Roterzer Herzklopfen - Am Roterzpass
Der Roterzpass, Ende Peraine. 1040 BF
Rondrolfs Blick glitt zum gefühlten tausendsten Mal zu der dichten Wolkendecke hinauf, die über den Ambossbergen hing wie angenagelt. Den Lärm der feiernden Menschen hörte er kaum, lauschte vielmehr auf fernes Donnergrollen oder andere Geräusche, die ein Gewitter ankündigen mochten.
Ein Gewitter! Das konnte er jetzt so gut gebrauchen wie Zahnschmerzen, Krätze oder drei Dutzend Schwarzpelze, die von seinem Bruder Roban angeführt wurden. Ein Platzregen auf dem von Menschen überfüllten Platz würde im schönsten Wortsinn eine Schlammschlacht produzieren, und das seit langem geplante Turnier würde sprichwörtlich ins Wasser fallen.
Das Turnier. Rondrolf seufzte tief, wenn er an Burg Götterzahn in Koschtal dachte. Dort hatte er noch wahre Festivitäten organisieren müssen, mit Dutzenden adliger Teilnehmer. Hier konnte er von Glück sagen, dass er überhaupt genügend Streiter für einen kleinen Lanzengang zusammen bekommen hatte, und davon war noch ein Drittel nähere Verwandtschaft. Missmutig wandte er den Blick von der grauen Schicht am Alveranszelt ab und suchte in der Menge nach seinem Vetter Rodgrimm. Der war leicht zu finden – einfach dem Gekicher der Maiden folgen, und siehe da, Rodgrimm stand dort, strahlte wie das Praiosauge und genoss sichtlich die Bewunderung der holden Weiblichkeit. Das Urbild des Koscher Ritter, mit breiten Schultern, tadellosem Benehmen und wortgewandt wie ein horasischer Volksredner, dazu trinkfest und meist gut gelaunt. Was Wunder, dass ihm die Damenwelt zu Füssen lag, auch wenn es nur zwei Handvoll hübscher Bauernmädchen war.
”Entschuldigt, äh...Sohn des Barons?”
Rondrolf unterdrückte ein weiteres Seufzen und wandte sich um. Hinter ihm ragte ein Mann wie ein Turm auf, mit Armen wie ein Schwarzbär, aber leider auch dessen Verstand. Brinmar von Schwalbenfels war ein Hüne von einem Kerl, über zwei Schritt groß und breit genug, dass zwei von Rondrolfs Statur sich hinter ihm hätten verstecken können. Nur sein Verstand hatte beim Wachstum anscheinend nicht Schritt halten können. Bis jetzt hatte Brinmar es nicht einmal geschafft, sich Rondrolfs Namen länger als zwei Stunden zu merken.
”Was gibt es, Wohlgeboren?”
”Äh, da ist eine Dame. Die ist vom Pass gekommen und will sich in die...die...die Turnierrolle”, Brinmar dehnte das Wort, als zerre er es gewaltsam aus seiner Erinnerung, ”eintragen. Ich kenne Sie nicht, aber Sie sagt, Sie sei von edler Herkunft!”
Rondrolf nickte knapp. Wenn er noch eine Teilnehmerin bekäme, hätte er damit von vier. VIER! Er wälzte die Zahl im Kopf herum. Woanders war man dankbar, wenn weniger als vierzig Recken antraten, und hier durfte er den Göttern danken, überhaupt vier zusammen zu bekommen. Außer Rodgrimm und Brinmar trat nämlich nur noch Ladislaus von Wildreigen überhaupt an. Ritter Urguluk von Dahrendorf, der einzige andere Ritter der Baronie, hatte sich aus gesundheitlichen Gründen entschuldigen lassen. Er hatte schon überlegt, statt der Tjoste ein reines Ringstechen anzuberaumen oder jeden Teilnehmer gegen jeden anreiten zu lassen, mit einem Punkteverfahren, um den Sieger zu ermitteln. Aber so war es natürlich noch besser – ein klassisches Turnier mit vier Teilnehmern, als nur einer Vorrunde und einem Finale. Falls Brinmar nicht völlig falsch lag, und die ”Dame” nur eine vorbeiziehendes Mietlingsweib war.
Als er sie erblickte, blieb er kurz stehen. Falls die Dame ein Mietling war, dann ein recht anständig begüterter. Allerdings musste er angesichts des Wappenschildes nicht lange überlegen – der Dachskopf auf Grün war in den Koscherlanden zu bekannt, als das er eine Sindelsaumerin nicht erkennen würde.
