Roterzer Herzklopfen - Enttäuschung II
Anfang Hesinde 1041 auf Burg Adlerstein
Rondrolf war mit den üblichen Verwaltungstätigkeiten befasst. Das Gut Bochswies hatte man vorübergehend dem sindelsaumer Knecht Binsbart anvertraut. So von jetzt auf gleich konnte Rondrolf hier nicht weg, und es war ihm auch lieber, Angunde, deren Bauch immer runder wurde, in seiner Nähe und in Sicherheit zu wissen.
Es war bereits später Nachmittag, als laute Rufe ihn aus seiner pflichtschuldigen Ruhe rissen.
Nach einem Moment der Verwirrung stellte er fest, dass die Rufe von Entsetzen und Angst erfüllt waren. Als er die Treppe hinab stürmte, begegnete er zu seiner Erleichterung seiner Gattin, die ebenso wenig wusste, was geschehen war.
Im Burghof angekommen traf es ihn wie ein Faustschlag: auf einem aus Weidenästen improvisierten Gestell lag der reglose Körper seines Vaters. Eigentlich hatte er einen der letzten sonnigen Tage des Jahres für eine Jagd nutzen wollen, ehe Firuns eisiger Griff sich um die Ambossberge legte.
„Was um der Götter willen ist geschehen?“ rief er, als er neben der improvisierten Bahre niederkniete. Sein Vater atmete, hatte die Augen aber geschlossen. Blutige Schrammen bedeckten jeden sichtbaren Flecken Haut, und das Atmen klang mühsam und rasselnd.
„Seine Hochgeboren ist einen Abhang hinab gestürzt“, erklärte einer der Jagdhelfer. „Er folgte einer Bergziege und war uns weit voraus, als es geschah. Wir fanden ihn am Fuss der Steilwand, bereits in diesem Zustand.“
Rondrolf schloss kurz die Augen. Er musste jetzt kühlen Kopf bewahren, Entscheidungen treffen, Massnahmen einleiten. Als er die Augen wieder öffnete, war sein Blick wieder klar und fest. Er schickte einen der Wächter nach Eisenhuett, um einen Heilkundigen aufzutreiben – es gab zwar nur einige Hebammen und drittklassige Wundärzte, aber das war im Moment besser als nichts. Einen zweiten schickte er mit dem schnellsten Pferd gen Moorbrück, und betete, dass der Mann schneller sein würde als Golgari.
Gerade mal vier Tage später
Jeder Rittmeister hätte Roban gevierteilt bei der Art, wie er sein Pferd in den letzten zwei Tagen angetrieben hatte. Geschlafen hatte er nicht – er war viel zu beschäftigt damit, Danja festzuhalten, damit sie bei dem Gewaltritt nicht aus dem Sattel fiel. Die Maga hatte ebenfalls kaum geschlafen, und Roban hoffte, dass dies ihre Fähigkeiten nicht beeinträchtigen würde. Sie war so ziemlich die einzige Hoffnung, die sie hatten, aber es musste schnell gehen.
Die Torwachen von Adlerstein mussten zur Seite springen, um nicht nieder geritten zu werden, und keine Minute später zerrte Roban die Festumerin bereits durch die Flure zum Krankenlager seines Vaters.
Grimwulf Grobhand von Koschtal lag mit eingefallenem Gesicht im Bett. Ein kalter Lappen kühlte die Stirn, seine Gattin Idumelda von den Silberfällen, Rondrolf und Angunde hielten stumme Wacht, als Roban ins Zimmer stürmte.
„Endlich!“ Rondrolf trat ihnen entgegen. „Wir hatten die Hoffnung schon…“
Danja Salderken hob entschieden die Hand.
„Keine Zeit für Begrüssungen. Ich bin viel zu müde, um jetzt noch höfliche Floskeln auszutauschen. Wenn ich alle Anwesenden, Hochgeboren von den Silberfällen ausgenommen, bitten dürfte, das Krankenzimmer zu verlassen, bis ich meine Examinatio beendet habe!“
Schweigend folgten alle der Anweisung, während Danja sich neben Grimwulf Lager niederließ. Roban warf noch einen letzten Blick durch den Türspalt, ehe er sich schloss. Er hatte seinen Vater noch nie so schwach gesehen. Und nie so alt.
Es dauerte quälend lange, ehe Danja mit der Baronin das Zimmer verließ. Sie wirkte noch entkräfteter als zuvor, aber sie mühte sich ein Lächeln ab.
„Er wird überleben“, erklärte sie, und erntete erleichterte Rufe und sogar eine echte Umarmung von Roban, bei der sie ihre Rückenwirbel ächzen hörte.
„Dennoch, sein Zustand ist ernst, erst recht in seinem Alter“, dämpfte sie die Euphorie gleich darauf. „Mehrere Rippenfrakturen, dazu eine leichte Lungenruptur, die eine astrale Intervention unumgänglich machte. Eine schwere Commotio cerebri, die vermutlich von allein ausheilen wird, solange der Patient Ruhe bekommt, diverse Stauchungen, Prellungen und oberflächliche Abschürfungen, die auf den Sturz zurück zu führen sind. Hinzu kommt ein stumpfes Trauma im Nacken, vermutlich ist er gegen einen vorspringenden Fels oder Ähnliches geschlagen, als er den Hang hinab fiel. Weitere Prellungen ziehen sich über die gesamte Körperlänge. Trotzdem, er hatte Glück – und die Konstitution eines Pferdes, wenn ich das anmerken darf. Ein weniger kräftiger Mann hätte einen derartigen Sturz wohl nicht überlebt. Dennoch, es ist fraglich, ob der Baron wieder vollständig genesen wird.“
„Wieso das denn?“ fuhr Roban auf. „Du hast doch gezaubert, oder nicht?“
„Selbstredend habe ich einen BALSAM SALABUNDE appliziert, Roban, allein schon, um das Eindringen weiterer Flüssigkeit in die Lunge zu unterbinden. Aber nicht alles lässt sich durch Zauberei heilen. Ihr Gatte, Hochgeboren, und euer Vater ist alt.“
„Dreiundsiebzig Sommer“, stimmte Rondrolf mit verschränkten Armen zu, den Blick ins Leere gerichtet.
