Wengenholmer Geister - Im Wald da ist es einsam I
Borrewald, Ende Firun 1041
Durch die Ereignisse der vergangenen Tage waren die Adligen vorsichtig geworden und schlugen sich daher sogleich in die Bäume und warteten erst einmal eine Weile ab. Die Geräusche kamen offensichtlich von einem recht geschäftigen Lager. Niam von Grimsau meinte einmal sogar den Klang von Spitzhacken heraus zu hören. Es war jedenfalls klar, dass es sich nicht gerade um ein kleines Jagdlager handelte. Langsam und äußerst vorsichtig näherte sich die Gruppe dem Lager, bis sie von einem kleinen Kamm aus die Szenerie überblicken konnten. Um einen kleinen See herum war eine größere Anzahl Menschen damit zugange Eisplatten aus der teilweise zugefrorenen Seedecke heraus zu schneiden. Eine Menschenkette war derweil damit beschäftigt Eimer um Eimer mit Seewasser zu füllen, die Eimer weiterzureichen und dann in ein Loch zu kippen. Die Menschen, es waren sicher an die drei Dutzend Personen schienen dieser merkwürdigen Arbeit jedoch nicht freiwillig nachzugehen, denn zahlreiche Wachen überwachten, dass sie ihrer Arbeit ordentlich nachgingen. Ein rotbärtiger Zwerg und ein schwarzhaariger Mann mittleren Alters beobachteten das Geschehen und gaben immer mal wieder Anweisungen. Eine Handvoll Wachen drehte derweil Runden um den gesamten Bereich. Sie schienen recht ähnlich bewaffnet zu sein, wie die Kämpfer, die die Munteren Breitäxte bei Ilmenheide angegriffen hatten.
Links neben dem See waren einige kleine Hütten gebaut worden. Die Bauten sahen recht neu und nach eher notdürftiger Natur aus. Jedenfalls boten sie vermutlich kaum genug Platz um die Arbeiter und ihre Wachen zu beherbergen. Aus einer der Hütten stieg Rauch hinaus und eine ältere Frau trat aus der Tür heraus und rief etwas. Sogleich beendeten die Arbeiter ihre Arbeit und machten sich auf dem Weg zu der Hütte, ebenso wie die Mehrzahl der Wachen. „Essenszeit.“ Knurrte Halmar von Sindelsaum ärgerlich und versuchte seinen eigenen knurrenden Magen bei dem Gedanken an warmen Eintopf in einem warmen Haus zu unterdrücken.
„Einundzwanzig Bewaffnete und Neunundreißig Unbewaffnete.“ Stelle Aedin Jendar von Eschenquell fest.
„Auf jeden Fall verdammt viel los im Borrewald“, brummte Roban. „Hätte nicht gedacht, dass sich hier winters so viel Volk herumtreibt. Fragt sich nur, wer sind die Gefangenen, wer sind die Wächter und warum zum Henker schöpfen die Wasser? Ein Bad werden sie sich ja kaum bereiten wollen!“
„Allmählich würde mich nicht mal mehr das wundern!“ Tharnax wischte sich einige Schneeflocken aus den Brauen. „Und die Gefangenen sind bestimmt von jenem Gehöft, das die munteren Breitäxte so heldenhaft verteidigt haben. Erinnert Ihr Euch? Sie sagten, unter den Angreifern sei auch ein Zwerg gewesen! Und möglicherweise ist es derselbe Zwerg, der nächtens in der Siedlung herumgeschlichen ist.“
„Apropos schleichen – hier können wir uns das klemmen, fürchte ich!“ Roban kaute auf seinen Lippen, die von der Kälte bereits rissig waren. „Keine Deckung, alles blank wie ein Kinderarsch! Man müsste das Lager umgehen und hoffen, dass keine vorgeschobenen Posten im Wald rumhängen. Und auch dann bekommt man vermutlich nicht viel raus. Diese auf die Eile hingezimmerten Butzen haben ja nicht mal Fenster, nur einen Rauchabzug auf dem Dach.“ Der Koschtaler legte die Stirn in Falten, dann knuffte er Halmar von Sindelsaum in die Seite.
