreischt auch ohne Zuschauer. Und die Feldscher sind ja schon eifrig bei der Arbeit!"
Er selbst warf nur einen kurzen Blick auf den Mann. Seine langjährige Erfahrung sagte ihm, dass der Verwundete dem Feldscher keine Arbeit mehr machen würde. Golgari würde seine Leiden in wenigen Minuten beenden.
"Dankt den Göttern, dass ihr nicht hier liegt! Und betet zu Rondra, dass es so bleibt. Eine Burg liegt noch vor uns!"