Heerzug gegen Haffax - Dinge, die zu klären sind
◅ | Die Bürde des Pagen |
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Ruhe vor dem Sturm | ▻ |
Darpatien, 14. Ingerimm 1039, Heerlager zu Gallys, am Abend
Die Boltansrodenerin hatte ihren Pagen zu Aeladir von Waldbachtal geschickt. Er sollte den Erb-Junker nicht nur abholen und dann zu ihr bringen, sondern ihn vor allem zuallererst an das Treffen mit der Junkerin erinnern. Diese fürchtete nämlich, das er es aufgrund der eingetretenen Ereignisse vergessen haben könnte und sich möglicherweise gar nicht in seinem Lager aufhielt, weswegen sie Fernando ein bisschen früher losgeschickt hatte, damit er ihn noch auftreiben können würde und trotzdem rechtzeitig zum Essen wieder da war.
Der kleine Almadaner hatte jedoch noch einen Abstecher an dem Stand gemacht, der die leckeren Honigspezereien feil bot, und so ein bisschen seiner Zeit vertrödelt. Er hatte das Naschwerk nicht nur für sich selbst gedacht, sondern auch für Thyria, dem Knaben war nämlich nicht nur sein wenig ritterliches Verhalten ihr gegenüber nicht aus dem Sinn gegangen - im Übrigen auch nicht ihr nackter Körper - sondern auch die Tatsache, dass auch sie die leckeren Honigspezereien zu mögen schien. Ob sie wohl auch im Lager war?
Doch er fand im Lager des Windhagers weder den Erb-Junker noch Thyria vor. Nur der Waffenknecht Ulfert versorgte die beiden angebundenen Pferde in der einfachen Umzäunung: Neben dem kleinen Braunfalben mit der langen Mähne stand dort ein Pferd, das der Page noch nicht gesehen hatte – ein feuriger warunker Rappe, der gerade nervös vor dem wohlmeinenden Mann zurückwich.
Frustriert rieb sich der Waffenknecht den sorgsam gestutzten braunen Vollbart, faltete dann seufzend den ledernen Futtertrog auseinander und entleerte den Sack mit Futter hinein. Ohne aufzusehen meinte er: „Du musst einen Moment warten, der Junker kommt gleich wieder. Wenn du willst, kannst du dir eine Kelle frisches Wasser aus dem Eimer nehmen. Süßes macht doch durstig...“.
„Woher…?“, hob der Knabe vollkommen verwirrt an, besann sich aber dann doch: „Den Zwölfen zum Gruße. Ihr habt es wohl gerochen, nicht? Aber ich habe nichts davon gegessen, die Junkerin mag nicht, wenn ich vor dem Essen nasche und außerdem ist es gar nicht für mich, sondern für… also für...“ Er konnte nicht sagen, dass er etwas davon Thyria geben wollte – nicht alles, aber etwas eben. Irgendwie kam ihm das jetzt alles ziemlich dämlich vor, was wollte er von ihr denn eigentlich? Sie war doch… nur ein Mädchen, oder? Aber nach diesem Tag im Lager seiner Pagenmutter war ihm jede Ablenkung recht und vielleicht waren es ja die gesprochenen Worte, die er einfach nicht verstand, die ihn dazu veranlasst hatten sich so gegen seine normalen Gewohnheiten zu stellen. Vielleicht...