„Was denkt Ihr, Halmar – ob so ein Dach aus Grassoden wohl einen Ritter tragen würde? Ich meine, wenn er nicht gerade fett ist und flach auf dem Bauch liegt?“
„Ihr wollt nicht wirklich am Rauchabzug lauschen gehen?“ flüsterte Niam ungläubig. „Glaubt Ihr wirklich, wie ein Kaiserhörnchen von Dach zu Dach springen zu können, wenn die Leute gerade nichts Interessantes zu besprechen haben? Und was macht Ihr, wenn das Dach Euch nicht hält? Ihr mögt tatsächlich nicht fett sein, aber ein Leichtgewicht gewiss auch nicht! Das sind keine Angbarer Schieferdächer, sondern auf die Schnelle eingedeckt. Die halten mit Müh und Not Wind und Schnee stand, aber gewiss keinem Ritter. Was macht Ihr also, wenn Ihr mit dem halben Dach inmitten feindseliger Bewaffneter stürzt?“
„Ein dummes Gesicht mache ich“, grinste Roban. „Und hoffe, möglichst viele mit meiner mitgebrachten Dachhälfte erschlagen zu haben. Aber Ihr habt recht, das Risiko ist zu groß. Vielleicht können wir einen kassieren, wenn er mal austreten geht?“
Tharnax nickte nachdenklich. „Ja, wir müssen erst wissen was hier vorgeht, bevor wir entscheiden was zu tun ist.“ Er schnaubte verächtlich und spie aus. „Aber bei Angroschs Bart, wenn dieser Angroscho da unten Breitäxte erschlagen hat, dann werde ich ihn lebendig an seinen Eingeweiden aufhängen und ihm seine Eier in den Mund stopfen, damit er daran elendig erstickt.“
Aedin von Eschenquell lauschte den Worten und Überlegungen der erfahreneren Rittersleut, doch gerade die Idee mit dem Aufgreifen eines Einzelnen sorgte bei ihm für Unbehagen: „Wenn wir einen von ihnen schnappen müssen wir uns aber auch überlegen, was wir mit dem Rest machen. Wieder gehen lassen können wir ihn schlecht und wenn er länger fehlt, wird das sicher auffallen. Wenn der Gott der Nacht uns hold ist, dann vielleicht nicht sofort, aber man wird bemerken, wenn einer fehlt. Und aktuell sehe ich uns nicht unbedingt in der Situation, denn dann immerhin immer noch zwanzig entgegenzutreten. Wir könnten natürlich versuchen, nach und nach alle wegzuschnappen, aber dafür müsste uns Phex schon sehr hold sein, damit dieser Streich gelänge. Alternativ warten wir, bis Ruhe einkehrt im Lager und versuchen dann, die Lagerwachen zu belauschen. Mir ist nicht klar, was das hier soll und darum müssen wir sehen, dass wir Klarheit kriegen, daran kommen wir nicht vorbei. Die Gefangenen werden nichts wissen, nehme ich an. Also müssen wir sehen, dass wir uns an die Bewaffneten halten. Hat schon jemand von euch eine Idee, wer der Chef sein könnte? Vielleicht der Zwerg, vielleicht der schwarzhaarige Mann. Wir sollten schauen, ob einer der beiden heute Abend Wache hält oder anderweitig ins Reden kommt, das ist vermutlich unsere beste Gelegenheit, schlauer zu werden.“
Halmar wirkte nachdenklich. „Wir werden kaum nah genug an sie rankommen um sie zu belauschen. Wir könnten uns vielleicht nachts ins Lager schleichen, aber auch das ist verdammt gefährlich und es gibt ja auch keine Fenster zum reinschauen. Vielleicht sollten wir uns einfach gegen Abends eine der Wachen krallen. In der hereinbrechenden Dunkelheit bleibt uns vielleicht mehr Zeit bis die anderen bemerken was hier vor sich geht.“
„So sollten wir es halten“, stimmte der Bergvogt mit verkniffener Miene zu und fügte noch, „nicht handeln ist keine Option“, hinzu, bevor er fragend in die Runde blickte.
„Falls die Bande überhaupt großartig Wachen aufstellt!“ Roban strich sich nachdenklich einige verirrte Schneeflocken aus dem Bart. „Wenn man die Gefangenen in die Hütten treibt, genügt ein Mann vor der Tür, um die Butze abzusichern. Dann ein Feuer mittig angestocht, und die Wachleute haben sich auch noch gegenseitig im Blick. Da müsste der Herre Phex uns schon ein ausgewachsenes Wunder schicken, damit wir einen einsacken können!“
„Bleibt nur jemand, der das Wasser abschlägt, aber der würde sehr bald vermisst werden“, knurrte Halmar ärgerlich. „Vertrackte Situation. Andererseits…“
Er schwieg einige Sekunden lang.