”Frau von Sindelsaum”, grüßte er mit formvollendeter Verbeugung, ”es ist eine Ehre, Euch auf unserem kleinen Fest willkommen heißen zu dürfen. Wie ich hörte, wünscht Ihr in die Turnierrolle eingetragen zu werden?”
Die Frau lächelte etwas verschämt, nickte dann aber.
”In der Tat, Herr...”
”Rondrolf Grobhand von Koschtal!” Ohne Zögern gab er der Fremden einen Handkuss, als diese die Rechte hob. Sie kicherte ein wenig, als sei sie derlei Behandlung nicht gewohnt. ”Ich bin der Sohn des hiesigen Barons und für die Organisation der Turnei verantwortlich – auch wenn das nicht besonders viel Arbeit bedeutet.”
”Angunde von Sindelsaum”, stellte die Fremde sich vor. ”Und wichtig ist doch nur, dass Ihr Eure Arbeit ordentlich macht, auch wenn es nicht viel ist. Ich hoffe, mein Anliegen kommt nicht ungelegen.”
”Das völlige Gegenteil, Frau von Sindelsaum”, versicherte Rondrolf eilig. ”Euer Wunsch ermöglicht es uns, eine wirkliche Turnei überhaupt erst abzuhalten.” Er räusperte sich verlegen. ”Ohne Euch hätte ich nämlich nur drei Kämpen von edler Herkunft, die in die Schranken getreten wären.”
”Oh!” Es klang wirkliche Überraschung aus Angundes Stimme, ohne jeden Spott. ”Dann sollte das Turnier wohl nicht allzu lang dauern.”
”Wir werden längere Pausen machen, damit das Volk seinen eigenen Wettkämpfen nachgehen kann”, erklärte Rondrolf. ”Wenn Ihr erfolgreich seid, werdet Ihr aber wohl nur zwei Mal in die Schranken treten müssen. Ich weiß, das ist sehr bescheiden, aber allzu viele Edelleute verirren sich leider nicht hierher in unsere Berge! Was führt Euch auf den Pass?”
”Ich habe meinen Bruder im Almadanischen besucht”, erklärte Angunde unumwunden, während Rondrolf einen Knecht herbei winkte, der ihr Pferd in Obhut nahm. ”Ich hörte von dem Fest und dachte mir, warum nicht antreten, wenn es noch möglich ist. Ein wenig Übung hat noch niemanden geschadet. Werdet Ihr ebenfalls reiten?”
”Äh”, Rondrolf kämpfte um eine Antwort, die zumindest ein wenig würdig klang, ”ich fürchte, dass meine Kenntnisse des Waffenganges gerade mal für eine Hasenhatz ausreichen würden. Bei einem Turnier wäre ich wohl das, was man landläufig als ‚Schwertfutter‘ bezeichnet. Fast das gesamte Kriegerblut meiner Familie hat sich in einem Bruder Roban konzentiert, und der ist, Praios sei´s gedankt, weit weg! Aber genug davon – falls es Euch beliebt, würde ich Euch gern mit meinem Vater und den anderen Teilnehmern bekannt machen.”
Er bot Angunde den Arm an, und sie hakte sich ein, auch wenn das bei Ihrer kriegerischen Aufmachung etwas deplatziert wirkte. Rondrolf kam nicht umhin, der Frau einen zweiten Blick zu schenken. Irgendetwas fesselte ihn an dieser Angunde, aber er konnte noch nicht sagen, was das war.
Angunde von Sindelsaum war nicht nur Rondrolf selbst, sondern auch Baron Grimwulf herzlich willkommen. Mit ihr konnte sich die bescheidene Turnei zumindest mit einem Teilnehmers aus einem in den Koscher Landen wohlbekannten Adelshaus schmücken, und sie bot die Gelegenheit, vorsichtige Kontakte zu eben diesem Haus zu knüpfen, wenngleich sie das Thema eher zu meiden schien. Eher logistische Probleme waren hingegen rasch gelöst: da Angunde ohne Turnierlanze unterwegs war, half Rodgrimm ihr mit einigen seiner Lanzen aus. Gemeinsam mit Rondrolf besah sie sich die Leihgabe.
”Die Faust der Grobhands”, schmunzelte sie beim Anblick der Krönchen. ”Ich hoffe, dass niemand damit auf mein Kinn zielen wird!”