„Fürwahr ein stolzes Alter. Und auch wenn diese Aussage niemandem kommodiert: ein derart schwerer Sturz, gefolgt von einer unumgänglich langen Genesungszeit, kostet enorme Kraft. Ich bin guter Hoffnung, dass Baron Grimwulf sich wieder erholen wird, aber zur alten Kraft und Vitalität wird er wohl kaum zurück finden.“
Roban biss sich auf die Lippen, und man sah ihm an, dass er am liebsten auf irgendetwas eingeschlagen hätte.
„Also wird Vater so bleiben – alt und schwach, meine ich?“
„Alt war euer Vater schon zuvor, Roban.“ Idumelda legte ihrem jüngsten die Hand auf den Arm, wie nur eine Mutter es konnte, und Danja glaubte beinahe, dass ihr ruppiger Freund eine Träne wegblinzelte. Das Roban an seiner Familie hing war ihr bekannt, aber dass er ihr wirklich so nahe stand, dass überraschte sie doch. Für einige Sekunden war der kampfgestählte Tobrienveteran einfach nur ein Mann, der hilflos um seinen Vater bangte.
„Dürfen wir noch einmal nach ihm sehen?“ erkundigte sich Rondrolf vorsichtig. Danja überlegte kurz, dann nickte sie.
„Aber bitte nur kurz. Der Baron wird viel Ruhe brauchen, vor allen Dingen viel Schlaf. Falls es keine Umstände macht, würde ich auf der Burg verbleiben, um seine Genesung zu überwachen.“
„Wir stellen Euch ein Zimmer zur Verfügung, und natürlich werden wir Eure Dienste angemessen entlohnen“, versprach Rondrolf sofort.
„Kümmern wir uns später darum. Geht jetzt noch einmal zu ihm.“
Grimwulf war wach, als die vier vorsichtig in das Zimmer traten. Idumelda ließ sich neben ihrem Gemahl nieder und nahm seine Hand. Der Baron brachte ein gequältes Lächeln zustande.
„Es wird wohl Zeit, Idu“, sagte er heiser.
„Die Maga sagt, du wirst wieder gesund“, widersprach Rondrolf sofort. „Zeit zum Abschied nehmen ist später!“
Grimwulf wandte sich seinem ältesten Sohn zu. Erst jetzt bemerkte er, dass auch seine Mutter lächelte.
„Abschied nehme ich jetzt schon“, erklärte der Baron, bemüht, seiner schwachen Stimme einen festen Klang zu geben. „Abschied von der Krone des Barons, mein Sohn. Niemand weiß, wann Boron mich meines Amtes entheben wird, und in den nächsten Monden wirst du ohnehin alle Amtsgeschäfte übernehmen müssen.“
Grimwulf richtete den Blick auf Roban.
„Womit du in der Erbfolge ziemlich leer ausgehst, Roban. Ich weiß, dass du dein Hohentrutz sehr magst, hätte dir aber gern mehr überlassen als eine undankbare Aufgabe!“
Roban hob die Schultern, und sein Grinsen war echt.
„Ach, Vater. Ich als Baron – das würde ohnehin niemals gut gehen. Ich komme mit meinen vier Holzhütten kaum zurecht! Setz Rondrolf als deinen Nachfolger ein, und mach dir mal keine Sorgen. Ich werde seinen Anspruch akzeptieren, offiziell und notfalls auch schriftlich. Einen besseren Nachfolger findest du ohnehin nicht!“
Rondrolf war sprachlos. Das Thema der Nachfolge hatte man in der Familie nie konkretisiert, warum auch. Seine Schwester Ingrild war bereits Herrin auf Hohenbirn und würde es auch bleiben. Und natürlich war ihm klar gewesen, dass er irgendwann Baron von Roterz werden würde, irgendwann, in weit entfernter Zukunft…
Doch aus der Zukunftsmusik war ein konkreter Anspruch geworden, der von seiner Familie bestätigt wurde.
„Ich werde dich nicht enttäuschen, Vater!“ versprach er.
„Das hast du noch nie!“ erwiderte Grimwulf, und jetzt fühlte Rondrolf sich den Tränen nahe. All die Jahre, in denen er gezweifelt hatte, ob sein Vater ihn, den Buchhalter und Bücherwürm, den Grünling und Schreibstubenrecken, überhaupt akzeptierte, waren mit einem Mal weggewischt.
Als sie Minuten später das Zimmer verließen, war Grimwulf eingeschlafen. Noch einmal überprüfte Danja seine Atmung, ehe sie zufrieden nickte. Der Zauber schien das Leben des Barons gerettet zu haben – und das Leben des zukünftigen Barons verändert.
Mit einem merkwürdigen Gefühl aus Stolz und Kummer schritt Rondrolf voran. Er spürte, wie sein bisheriges Leben endete. Bald schon würde er Vater sein, und schon ab morgen würde er nicht mehr nur die Entscheidungen seines Vaters zu Pergament bringen, sondern sie selbst fällen müssen. Er hoffte nur, all diesen Herausforderungen gewachsen zu sein.