„Wie würdet Ihr die Türen der Häuser bewachen – erst recht in einer kalten Nacht wie dieser?“
„Gewiss nicht mit dem Rücken am kalten Holz“, antwortete Tharnax. „Eher mit den Füssen behaglich nah am Lagerfeuer, am besten mit einem anständigen Schnaps, der von innen wärmt.“
„Ideale Voraussetzungen für ein paar aufschlussreiche Gespräche“, grinste Roban breit. „Und wenn das Pack sich so hinsetzt, dass es die Hütten stets im Blick hat, würden sie alle mit dem Rücken zum See sitzen. Wenn sich also jemand von der Seeseite anpirscht…“
„Über einen deckungslosen, zugefrorenen See mitten in einer Winternacht? Ihr habt Euren Verstand wohl in Auersbrück liegen gelassen! Im Wald mag Euch das Bettlaken wohl noch ausreichend getarnt haben, aber hier?“
Roban knurrte, was sowohl Zustimmung wie auch Ablehnung bedeuten konnte.
„Wird man wohl riskieren müssen – es sei denn, jemand hat noch andere Ideen! Bin für jeden Hirnfurz zu haben!“
Der Bergvogt blickte herausfordernd zu Roban auf, er hatte genug gehört. „Ich für meinen Teil werde mich im Wald umsehen, sobald es dunkel wird. Begleitet mich, vielleicht bietet sich uns eine gute Gelegenheit. Wie sagt ihr Großlinge doch immer so schön, hilf dir selbst, dann hilft dir Phex?“ Tharnax grinste frech bei diesen Worten.
„Fürs erste sollten wir uns aber weiter zurückziehen. Vielleicht haben sie Patrouillen, welche uns aufspüren könnten. Ich würde Leute durch den Rand des Waldes streifen lassen, wenn ich hier etwas zu verbergen habe.“
„Im Moment scheint die Bande mit Fressen beschäftigt zu sein, und die paar Nasen, die noch draußen stehen, denken wohl auch eher daran, wann sie sich was ins Gesicht stecken können!“ Roban nickte zu den nur noch drei Bewaffneten, die vor den Hütten standen, gegen die Kälte mit den Füssen stampften und tatsächlich eher an die warme Unterkunft denn auf übertriebene Wachsamkeit bedacht zu sein.
„Außerdem, würdet Ihr mit einer Entdeckung rechnen? Im Winter, mitten im Borrewald? Nee, ich glaube eher, die Wachen achten eher darauf, dass keiner der Gefangenen auskneift und Hilfe holt. Dann hätte man ein Problem. Bis jetzt können sie noch darauf hoffen, dass kaum einer von ihrer Anwesenheit weiß. Trotzdem, wir sollten Abstand halten – und den Waldrand schon mal ausspähen, solange wir noch ein wenig Licht haben.“
„Ihr Großlinge und euer Licht“, kicherte Tharnax. „Ein paar Monde im Stollen würden Euch gut tun.“
„Ich würde ein paar Monde in einer warmen Badewanne mit einem kalten Bier vorziehen“, brummte Roban. „Aber sei´s drum. Genug gequatscht – ich schleiche linksrum, Ihr nach rechts.“
„Und wir warten in der Mitte, nehme ich an?“ Halmar von Sindelsaum schien zwischen Tatendrang und Vernunft hin und her gerissen zu sein. Roban hielt kurz inne, blickte den Angroscho an, dann nickte er.
„Ja, abgemacht. Ihr deckt das Zentrum!“ Ohne ein weiteres Wort huschte er zwischen den verschneiten Zweigen davon.
„Entweder hat der Kerl eine wahrhaft schneidende Zunge oder einen Hohlraum zwischen den Ohren!“ murrte Niam von Grimsau.
„Vermutlich beides“, seufzte Halmar.
Quälend lange Minuten verstrichen. Zwischen den Hütten passierte nichts Aufregendes. Die draußen stehenden Wachen wurden abgelöst, um ebenfalls essen zu können. Die Dunkelheit nahm zu, doch die schneebedeckte Fläche des Sees sorgte für ausreichende Helligkeit.