”Wie gesagt, mein Bruder nimmt nicht teil”, murmelte Rondrolf, und erinnerte sich mit Schaudern an die einzige von Robans Turnierteilnahmen, deren er Zeuge geworden war. Der Wahnsinnige war in der zweiten Runde ausgeschlossen worden, nachdem er beharrlich auf die Halsberge seiner Widersacher gezielt hatte. ”Nich auf den Schild gehen – immer auf den Mann”, hatte er erklärt. Das mochte im Krieg wohl seine Berechtigung haben, aber auf dem Turnierplatz war derlei Einstellung so gern gesehen wie Oger am Kaiserhof. Einen zweiten ”Rittertod” wollten weder der Kosch noch das Haus Grobhand sehen.
”Könntet Ihr mir beim Anlegen des Rüstzeugs zur Hand gehen?”
Angundes Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.
”Wie belieben?”
Angunde lächelte etwas verschämt.
”Nun, ich habe das Rüstzeug mit auf die Reise genommen – man weiß ja leider nie, was einem begegnen mag -, aber keinen Knecht, um beim Anlegen zu helfen. Mein Junkergut ist klein, und ich hatte noch keine Zeit, jemanden auszubilden. Oder habt Ihr derlei noch nie gemacht?”
”Oh, doch, schon”, versicherte Rondrolf rasch. Er hatte in seiner Pagenzeit manches Mal Rittern in die Platte geholfen. Allerdings lag das Jahre zurück – und nicht nur das machte ihn ein wenig nervös. ”Falls Ihr darauf besteht...”
”Falls es nicht zu große Umstände macht”, erwiderte Angunde verlegen.
”Nein! Nein! Keinerlei Umstände! Schickt einfach nach mir, wenn Ihr so weit seid! Mit ein paar Riemen werde ich wohl noch fertig!”
Rondrolf versuchte vergeblich, der eigenen Unruhe Herr zu werden. Kam eine ihm völlig fremde Frau des Weges und brachte ihn derart aus dem Konzept, dass er beinahe vergaß, das Wurst-Wettessen anzukündigen, dass vom einfachen Volk mit größter Spannung erwartet wurde. Ugolf, genannt ”Ogerwanst”, duellierte sich der nicht minder gewichtigen Gunelida, die den Kampfnamen ”Wurstschluckerin” führte. Die Holzbänke ächzten bedrohlich, als die Kontrahenten sich darauf niederließen, und Rondrolf stellte sich vor, beide als Wurfgeschosse gegen Burgmauern einzusetzen – das Ende für jegliche Befestigung wäre gewiß!
Die extra für den Anlass gestopften Würste waren lang wie Rondrolf Unterarme und ein gutes Stück dicker. Der zwergische Kampfrichter wog die dampfenden Würste penibel, ehe er verkündete: ”Jede zwei und einen halben Stein schwer! Der Wettkampf kann beginnen!”
Die Würste wurden auf den Schneidbrettern platziert, die ”Kämpfer” nahmen ihre Messer zur Hand.
Rondrolf bemühte sich um würdige Haltung, was angesichts der Situation schon ein Kunststück war, hob die Hand wie ein Turnierrichter.
”Werte Gunelida, werter Ugolf, heute geht es um den Titel des schnellsten Wurstessers von Roterz.” Er maß die zwei Fleischberge mit einem skeptischen Blick. Denen schien das Wasser bereits im Maul zusammen zu laufen. Wer jetzt den Fehler beging, ihnen zu nahe zu kommen, wurde vermutlich im Eifer des Gefechts mitverspeist.
”In Namen des Barons – ESST!”
Er ließ die Hand herab sausen, und schon stießen beide das Messer in die Würste. Was folgte, war in Rondrolfs Augen kein Essen, sondern ein kaum menschwürdiges Schlingen und Stopfen, für das er sogar die Würste bedauerte. Dem Volk schien das Spektakel aber sehr zu gefallen, man feuerte die zwei Dicken an, buhte, wenn einer von ihnen zum bereit gestellten Bierkrug griff, johlte bei jedem Rülpser. Nach nicht einmal fünf Minuten siegte die dicke Gunelida mit sattem Vorsprung – und sichtlich Grinsen über das gesamte Gesicht.
”Glückwunsch”, lächelte Rondrolf schief und empfahl sich. Essen würde er heute wohl nicht mehr, und er musste sich sputen, um Angunde nicht zu versetzen.