„Das wird schon“, erklärte er als er sich das Pferd ein bisschen genauer ansah, „also mit dem Pferd. Bei Raa hat es auch gedauert, bis er sich an die neue Umgebung und vor allem an mich gewöhnt hat, aber wenn man sich mit dem Tier beschäftigt, dann geht es schnell.“
Ulfert sah nun auf – zu diesem Pagen, der hier weit weniger hingehörte als die meisten anderen: „Danke für deinen Zuspruch. Wer ist Raa?“
„Mein Yaquirtaler“, erklärte er und nickte energisch, „Ich hab ihn bekommen, damit ich auch ein richtiges Pferd habe, wenn ich schon meiner Pagenmutter auf den Heerzug folge. Ein Pony hätte es auch getan, aber die Junkerin wusste nicht so recht, was sie anschließend mit einem Pony hätte anfangen sollen, also musste es ein Pferd sein, auch wenn er eigentlich noch viel zu groß für mich ist…“ Fernando verschwieg, dass er nicht einmal ohne Hilfe in den Steigbügel kam. „Raa ist ein tolles Pferd, ein Rappe mit ganz weichem, seidigen Fell, sehr leicht zu reiten und er hört aufs Wort.“
„Gurvan hier ist nur eine Leihgabe bis Aeladir ein Ross finden oder erbeuten kann.“
Eine Leihgabe? Fernando fand es geradezu gruselig, sich ein Pferd auszuleihen, wobei erbeuten auch nicht besser war. Wenn es so ein Ross war wie die beiden seiner Pagenmutter – Effa und Calli - die Fremde gar nicht erst an sich heranließen, dann würde ihm auch so eines nicht viel bringen. „Befindet sich Euer Herr mit Thyria gerade noch auf der Suche nach einem geeignetem Ross?“
„Der Hohe Herr ist tatsächlich in Gallys oben, aber ich erwarte ihn jederzeit zurück. Thyria ist bei Richild und geht ihr zur Hand. Also für wen sind die Spezereien, ich nehme an für mich waren sie nicht gedacht, oder?“, fragte Ulfert unschuldig und nahm nun selbst einen Schluck aus der Kelle bevor er die Zeltplane des Erb-Junkers zurückschlug und in dessen Zelt verschwand.
Das Hohe Herr irritierte Fernando ein wenig, sagte die Junkerin nicht immer Wohlgeboren zu ihm? War er denn nun einfacher Ritter oder doch mehr?
Sogleich erschien er wieder mit einem leichten, abgestoßenen Falthocker mit lederner Sitzfläche und stellte ihn Fernando auffordernd hin.
Der Page, der eigentlich nicht wirklich gewohnt war, einen Sitzplatz angeboten zu bekommen - schließlich war er nur Page und fand bei anderen nur wenig Beachtung, schaute einige Augenblick aufmerksam auf den Hocker. Irgendwie kam er ihm neu vor. War Aeladir von Waldbachtal etwa zu Geld gekommen? Ob er Thyria endlich Schuhe gekauft hatte?
„Ähm… also… ja…“, stammelte der Page, „Ihr könnte auch was abhaben, wenn Ihr wolltet, es ist ja genug da; wollt Ihr? Aber eigentlich, ja eigentlich, da… also… Wann kommt Thyria denn wieder? Sie mag doch…?“
„Nein lass mal gut sein, wenn das für Thyria ist, dann soll sie das auch bekommen. Aber du musst aufpassen, dass du nicht der jungen Faithûr in die Quere kommt, die das Mädchen auch immer so verwöhnt“, Ulfert grinste breit und holte eine feine grüne Leinencotte mit gelb eingefasstem Halsausschnitt aus dem Zelt, um sie auszubürsten.
Da wurden seine Wangen plötzlich so heiß, glühten regelrecht, dass er einfach kein einziges weiteres Wort mehr über die Waffenmagd des Windhagers herausbrachte. Es ging einfach nicht, als wäre ihm das Wort regelrecht im Hals stecken geblieben. Betreten blickte der Knabe drein, räusperte sich etwas gezwungen, scharrte verlegen mit seinem rechten Fuß und entschied eilig von seinem dümmlichen Getue abzulenken, in dem er die Aufmerksamkeit auf den Hocker lenkte: „Ist der neu? Hat Thyria jetzt auch Schuhe?“
Da der Junge genügend Verstand hatte, sich selbst zu retten, wollte Ulfert ihm gerne diese Brücke bauen: „Ja und nein, der ist gebraucht vom Markt hier im Lager. Und zudem leicht genug, dass er uns nicht über Gebühr belastet. Ich denke Aeladir hat ihn gekauft, damit die Junkerin auch gut sitzen kann, wenn sie seiner Einladung folgt.“
„Die Junkerin?“, wollte der Knaben verwundert wissen, „Welche Junk… Ah! Ja, meine werte Pagenmutter! DIE Junkerin. Ach, für sie hätte er das nicht tun müssen, die legt sich schließlich auch zum Beten in den Matsch, wenn es nicht anders geht und ich darf das dann alles wieder sauber machen...“.