Kurz tauchte der Zwerg noch einmal im Freien auf und richtete einige offenbar strenge Worte an die Wachen, ehe er wieder im Haus verschwand.
Die Wachleute entzündeten darauf ein kleines Feuer zwischen den Hütten, kaum groß genug, um aus hundert Schritt Entfernung gesehen zu werden, und drängten sich dicht um die wärmenden Flammen.
„Insgesamt sechs Mann“, murmelte Aedin von Eschenquell. „Immer noch zu viele, um sie überraschend zu überwältigen.“
„Und scheinbar hat keiner von ihnen ein dringendes Bedürfnis“, knurrte Halmar ärgerlich. „Ich frage mich, was Tharnax und Roban gerade treiben. Hoffentlich nichts allzu Riskantes!“
„Da seid gewiss!“
Die Wartenden unterdrückten einen erschrockenen Laut, als Tharnax aus der Dunkelheit wieder auftauchte und sich neben sie hockte.
„Auf meiner Seite alles frei, keinerlei Wachleute oder Spuren von Patroullien. Allerdings glaube ich, so etwas wie Stolperschnüre in der Nähe der Hütten gesehen zu haben, gut unter dem Schnee verborgen. Wohin sie führen, kann ich nicht sagen!“
„Ich schon!“
Erneut bissen sich die Adligen auf die Zungen, als Roban neben ihnen in den Schnee plumpste.
„Wir sollten eine Parole ausmachen beim nächsten Mal“, stöhnte Aedin. „Man greift schon jedes Mal zum Schwert, wenn Ihr so überraschend auftaucht. Eines Tages erschlägt man Euch noch versehentlich!“
Robans Grinsen war in der Dunkelheit kaum zu erkennen.
„Immerhin krepiere ich dann nicht im Bett! Und schaut mal, was man Hübsches findet, wenn man den Schnüren folgt.“
Er zog einen Stofflumpen unter der Jacke hervor, der irgendwann wohl ein Taschentuch gewesen war, und wickelte einen faustgroßen Gegenstand aus.
„Eine Kuhglocke?“ Niam von Grimsau riss verständnislos die Augen auf. „Wie kommt Ihr an so etwas?“
„Hing in einer Astgabel“, erklärte Roban. „Schnur dran, die dann gute zehn Schritt zwischen den Bäumen herläuft, knapp über oder unter der Schneedecke und nur schwer zu sehen. Trampelt man auf oder gegen die Schnur, fällt die Glocke runter – den Rest könnt Ihr Euch denken!“
„Wirklich nicht dumm. Ich hoffe, Ihr wisst noch, wo Ihr diese Alarmanlage lahm gelegt habt!“
„Ich weiß, dass ich dämlich aussehe“, erwiderte Roban bissig. „Das heißt nicht, dass ich es auch noch bin. Natürlich weiß ich, wo man jetzt ungefährdet an die Hütten kommt, und habe die Stelle markiert. Meine Pfeife steckt unter einer Birke im Schnee – sollte den Rotzkocher also nicht vergessen, ehe wir hier uns hier verziehen. Also, legen wir uns jetzt auf die Lauer, bis einem von den Burschen die Blase kneift?“
“Ausgezeichnet.” In der Stimme Tharnaxs schwang ehrlicher Respekt mit. “Dann heißt es nun also warten.
Nur dass wir drüber gesprochen haben. Ich lege mich mit auf die Lauer. Mein Auge ist wohl das Beste. Da meine Beine aber leider auch die kürzesten sind, werde ich den Vorstoß nur mit der Armbrust decken. Jemand anderer muss meinen Platz einnehmen, um eine der Wachen zu überwältigen. Die letzten Schritte müsst ihr wahrscheinlich sprinten.” Tharnax zuckte mit den Schultern und blickte in einem Anflug von Selbstironie an sich herab. In der Hocke reichte ihm der Schnee bis zur Hüfte. “Dann kann nur in die Hose gehen. Ich bin ja kein springender Bock.”