Als er an dem kleinen Zelt ankam, dass sie sich errichtet hatte, zog sie gerade die Schnüre des Unterzeugs fest.
”Na, Herr Grobhand – wer hat beim Wettessen gewonnen?” fragte sie, ohne sich umzuwenden.
”Eine Ogerin, die sich als Koscherin verkleidet hat”, seufzte Rondrolf ergeben. ”Glaubt mir, Ihr habt nicht viel verpasst. Im nächsten Jahr sollten wir einen Wettkampf der guten Tischmanieren veranstalten, davon hätte die Baronie mehr!”
”Aber das Volk würde nicht lachen, und darum geht es doch!” Angunde wandte sich um. Das enge Unterzeug schmeichelte ihrer Figur, wie Rondrolf feststellte. Er blinzelte einige Male, ehe er sich seiner Aufgabe besann.
In der nächsten halben Stunde versuchte er den Spagat, Angunde in die Platte zu helfen, ohne sie allzu häufig zu berühren. Er hätte nicht einmal sagen können, warum ihn der Gedanke so unruhig machte, aber er fühlte sich, als müsse er sich die Finger verbrennen, wenn es passierte.
”Ihr dürft bei mir ruhig etwas fester zufassen”, ermunterte Angunde ihn, als er gar zu vorsichtig den Schulterpanzer arretierte. ”Ich bin nicht aus Kusliker Porzellan.”
”Verzeiht. Ich bin ein wenig aus der Übung”, gestand Rondrolf und befestigte den Stahl so, dass er auch bei einem schweren Treffer nicht verrutschte.
”Mit Plattenzeug oder mit den Damen?” lächelte Angunde. Rondrolf hoffte, dass sein Bart die in die Wangen schießende Röte überdeckte.
”Beides”, gestand er, und fühlte sich zum ersten Mal seit Jahren verlegen. ”Ich...hatte für beides wenig Gelegenheit, um in der Übung zu bleiben.”
Er reichte Angunde den Helm und trat mit prüfendem Blick noch einmal zurück. Diese Frau sah sogar in vollem Plattenzeug gut aus.
”Dann...gibt es keine Frau Grobhand von Koschtal?” fragte Angunde vorsichtig. Rondrolf schluckte, und er hatte das Gefühl, sein Schweiß am Hemdkragen müsse kochen.
”Nein”, brachte er ein wenig heiser heraus. ”Zumindest keine, von der ich wüsste.”
Angunde schlug kurz die Auge nieder, als müsse sie nachdenken, wie man mit dieser Situation umgehen sollte, und Rondrolf fühlte sein Herz irgendwo unterhalb des Kehlkopfs schlagen. Da erklang eine blecherne Fanfare, die den Beginn des eigentlichen Turniers ankündigte.
”Nun – Zeit, in die Schranken zu treten, Frau von Sindelsaum.”
Sie blickte ihn noch einmal an, und schien nicht sicher zu sein, ob sie froh oder enttäuscht sein sollte, jetzt gehen zu müssen.
Wie abgesprochen zog Rondrolf den Turnierverlauf ein wenig in die Länge. Das Losen, wer Reizer und wer Trutzer war, war rasch abgehandelt. Jeder der vier ergriff einen Bierkrug, auf dessen Boden eingraviert war, welche Rolle er übernehmen sollte. Brinmar und Angunde durften als Reizer fungieren, während Ladislaus und Rodgrimm als Trutzer die Herausforderung abwarten mussten.
Rondrolf beschwatzte den riesigen Brinmar dazu, dem Gast den Vortritt bei der Wahl des Gegners zu lassen, und der tumbe Ritter nickte sofort. Angunde ritt auf ihrem Tier nach vorn, wo ganze zwei Schilde hingen. Sie hatte das Visier hochgeklappt und blickte dorthin, wo Rondrolf mit Ladislaus und Rodgrimm stand.
Ganz sicher war Rondrolf nicht, aber er hatte das Gefühl, im Schatten des Visiers ein leichtes Lächeln zu sehen – für ihn?
Dann stieß sie die Lanze kraftvoll gegen den Schild mit der Grobhand-Faust. Rodgrimm trat mit einer leichten Verneigung vor.
”Ich nehme an, Frau von Sindelsaum!” verkündete er mit lauter Stimme, und das Volk bedachte beide mit pflichtschuldigem Applaus.