So wie der Page aussah, verstand Ulfert nicht ganz, wie eine scheinbar praktisch veranlagte Ritterin einen so zarten Jungen mit auf einen Feldzug nehmen konnte, der blutig und verlustreich zu werden versprach – und das, ohne ihn darauf vorzubereiten. Er wischte die Gedanken zur Seite und kam auf etwas zurück, was Fernando früher gesagt hatte: „Und wieso Schuhe? Sie hat doch schon längst zwei Paar, nur zieht sie die außer im Winter kaum an.“
„Ach so!“, der Knabe nickte und lachte, „Und ich dachte schon der Hohe Herr von Waldbachtal sei a...“ Eigentlich hatte er arm sagen wolle, aber noch rechtzeitig bemerkt, dass es mehr als unangebracht war, statt dessen versucht er sich folgendermaßen zu behelfen: „…abergläubisch. Eine stumme Waffenmagd ohne Schuhe soll ja Glück bringen.“ Eifrig nickte er, um seine Aussage zu bekräftigen.
„Wo hast du denn den Aberglauben her?“, hakte Ulfert nach, während er die Cotte nun wendete und mit seiner Arbeit fortfuhr.
Das brachte Fernando dann doch etwas in Erklärungsnöte: „Also… na ja… ich weiß nicht… sagt man das nicht so? Ich meinte… meinte ich hätte das so gehört. Und sie wird dem Hohen Herrn von Waldbachtal wohl kaum Unglück bringen, nicht wahr? Das kann ich mir nämlich nicht vorstellen… Sie ist keines dieser dummen Mädchen – sie muss also Glück bringen, ob mit oder ohne Schuhe!“ Erneut nickte er, obwohl er jedes seiner Worte schrecklich dämlich fand.
„Du nimmst mich wohl auf die Schippe?“, entgegnete Ulfert und pflichtete ihm dann aber unerwartet bei: „Zumindest hast du mit einem Recht, sie hat Aeladir wohl schon mal das Leben gerettet, wenn du das als Glück haben siehst, dann stimmt‘s wohl.“
„Wenn du übrigens Thyria sehen willst, dann kannst du das gerne machen. Aeladir meinte, du wärest schon am Zelt von Sigman von Karrenstein gewesen?… Ihr Zelt ist das schräg gegenüber“, stellte er fest. „Du kannst es gar nicht verfehlen, da sind immer ein paar Kranke… oder andere. Und wenn Aeladir zurückkommt und fertig sein sollte, bevor du wieder da bist, holt er dich ab! Was sagst du?“
Einen Augenblick wusste Fernando nicht so recht was er nun dazu sagen sollte. „Ähm, kann ich denn da SO hingehen?“, er versuchte sich Schmutz und Staub aus seiner Kleidung zu klopfen, jedoch mit wenig Erfolg, „Ich meine… Ich bin ja nicht… und stören will ich ja auch nicht. Es ist ja nicht so als… als...“ Hilfesuchend blickte er den Älteren an und kam sich noch viel dümmer vor als je zuvor.
Umso mehr, da ihn Ulfert nun breit lächelnd ansah und bemerkte: „Du bist ja so aufgeregt, als wolltest du sie gleich freien… Jetzt nimm schon dein Süßgebäck und mach‘ ihr eine Freude. Fort mit dir! Trau dich!“
Und während Fernando sich umdrehte, noch bevor der Waffenknecht des Windhagers die Röte seiner Wangen sehen konnte, schimpfte er aufgebracht: „Ich will sie nicht freien! Ich will… sie nicht und diese Ira auch nicht! Ich will nicht weg aus dem Kosch, weg von der Junkerin, erst recht nicht in den Hinterkosch, wer will denn da schon hin? Erst recht nicht zu Ira! Zu keinem Mädchen! Was haben diese Mädchen, was Männer so verrückt macht?“
„Das wirst du noch früh genug herausfinden!“, rief Ulfert dem Knappen hinterher. „Aber wen du liebst – liegt ganz bei dir, Männer, Frauen… deine Junkerin oder einen der Götter!“
Der Almadaner schüttelte verständnislos und ungläubig den Kopf und machte sich ein bisschen verstimmt – als wäre der bisherige Tag nicht bereits schlimm genug gewesen - auf den Weg, den er ja schon einmal beschritten hatte. Als er jedoch in die Nähe des Zeltes kam, ordnete er seine Kleider, klopfte sich noch einmal vergeblich Schmutz und Staub ab und rieb sich den Ärger aus dem Gesicht. Erst dann ging er näher auf das Zelt zu, welches der Waffenknecht ihm beschrieben hatte und hielt aufmerksam Ausschau nach Thyria.