„Gut, jetzt gilt‘s“, meldete sich Boromil und nickte Roban zu. „Ingramosch, Du kommst ebenfalls mit. Besonders schnell laufen wirst auch Du nicht, aber Du siehst besser als ich im Dunkeln - und ich fessele jemanden lieber zu dritt als zu zweit.“ Der Angesprochene rieb sich die Hände, ob aus Vorfreude oder um sich die Kälte aus den Fingern zu vertreiben, war den anderen nicht ganz klar.
Gemeinsam pirschten sie sich an die Stelle heran, die Roban mit seiner Pfeife markiert hatte, und warteten ab. Und tatsächlich – nach einiger Zeit verließ einer der Männer die Hütte. Boromil zeigte stumm auf den Schurken. Sie alle duckten sich ein wenig, doch aufgrund der Dunkelheit und der Einsamkeit des Borrewalds ging der Bewacher seelenruhig bis zum Waldrand. Phex war ihnen hold und der Schurke bewegte sich bis auf fünf Schritte an sie heran, als er sich in Richtung eines Baumes drehte. Roban machte eine lautlose Armbewegung und er und Boromil stürmten los. Der Schlagetot hörte zwar ein Geräusch, aber er war schon leicht angetrunken und konnte es nicht richtig einordnen, und so merkte nicht, wie ihm geschah, bis er plötzlich eine Klinge an seinem Hals spürte. „Keine falsche Bewegung, oder du kannst Uthar erklären, warum du ihm auf dem Keks gehst, dreckiger Abschaum!“, knurrte Roban ihm ins Ohr. Boromil hielt dem Kerl von hinten zunächst die Handgelenke fest, doch schon bald war Ingramosch mit Fesseln herangeeilt. Zuletzt stopfte er dem Gefangenen einen fachgerecht hergestellten Knebel in den Mund. Alle Achtung, dachte sich Boromil, der Grambart hat wirklich geschickte Finger…
Nachdem sie ihre menschliche Beute zum eigenen Lagerplatz zurückgebracht hatten, brach zwischen Boromil und Roban ein Streit aus. „So, den ersten haben wir. Kommt, dem verpassen wir einen sauberen Schnitt, und dann holen wir uns direkt den nächsten! Hier sind wir in sicherer Entfernung, da hört ihn niemand schreien.“ Roban zog mit geübter Beiläufigkeit seine Klinge. „Einen Wehrlosen einfach so abmurksen? Das können wir nicht machen! Wir sind doch keine Straßenräuber.“ „Was sollen wir denn sonst tun? Die oder wir – so sieht‘s aus. Und je länger wir rumschwafeln, desto heisser wird der Boden hier für uns.“ Roban trat einen Schritt auf den Gefangenen zu, der auf die Waffe starrte und heftig zu atmen begann. „Im Osten haben wir das auch nicht anders gemacht, damals, mit den Heptarchenschergen...“ „Warte!“, stellte sich Boromil dazwischen, „um der guten Zwölfe willen müssen wir ihm zumindest eine letzte Chance geben, Reue zu zeigen. Wenn er uns hilft, die Dorfbewohner zu befreien, will ich gerne Gnade vor Recht ergehen und ihn laufen lassen.“ Er wandte sich dem Banditen zu, der immer noch starr vor Schreck war angesichts seines nahenden Todes. „Allerdings musst Du uns dafür schon genau sagen, was hier gespielt wird!“ „Ach, das bringt doch nichts!“, bellte Roban von hinten, „der wird uns die Hucke volllügen.“ „Tja, mit Herrn Praios hält es dieser Strolch tatsächlich nicht immer so, wie wir schon wissen - aber vielleicht ist er schlau genug, die Gnade des Herrn Phex zu erkennen...“ Boromil zog einen kleinen Gegenstand aus der Tasche und hielt es dem Gefangenen vors Gesicht. Es stellte sich als ein Phexsymbol heraus, welches sogar im Dunkeln kurz aufzublitzen schien. „Und diese zeigt sich in Form von Glück. Unverdient, wie Glück so oft ist... aber vielleicht kannst Du durch eigene Tat zumindest erreichen, dass Deine Strähne noch ein wenig anhält. Also, was hast Du lieber: Das Zwinkern des Fuchses oder den Stahl der Löwin?“ Unfähig, unter dem Knebel zu sprechen, konnte der Angesprochene zunächst nur schnell nicken, dann heftig den Kopf schütteln. „Abgemacht. Ich werde Dir jetzt den Knebel abnehmen. Du wirst natürlich vernünftig genug sein und still sein.“ „Ach was, schrei ruhig um Hilfe“, forderte Roban ihn auf, „es wird mir eine Freude sein, deinen Balg Stück für Stück zu zerlegen. Wenn deine Kumpane dich kreischen hören, vergeht ihnen die Lust am Kämpfen, da kannst du sicher sein. Ich habe seinerzeit in Tobrien so einiges gelernt, was das Zermürben der Feinde angeht… mich juckt‘s in den Fingern, das mal wieder auszuprobieren.“ „Ich fürchte, mein Gefährte wird langsam ungeduldig. Also, wir werden nicht viel Zeit für Spielchen haben, denn dazu ist er zu entschlossen, es auf seine Weise hinter sich zu bringen. Nun sag mir klipp und klar: Wer seid Ihr und was macht Ihr hier im Wald?“