Brinmar von Schwalbenfels schien zunächst unschlüssig, wie jetzt zu verfahren sei. Nur noch der Wildreigener Schild hing, nachdem man den anderen abgenommen hatte. Die freie Auswahl also, und genau das schien den Riesen zu überfordern. Schließlich nickte Rondrolf auffordernd in Richtung des einzelnen Schildes, und Brinmar setzte sein Pferd, dass ebenso ein Koloss war wie er selbst, zögerlich in Bewegung, stieß beinahe vorsichtig auf die grüne Buche des Wappens.
”Ich nehme die Herausforderung an, Herr von Schwalbenfels”, klang Ladislaus´ Stimme neben Rondrolf, der froh war, die erste Etappe gemeistert zu haben. Noch einmal verkündete er die Paarungen, ehe er ein weiteres Mal davon musste. Der Wettkampf im Steine-Kloppen stand an, genügend Zeit für die Ritter, sich auf den Lanzengang vorzubereiten.
”Ich hätte eine meilenweise Bezahlung verlangen sollen”, ächzte Rondrolf, als er zu seinem Vater zurück kehrte. ”Wurstessen, Turnier, Steine-Kloppen, Turnier, Lorenschieben, Turnier – ich laufe mehr als ein Beilunker Botenpferd!”
”Dafür wirst du auch besser versorgt, mein Sohn”, schmunzelte sein Vater. ”Ich hoffe, dass du es der Dame von Sindelsaum an nichts fehlen lässt!”
”Tue ich nicht”, versprach Rondrolf und biss sich auf die Lippen. Das Lächeln seines Vaters sagte mehr als eine geschriebene Erklärung von fünf Seiten, und das noch breitere seiner Mutter mehr als ein kompletter Foliant. Sah man ihm das so deutlich an?
Egal, er hatte zu arbeiten. Und seit Angundes Wahl, ausgerechnet gegen Rodgrimm antreten zu wollen, war er noch unruhiger als vorher. Rodgrimm war ein exzellenter Tjoster, wenn er sich konzentrierte. Wenn seine Augen nicht gerade von einem weiblichen Wesen abgelenkt wurden, hatte er bei jedem Turnier gute Karten. Da aber bei fast allen Turnieren weibliche Wesen in den Zuschauerrängen saßen, hatte er noch so gut wie nie gewonnen. Heute würde er aber nur zwei Runden überstehen müssen, das war sogar für einen Weiberhelden wie ihn zu schaffen. Wie gut Angunde war, wusste Rondrolf nicht, er hoffte nur, dass sie nicht verletzt wurde.
Als er die Kontrahenten in die Schranken rief, zitterte seine Stimme ein wenig. Noch einmal blickte er gen Alveran, aber Efferd hielt seinen Segen beharrlich zurück – kein Grund zum Abbruch des Turniers in Sicht.
So blieb ihm nichts weiter übrig, als dem Herold zu zu nicken, der dann das Signal für den ersten Lanzengang gab.
Mit donnernden Hufen stürmten Angunde und Rodgrimm aufeinander zu. Rondrolf versuchte, nicht die Hände zu ringen. Selbst ohne Kampferfahrung konnte er sehen, dass sein Vetter seine Lanze erheblich ruhiger hielt als Angunde – der Vorteil von reichlich Turnierfahrung und roher Kraft. Als die Pferde aneinander vorbei galoppierten, ging ein kurzer Aufschrei durch die Menge. Rondrolf sah Angunde als grün-silbernen Schemen vom Pferd stürzen und schwer auf der Wiese aufschlagen.
”Nein!”
Er wusste später nicht, wie er auf die Wiese gekommen war, aber als er wieder bei klarem Verstand war, hatte er Angunde in eine sitzende Position geholfen. Die Ritterin klappte das Visier hoch.
”Seid Ihr verletzt?” fragte Rondrolf besorgt, und erntete ein ehrliches Lächeln.
”Nur mein Stolz”, gestand Angunde. ”Euer Vetter ist wirklich ein guter Tjoster. Stossen alle Grobhands derart fest zu?”
Rondrolf verbiss sich den Hinweis auf vorhandene Zweideutigkeiten und half Angunde auf die Beine. Rodgrimm parierte sein Pferd gleich neben ihnen, das Visier ebenfalls hochgeklappt.