Ein improvisierter Tisch und zwei verwaiste Hocker standen vor dem mit Blättern geschmückten Zelt aus dem eine sanfte Stimme leise zu hören war. Die Zeltplane des Eingangs hing offen und war nicht durchgeschlauft, doch ehe er danach greifen konnte, lenkte ihn ein schallendes Lachen aus dem karrensteiner Speichenradzelt ab.
Als er sich wieder umwandte, bemerkte er einen dunklen Schatten, der von innen auf den Eingang zukam; und schon wurde Zeltplane zur Seite geschoben und eine ansehnliche in einfaches grünes Leinen gekleidete Frau schlüpfte ins Freie.
„Die Gütige heißt dich willkommen.“ Sie hielt Zeige-, Mittel- und Ringfinger gespreizt vor der Brust und erklärte: „Mein Name ist Richild und ich bin eine Dienerin der Alten Mutter – und du bist wohl der junge Page der Junkerin von Boltansroden, nehme ich an?“
„Peraine zum Gruße, Euer Gnaden“, grüßte der Knabe erst einmal ehe er auf die Frage der Geweihten einging, nickte und erklärte: „Ja, Euer Gnaden, die Junkerin von Boltansroden ist meine werte Pagenmutter. Habt Ihr es an ihren Farben erkannt? Oder… oder habt Ihr Euch mein Gesicht gemerkt, als ich letztes mal hier war um den Hohen Herrn von Waldbachtal aufzusuchen? Thyria hat mich damals hier entlanggeführt. Ach ja, man hat mir gesagt, ich fände Thyria bei Euch, ist sie da?“ Mit seinen saphirblauen Augen schaute er die Geweihte aufmerksam an und hoffte das seine Wangen, obgleich sie vor Hitze glühten, nicht auch noch rot waren.
Und selbst wenn dies der Fall war, ging die Götterdienerin darüber hinweg als sie ungerührt antwortete: „Ich habe dich beim Weggehen gesehen. Als du meinen Vetter Aeladir begleitet hast...“.
Richild erwiderte ruhig den Blick, drehte sich dann um und hob die Zeltbahn an: „...und ja, Thyria ist hier. Aber sei gewarnt, ich kann dich nur hineinlassen, wenn du mir einen ritterlichen Eid schwörst, dass alles, was du darin siehst unter uns bleibt – und nur unter uns.“
„Ihr meint, ich darf nicht mal der Junk…?“, hob er an und verstummte als er begriff, das genau dies der Fall war. Seine Pagenmutter war ihm sehr wichtig, sie wusste alles über ihn und sie wollte auch alles wissen. War nun die Zeit gekommen – ihr werter Vater hatte das einmal zu ihm gesagt – da er Geheimnisse vor ihr hatte? Lügen durfte er nicht, aber sehr wohl schweigen – die Junkerin machte das doch auch so, oder nicht?
Fernando sog scharf die Luft ein, nickte etwas starr und sagte: „Ich schwöre bei der Herrin Rondra, der Sturmherrin, bei meinem Blut – kein Wort soll über meine Lippen kommen – sonst solle mich ihr Zorn treffen und mich vernichten!“ Er hoffte, dass ihr das genügte.