Dem Schurken wurde sichtlich heiß und kalt, war Roban in seiner Rolle als kaltblütiger Mörder doch überaus erfolgreich. So sprudelte es aus dem Mann geradezu heraus „Wir sind Söldner aus Andergast und sind angeworben worden um diesen See hier trocken zu legen. Das ist natürlich viel Arbeit, daher haben wir uns einige Bauern und Reisende geschnappt, um die Arbeit für uns zu machen.“ „Und was sucht ihr im See?“ Halmar von Sindelsaum wirkte nicht, als ob er dem Schurken unbedingt Glauben schenken. „Das weiß ich nicht. Uns hat man nichts gesagt. Der Zwerg und der Koscher haben uns in nichts eingeweiht. Nur gut bezahlt haben sie, daher sind wir mitgekommen, auch wenn es uns alles ein wenig komisch vorkam.“
„Der Zwerg und der Koscher, haben die auch einen Namen?“, fragte Boromil. „So dumm ist doch kein Söldner, dass er einem völlig Unbekannten folgt. Gerade wenn der Auftrag zu gut bezahlt wird...“
„Ist ja gut.“ Der Söldner war sichtlich beeilt eine zufriedenstellende Antwort auszuspucken, bevor Roban auf weitere dumme Gedanken kommen konnte. „Der eine heißt Ulfried und kommt hier aus der Ecke, aber er war schon länger nicht mehr hier glaube ich. Muss also sich vor einiger Zeit also verdrückt haben müssen. Der Zwerg heißt Drugol, der kennt sich hier auch hervorragend aus.“ “Ulfried der Blutige“, nickte Boromil mit ernsten Gesicht. „Und Drugol Sohn des Drogosch“, fügte Ingramosch hinzu. „Die beiden haben uns in Albumin angeworben.“, fuhr der Söldner fort. „Wir haben uns damals nach ihnen umgehört, aber viel konnten wir nicht rausfinden, außer, dass sie mit einem Warentransport aus dem Svellttal angekommen sind. Wir hatten schon lange keinen lukrativen Auftrag mehr gehabt, aber die haben so viel bezahlt, dass wir unsere Bedenken über Bord geworfen haben.“
„So ein See läßt sich doch nicht mal eben trockenlegen.“, fuhr Ingramosch dazwischen. „Wie habt Ihr Euch das denn gedacht? Selbst wenn ihr halbmechanische Eimerschöpfreihen einsetzt, dauert das Wochen – und die müsstest Ihr hier erst einmal aufbauen. Dazu ist der Winter die schlechteste Zeit für so ein Vorhaben! Euch werden doch eher die ersten Leute erfrieren oder an Erschöpfung sterben, bevor Ihr auch nur den Wasserpegel nennenswert gesenkt habt.“ Er überlegte weiter – die Ideen sprudelten nur so aus ihm heraus. „Nein, es wirkt eher so, als wolltet Ihr hier einen Schatz heben, und der muss so wertvoll sein, und es muss so schnell gehen, dass Eure Auftraggeber gutes Geld bezahlen und nicht warten können, dass es wärmer wird! Hat der Angroscho etwa nennenswerte Beute im See versenkt, die er sich jetzt abholen will? Na, sag schon, was Du weißt!“
„Die beiden halten alles schwer geheim, aber sie haben gesagt, dass es keinen Schatz gibt, was eine gute Idee war, denn ein paar Kameraden wollten die zwei schon loswerden, um alles für sich behalten. Sie haben gesagt, da wäre ein Sammlerstück im See, für das sie einen guten Käufer hätten, aber wir würden das Ding ohne sie nie loswerden. Die Arbeit ist wirklich hart und viele der Leute die wir gefangen haben sind krank, aber der gute Storko und dieser Feldscher kümmern sich um sie.“
Boromil rieb sich überlegend das Kinn. Ein Feldscher? Könnte das…? Aber wie sollte er danach fragen, ohne zuviel von ihrem Auftrag preiszugeben?