”Glückwünsch, Herr Grobhand von Koschtal”, rief Angunde zu ihm hinauf. ”Ich komme wohl nicht umhin, Euren Sieg anzuerkennen!”
”Und ich kann nicht anders, Euch als ehrenhafte Gegnerin anzuerkennen, Frau von Sindelsaum”, grinste Rodgrimm siegreich. ”Ich hoffe, ich habe Euch nicht weh getan!”
”Ich habe schon Schlimmeres als Euch überlebt”, lachte Angunde. ”Viel Glück bei Eurem nächsten Gegner!”
Liebend gern hätte Rondrolf die Unterlegene zu ihrem Zelt geleitet. Aller Zuversicht zum Trotz schien Angunde Schmerzen zu haben, aber sie verbiss sie sich tapfer, als sie unter dem Beifall der Zuschauer davon schritt.
Der zweite Lanzengang dauerte erheblich länger. Zwar war Ladislaus von Wildreigen der bessere Tjoster, doch gelang es ihm in drei Runden nicht, den riesigen Brinmar aus dem Sattel zu heben. Der Hüne wurde zwar jedes Mal getroffen, saß aber im Sattel wie angeleimt. So gewann der Wildreigener schließlich nach Punkten, und Brinmar schien froh darum, nicht bis zum Absatteln weitere Treffer einstecken zu müssen.
Und Rondrolf musste sich sputen, um das Lorenschieben pünktlich anzusagen.
Als er eine halbe Stunde später den Kopf in Angundes Zelt steckte, war das Gegröhle beim Lorenschieben bereits wieder verebbt. Wie in den letzten zwanzig Jahren hatten die Zwillinge Brombosch und Fogomosch den Sieg geholt, trotz der kurzen Beine und zusammen gerechnet fast dreihundert Lebensjahren.
Angunde bemühte sich gerade, die entblösste Schulter mit einer Salbe zu bedecken. Die Haut schillerte in allen Farben von Rot bis tiefem Violett.
”Oh – ich, äh, ich störe doch hoffentlich nicht!” Rondrolf war drauf und dran, direkt wieder zu gehen. Platte und Unterzeug lagen auf dem Boden, und nur ein dünnes Leinenhemd bedeckte Angundes Oberkörper.
”Nein, ich kommt gerade recht. Ich muss die Schulter einreiben, sonst erinnere ich mich die ganze nächste Woche an Euren Vetter. Die Wirselsalbe sollte die Zeit halbieren, wenn ich Glück habe.”
Für einen Moment zögerte Rondrolf, dann gab er sich einen Ruck. Immerhin gebot es schon die Etikette, Angunde alle Hilfe angedeihen zu lassen, derer sie bedurfte, und es wäre grob unhöflich, sie zu vertrösten und statt dessen erst eine Magd zu suchen. Also machte er sich an die Arbeit.
Angunde zuckte kurz, als er die lädierte Schulter berührte.
”Ich sollte Rodgrimm wirklich ins Gebet nehmen”, murmelte er dabei. ”Unseren Ehrengast derart zu behandeln!”
”Es war ein Turnier”, lachte Angunde und fuhr direkt wieder schmerzerfüllt zusammen. ”Blessuren gehören dazu.”
”Und Ihr seid ja nicht aus Porzellan”, beendete Rondrolf die Standpauke ergeben. ”Verzeiht, aber das ist nicht meine Welt. Das Kämpfen gehört einfach nicht zu meinen Qualitäten.”
”Immerhin habt Ihr geschickte Hände. Auch das ist eine Gabe. Und Ihr habt Hingabe, Pflichtbewusstsein und Fleiß. Klagt nicht um das, was Ihr nicht habt, sondern macht das Beste aus dem, was die Götter Euch gaben!”
”Weise Worte!” Rondrolf half ihr, das Hemd wieder zu richten, und räusperte sich.
”Mein Vater bittet Euch, beim Abendessen auf Burg Adlerstein unser Gast zu sein. Und natürlich dürft Ihr Quartier bei uns nehmen, sofern es Euch nicht missfällt, ein Stück des Weges zurück zu reiten.”
Angunde wandte ihm das Gesicht zu, und ihr Lächeln schien den Boden unter seinen Füssen in Parkett mit zwei Fingern dick Schmierseife zu verwandeln.
”Das würde ich gern. Ihr seid doch ebenfalls beim Abendessen – oder müsst Ihr noch einen Wettbewerb leiten?”
Rondrolf hob kurz den Kopf, als ihm klar wurde, dass er beinahe etwas vergessen hatte.