Als er aufblickte, sah er wie Richild erbleichte und vor Schreck die Zeltbahn losließ. Sie sank auf die Knie und umfasste warm seine Hände: „Gütige Mutter, ehrwürdige Säerin! Füge, dass diesem Jungen, dieser reinen Seele, kein Leid geschehe außer jenes, welches er auf sich lädt… und stimme die Donnernde gnädig, auf dass ihr treuer Diener ihre Bestrafung erfährt, nicht aber einen frühen, unverdienten Tod!“
Fernando war für einen kurzen Moment als ob er eingehüllt wurde von süßem Apfelduft und würzigen Kräutern. Doch als sich Richild erhob und ihn ernst anblickte, verging der Augenblick als sie eindrücklich anhob: „Du wirst nie wieder einen Schwur leisten, der deinen eigenen Tod beinhaltet, hörst du! Dein Leben ist so heilig wie das aller anderen Lebewesen und es steht dir nicht zu, es selbst zu beenden oder diesen Zeitpunkt herbei zu wünschen. Nur die Götter und die Schicksalsweberinnen fügen dein Ende. Und nun komm, lass uns kein Wort mehr darüber verlieren und hineingehen.“
Kaum hatte Fernando einen Schritt in das Zelt getan, da wusste er von wo der Duft gekommen sein musste: Unterschiedlichste Kräuter und aufgeschnittene Apfelringe waren in der Hitze unter dem Zeltdach zum Trocknen aufgehängt und erfüllten die warme Luft mit einem würzig-süßen Odem.
Zur Linken war eine Kiepe aufgestellt, die wie eine kleine Kommode mit zahlreichen Fächern konstruiert war – einige davon standen offen und enthüllten krümelige Substanzen und getrocknete Blätter. Daneben lag auf einer Decke eine speckige Lederrolle mit blitzenden stählernen Instrumenten neben einem recht wirren Haufen Verbandsmaterial: Messer, Spatel, Sägen sowie kleine Zangen konnte er entdecken. Auf der anderen Seite war ein Packsattel gelagert sowie mehrere wetterfeste Bündel. Weiter hinten – jenseits des Zeltpfostens saß Thyria konzentriert auf einer einfachen Bettstatt und hatte ihnen den Rücken zugewandt. Ihr rechter Arm zuckte leicht hin und her, während sie mit der Linken eine handliche Holztafel auf ihrem Schoss hielt.
Der Almadaner schaute sich um, betrachte alles um sich herum interessiert, nahm alles in sich auf – vor allem den Geruch. Seine saphirblauen Augen ließ er immer wieder und wieder durch das Zelt gleiten, wobei sie an Thyria etwas länger hängen blieben als an allem anderen, und dennoch, so sehr er sich auch bemühte, er fand einfach keinen Grund der einen solchen Schwur erfordert hätte. Um ehrlich zu sein, enttäuschte ihn das jetzt schon ein wenig, obgleich er nicht hätte sagen können, was er nun eigentlich im Zelt selbst erwartet hatte. Vielleicht etwas Geheimnisvolles oder gar etwas Verbotenes? Letzteres wohl eher nicht, aber dennoch, war das wirklich alles? Noch ein letztes mal schaute er sich um, einen Grund fand er auch dieses mal nicht, zuckte mit den Achseln und schaute die Geweihte fragend an.
Doch Richild hatte sich an ihm vorbei bewegt, während er ihr neugierig von ihr abgewendet hatte. Zärtlich strich Richild dem Mädchen über die Schulter, was Thyria zusammenzucken ließ: „Du hast Besuch, Thyria.“ Richild machte ein kurzes Handzeichen, trat zur Seite, so dass das Mädchen Fernando sehen konnte.
Rasch erhob sie sich, mit der Tafel in der Hand und blickte dem Pagen unschlüssig entgegen.
„Den Zwölfen zum Gruße, Thyria“, grüßte der Knabe und schenkte ihr ein warmes Lächeln, wobei er weder die Hitze in seinen Wangen spürte, noch die zuvor in ihm wohnende Nervosität, merkwürdig fühlte er sich dennoch, „Ich dachte, ich komm dich mal besuchen...“ Weiter kam er jedoch nicht, denn genau in jenem Augenblick glitt ein rötliches Papier vom Holz durch die Luft und landete direkt vor seinen Füßen und zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Seine Augen glitten einen Moment lang über das Stück Papier, ohne das sein Geist recht erkannte, was dort mit windhager Rötel gezeichnet war.
Dann ergriff er es und reichte es - ohne einen weiteren Blick darauf zu werfen – ihr: „Hier! Das hast Du verloren. Was machst Du denn gerade? Stör ich Dich etwa?“ Mit der letzten Frage versuchte er sich doch noch mehr oder weniger gekonnt aus der ganzen Situation zu stehlen, auch wenn er glaubte, dass es ohnehin nicht funktionierte und ganz abgesehen davon, dass er es eigentlich auch gar nicht wollte.