„Hinterwäldler“, gab Tharnax abfällig von sich und spie aus. „Ich bin dafür ihn ein bisschen ‚zu kitzeln‘, vielleicht weiß er ja doch mehr, als er uns bisher preiszugeben gewillt ist“, sprang der Bergvogt auf das Spiel mit ein. „Ich habe einige Erfahrung mit Schwarzpelzen und bin mir ziemlich sicher, dass deren Schmerzgrenze höher liegt.“
Der Angroscho holte seine Ledermappe heraus, öffnete die Verschnürung und präsentierte das darin enthaltene Werkzeug, darunter auch einige Auswahl verschiedener Zangen.
„Nehmt die Knippzange und zieht ihm die Zunge lang“, schlug Roban vor. „Oder die Klötze – dann kann er wenigstens noch sprechen! Einen Zahn ziehen könnten wir ihm auch – wir haben einem Dämonenknecht drüben im Tobrischen die halbe Kauleiste amputiert, aber gesungen hat der…“
Ohne Frage bediente Roban sich aus der Mappe und nahm eine der größten Zangen zur Hand. Prüfend öffnete und schloss er das Werkzeug, als müsse er beurteilen, wie gut sich damit Zähne ziehen ließen.
„Vielleicht eher mit einem der kleinen Meissel“, grinste Tharnax. „Wir hebeln die Zähne einfach raus!“
Roban wiegte den Kopf hin und her.
„Auch nicht schlecht, Herr Bergvogt. Die Idee gefällt mir!“
Er grinste, als habe er die letzten Jahre als Torturmeister der Inquisition gearbeitet.
„He, he, so war das aber nicht gemeint!“, fuhr Boromil dazwischen. „Der Mann muss eine ehrliche Möglichkeit haben, alles zu sagen, was er weiß. Wenn er die nicht nutzen will – nun, dann kann ihm auch Phex nicht mehr helfen.“
„Seht es ein, Boromil – der kriegt die Zähne nicht auseinander, es sei denn, man hilft ein wenig nach!“ Roban fuchtelte mit der Zange in Richtung des Gefangenen, dessen Gesicht mittlerweile kaum dunkler war als der Schnee.
Boromil hob beide Hände in Robans Richtung, als wolle er einen rauflustigen Ork beruhigen. Dann wandte sich noch einmal an den Gefangenen. „Also, in der Zwölfe Namen und um Dein Leibes- und Seelenheil willen: Was kannst Du uns noch verraten? Was waren das für Reisende, die Ihr geschnappt habt? Waren da etwa auch einige Edelleute und Ritter dabei?“
„Wir haben einen Ritter geschnappt, der ist aber zu gut zum arbeiten hat der Ulfried gesagt. Seine Leute müssen aber ran.“ „Und wie heißt dieser Ritter?“ zischte Halmar ihn an. „Rotenforsten, oder so ähnlich. Der sitzt eigentlich nur den ganzen Tag in der Hütte und darf sich nur manchmal die Füße vertreten. Ich habe mit ihm nicht viel zu tun, ich muss meistens die Bauern bewachen.“
“Aus dem Svellttal…”, brummte der Bergvogt und kratzte sich nachdenklich den Bart. “Sammlerstück...” Was konnten diese Halunken hier nur suchen, in einem See, auf dessen Grund?
Plötzlich riss er die Augen auf. “Der große Sternenregen. Große Teile gingen um den Svellt nieder. Viele haben seinerzeit dort ihr Glück auf der Jagd nach den kostbaren Steinen gesucht.” Tharnaxs Stimme verriet Erregung. “Ist hier kürzlich auch etwas niedergegangen? Vielleicht suchen sie so einen speziellen Schatz.”