”Leider – das Bartheben steht noch an! Ich hole Euch dann ab, falls es beliebt.”
”Bartheben?” Angunde lachte auf. ”Was ist das? Von so einem Wettkampf habe ich noch nie gehört!”
”Frau von Sindelsaum – das muss man gesehen haben, ehe man es glaubt!”
Die Gesichter der Finalisten waren rot wie die Glut im Schmiedefeuer – sofern man das unter den kunstvoll geflochtenen Bärten überhaupt erkennen konnte. Und nicht nur kunstvoll war die Manneszier geflochten, sondern vor allen Dingen belastbar.
”Zwanzig Stein”, erklärte Rondrolf, nachdem er die Metallgewichte inspiziert hatte, die man am Bart angebunden hatte. ”Heb – AN!”
Der Angroscho richtete sich schnaufend auf, der Mensch neben ihm versuchte es ebenfalls, aber mochte es der Schmerz sein, als das Gewicht an seinem Bart zog, die Erschöpfung oder einfach die größere Distanz, es gelang ihm nicht. Ächzend fiel er wieder nach vorn, und vielstimmiger Jubel erklang. Der Sieger hatte allerdings auch größte Eile, die Eisengewichte wieder los zu werden, strich sich aber dann doch stolz über seine Bartpracht.
”Sieger im Bartheben – Furolosch, Sohn des Angramosch!” verkündete Rondrolf, dankbar, auch diese Etappe glücklich hinter sich gebracht zu haben. Blieb nur noch das ”Finale” des Turniers, und er musste sich sputen, denn die Menge setzte sich schon wieder in Bewegung.
”Ein drolliger Wettkampf”, gluckste Angunde, die sich an seine Seite setzte. ”Wie kommen Koscher dazu, sich Gewichte ausgerechnet in die Bärte zu hängen?”
”Es geht auf eine alte Geschichte zurück”, erklärte Rondrolf und verlangsamte unwillkürlich seinen Schritt. ”Vor etlichen Jahrhunderten stürzte der Förderturm der Erzgrube ein. Die Bergleute konnten nicht heraus steigen, und die Seile, die man hatte, waren nicht lang genug. So trennten sich zahllose Bürger schweren Herzens von ihrem Barthaar, und die daraus geflochtenen Seile ermöglichten die Rettung. Seitdem gibt es den Wettkampf im Bartheben – man will schließlich gerüstet sein, falls so etwas noch einmal geschieht!”
”Glaubt Ihr diese Geschichte?” fragte Angunde, und Rondrolf hob die Schultern.
”Die Leute glauben sie”, wich er schließlich aus, ”und sowohl der Landesherr wie auch seine Familie tun wohl daran, die Traditionen und Bräuche ihrer Untertanen zu respektieren. Sogar solche, die ein wenig drollig sind.”
”Da habt Ihr wohl recht. Aber jetzt solltet Ihr Euch einer weniger drolligen Pflicht widmen, nicht wahr?”
Rondrolf nickte, denn sie hatten den Turnierplatz erreicht. Sowohl Rodgrimm wie auch Ladislaus von Wildreigen legten letzte Hand an ihre Pferde, man wartete offenbar nur noch auf ihn.
Rondrolf nahm seinen Platz ein, nachdem er Angunde auf der Tribüne abgeliefert hatte, und der erste Lanzengang begann. Beide Kontrahenten schienen gut in Form, aber Rodgrimm wirkte ein wenig unkonzentriert. Rondrolf Blick glitt die Reihen der Zuschauer entlang und fand auch den Grund für die Ablenkung: dort standen die Bauernmaiden, mit denen sein Vetter Stunden zuvor geschäkert hatten, winkten mit Taschentüchern und schienen gar nicht zu bemerken, dass ihre Euphorie mehr schadete als nützte.
Beim zweiten Anlauf rächte sich die Aufmerksamkeit, die Rodgrimm seiner Anhängerschaft schenkte, denn auch prompt: seine Lanze glitt vom Schildrand des Wildreigeners ab, der seinerseits einen Volltreffer landete und Rodgrimm scheppernd auf die Wiese schickte. Nur eine Schrecksekunde verstrich, ehe der Grobhänder mit der flachen Hand und einem lauten ”Verflucht” auf das schuldlose Gras einschlug, sich aufrappelte und den Helm vom Kopf zog.