„Das ist durchaus möglich!“, bestätigte Boromil. „Im Travia vor zwei Jahren fiel bei Angbar ein Teil eines Sterns herab. Mein Vater war damals dabei.“ Er wandte sich an den Gefangenen. „Der Ritter – ist er etwa sechzig Götterläufe alt? Und zeigt sein Wappen eine rote Tanne auf silbernem Grund?“ „Mit einer schwarzen Axt darüber? Ja, ja!“, beeilte sich der Gefangene zu antworten. Nun hatte Boromil endgültig Gewissheit. „Das ist Viburn von Rohenforsten. Ihr habt einen Freund des Fürstenhauses gefangengenommen, gratuliere. Da habt Ihr fürwahr einen Eber gechossen! Du brauchst jetzt wirklich alles Glück, das Phex Dir geben kann...“ Der Andergaster verstand zwar die Koscher Redensart nicht, wusste aber auch so, dass er in größeren Schwierigkeiten war, als er bislang angenommen hatte.
Boromil beeilte sich, in seiner Befragung sogleich nachzusetzen. „Der Feldscher, den Du erwähntest… ist das auch einer der Gefangenen? Wie sieht er aus? Etwa ebenfalls um die sechzig Götterläufe, aber recht verlebt und sehr traurig?“ Der Söldner schluckte. „Äh, ja. Den haben Ulfried und Drugol zum Essen kochen und später zum Verarzten eingesetzt, denn er wirkte ganz schwächlich und taugte nicht zur harten Arbeit. Ihm geht‘s aber noch ganz gut.“, fügte er hinzu, erahnend, dass schlechte Nachrichten ihm selbst nicht gut bekommen würden.
Boromil seufzte erleichtert. Es bestand noch Hoffnung für Harrad von Eberstamm-Weidenhag! Und offenbar war den Räubern nicht klar, wen sie da in ihrer Gewalt hatten. Nun galt es, mit der Wahrheit zu lügen. „Dieser Mann war früher einmal ein hochangesehener Heilkundiger, muss sich jetzt jedoch vor dem Fürstenhof verantworten. Deswegen sollte er aus Greifenfurt herangebracht werden – lebend und unversehrt. Der neue Fürst wollte unbedingt allen zeigen, wie unter seiner Herrschaft hart, aber gerecht geurteilt wird. Deswegen sollte ein Vertrauter des Seneschalks den Gefangenen bringen.“ Er atmete hörbar aus. „Die Zwölfe mögen Euch gnädig sein, wenn ihnen auch nur ein Haar gekrümmt wird!“ „Sag mal, Boromil“, mischte sich Ingramosch erneut ein, „hat nicht schon einmal ein Koscher Fürst gegen eine Gruppe Andergaster Söldner hart durchgegriffen?“ „Das kannst Du aber laut sagen! Fürst Holdwin hat den Anführer aufknüpfen und den anderen beide Hände abschlagen lassen! Das war das Ende der Andergaster Kerls!“ Der Gefangene schluckte, als er das hörte. „Hm, und wenn jetzt der bestellte Gefangene nicht ankommt, wird Fürst Anshold sicher sehr böse und will es seinem Vorfahren gleichtun...“, überlegte Ingramosch laut. „Ja, aber sicher!“, bestätigte Boromil. „Vor kurzem hat er noch den Oger Goro aufspüren und töten lassen – da wird er sich jetzt nicht von einer Gruppe Gesetzloser einschüchtern lassen. Im Gegenteil, es würde mich nicht wundern, wenn er im Zweifelsfall einen ganzen Wald abfackeln läßt, um keinen entkommen zu lassen.“ Der Gefangene zitterte inzwischen heftig...
Tharnax folgte den Ausführungen aufmerksam, indes konnte er nicht viel dazu sagen. Diese Namen waren im durchaus geläufig, auch kannte er die dazugehörigen Wappen, aber Gesichter verband er damit nicht. Der Bergvogt machte aber auch keinen hehl daraus, dass er sich für den menschlichen Adel und deren Politik nur minder erwärmen konnte. Seine Interessen gingen selten über die Belange der Bergkönigreiche, in denen er über hervorragende Kontakte verfügte, hinaus. Meistens waren es Männerfreundschaften, geboren in den Jahren des Krieges, die Tharnax mit Menschen verband. Nur wenige waren in anderen Bereichen seines bisherigen Lebens hinzugekommen.