”Sieger des Roterzer Passstechens: Ritter Ladislaus von Wildreigen!” verkündete Rondrolf vernehmlich, und nutzte den aufbrandenden Jubel, um nicht nur dem Sieger seine Glückwünsche zu übermitteln, sondern sich auch wieder in Angundes Nähe vorzukämpfen. Leider blieb im allgemeinen Trubel kaum Gelegenheit, noch einmal mit ihr zu sprechen. Mit dem Ende des Turniers endete – zumindest offiziell – auch das Fest selbst, wenngleich zahlreiche noch bis in die frühen Morgenstunden weiter feiern würden. Die Baronsfamilie und ihre Gäste aber bliesen zum Aufbruch, um den Tag mit einem festlichen Bankett auf Burg Adlerstein zu beschließen.
Der nächste Tag begann für Rondrolf noch trüber, als der letzte begonnen hatte. Mit finsterer Miene starrte er von einem der Wehrgänge – einem der wenigen, die man instand gehalten hatte – auf die Stadt Eisenhuett hinab. Seine Gedanken irrten durch die nahe Vergangenheit und eine ferne Zukunft, die aber wie die Stadt selbst in einem nebligen Dunst verhüllt war. Der heutige Tag würde Angundes Aufbruch bringen, und die Götter allein wussten, ob sie sich jemals wieder begegnen mochten. Rondrolf hatte die halbe Nacht wach gelegen und sich gefragt, wie er sich verhalten sollte. Wenn er an Angunde dachte, dann fühlte er sich gut, aber hundeelend, wenn er an den Abschied dachte.
Aber verzögern konnte er ihren Aufbruch nicht. Angunde war nur auf der Durchreise, und sie hatte am gestrigen Abend schon erklärt, die grobhandsche Gastfreundschaft nicht über Gebühr in Anspruch nehmen zu wollen. Zudem warteten daheim ihre Pflichten als Junkerin von Rakulbruck, die sie wochenlang nicht hatte wahrnehmen können. Rondrolf verstand nur zu gut, dass sie sich wieder den eigenen Pflichten widmen wollte.
”So früh schon auf den Beinen?”
Er zuckte kurz zusammen, als Angunde neben ihn trat.
”Die Arbeiten eines Burgverwalters beginnen in der Regel recht früh”, meinte er schulterzuckend.
”Dann seid Ihr ein vorbildlicher Burgverwalter. Und ein vorbildlicher Organisator für Festivitäten aller Art. Zudem ein passabler Waffenknecht, ein unparteiischer Schiedsrichter...ich frage mich, welche Qualitäten wohl noch in Euch stecken mögen.”
”Ein leidlicher Poet, ein brauchbarer Schreiberling, aber ein lausiger Fährtenleser und eine unverfehlbare Zielscheibe – will man meinem kleinen Bruder glauben!”
”Ob Ihr eine gute Zielscheibe abgebt, kann ich nicht beurteilen”, lachte Angunde, und für eine Sekunde streifte ihre Hand die seine. ”Aber vielleicht mögt Ihr mir schreiben, falls Ihr die Zeit dazu findet. Es muss kein Gedicht sein, nur ein paar einfache Zeilen.”
Für einige Momente stand Rondrolf nur neben ihr und wusste nichts zu antworten. Dann platzte es aus ihm heraus:
”Natürlich! Liebend gern! Es wäre einfach zu schade, Euch einfach ziehen zu lassen, ohne Kontakt halten zu können.”
”Es freut mich, dass Ihr ebenso denkt!” Unvermittelt fiel sie ihm um den Hals. ”Der gestrige Tag war wunderbar. Und das vor allen Dingen wegen Euch!”
Ehe Rondrolf so etwas wie eine Antwort stammeln konnte, drückte ihm einen Kuss auf die Wange und ließ wieder von ihm ab. Einen Lidschlag lang berührten sich ihre Fingerspitzen, dann eilte sie davon. Rondrolf biss sich kurz auf die Lippen, ehe er ihr folgte.
Minuten später blickte er Angunde hinterher, als sie den Burgpfad Richtung Eisenhuett davon ritt und vom Nebel der Warna verschluckt wurde. Noch einen Moment blieb er stehen, hing seinen Gedanken nach, dann wandte er sich ab und schritt in Richtung Schreibstube davon. In den nächsten Tagen würde er wohl viel Zeit damit verbringen, den ersten Brief an Angunde zu schreiben.