Während Thyria ihn immer noch verständnislos ansah, ergriff Richild eilig das Papier und legte es in eine Ledermappe, die sie plötzlich unter dem Arm hatte. Dann nickte die Götterdienerin aufmunternd Thyria zu und verließ das Zelt.
Dann schüttelte das Mädchen langsam den Kopf, setzte sich, zog die Beine an und wies mit der Linken auf den Platz neben sich.
Schwerfällig und auch etwas zögernd setzte sich Fernando neben sie, ließ sie aber dabei keinen einzigen Moment aus den Augen. Ihre dunklen Augen erwiderten seinen Blick unergründlich.
Sein Herz pochte ganz heftig in seiner Brust, aber er wusste sehr wohl was er zu tun hatte, die ritterliche Ehre gebot es ihm.
„Ich bin gekommen, um mich bei Dir zu entschuldigen“, hob der Knabe mit so fester Stimme an, wie er nur konnte und spürte plötzlich seine brennenden Wangen so deutlich, wie niemals zuvor, „Ich hab nämlich gedacht, Du willst nur nicht mit mir reden, weil… weil… na ja, weil Du eines dieser dummen Mädchen bist, aber das bist Du nicht! Ganz und gar nicht! Ganz anders als… als wie… also… und ich… ich hab ja nicht wissen können, dass… also, das hab ich nun wirklich nicht wissen können! Und… und ich hab auch gedacht, dass… na ja, dass der hohe Herr von Waldbachtal zu arm wäre, Dir Schuhe zu kaufen, weil Du ohne unterwegs warst… aber… aber ich wurde eines besseren belehrt.“ Langsam schlich sich ein verwirrter Gesichtsausdruck in ihre unbewegte Miene, so dass er wie zur Bestätigung eifrig nickte, wobei ihm eine seiner schwarzen Haarsträhnen ins Gesicht fiel, die er sogleich zwar versuchte, mit einem gewissen Maß an Pragmatismus wieder an ihren Platz zu schieben, doch weigerte diese sich geflissentlich. „Und jetzt bin ich hier und… und ich hab uns was mitgebracht“, er hielt ihr das Gebäck entgegen, „Das magst Du doch, oder?“
Sie nickte langsam. Unsicher und zögerlich streckte sie die Linke aus und nahm vorsichtig ein Gebäck mit merkwürdig roten Fingern in die Hand. Dann blähte Thyria die Nasenflügel und atmete den Duft ein, der nun auch deutlich die anderen Gerüche im Zelt überlagerte. Sie hielt inne und sah wieder zu Fernando hinüber, was er tat.
Dieser schaute sie an, schaute sie einfach nur an. Es war nicht so, dass er sie anstarrte, aber er musterte sie sehr aufmerksam und auch wenn sein Blick der eines Kindes war, hatte er dennoch etwas seltsam eindrückliches an sich. Ach, dachte Fernando, warum konnten nicht alle Mädchen so sein! Warum waren die meisten nur so dumm wie diese dumme Ira…
Das Thyria jedoch auch nach einigen Augenblicken noch immer ihr Stück Honiggebäck nicht gegessen hatte, riss den Knaben schließlich aus seinen Gedanken. Etwas verwirrt schaute er sie an, nahm sich selbst ein Stück, schob es sich demonstrativ langsam in den Mund und erklärte, nachdem er es gegessen hatte: „Schmeckt vorzüglich, genauso gut wie es riecht! Du kannst es also bedenkenlos essen und Du lässt Dir was entgehen, wenn Du es nicht zumindest probierst!“
Nun brach sie tatsächlich das Gebäck entzwei und steckte sich eine Hälfte in den Mund. Genüsslich schloss sie die Augen und schien für einen langen Moment nur zu schmecken, als sei die Spezerei etwas Heiliges - bis sie langsam anfing zu kauen. Da erst schlug sie die Augen wieder auf und grinste breit beim Kauen, dass ihr ein Krümel aus dem Mundwinkel fiel. Glucksend schnappte sie ihn blitzschnell noch in der Luft und steckte ihn sich mit roten Fingern wieder in den Mund. Noch immer grinsend, nickte sie Fernando mehrmals dankbar zu und schlug die andere Hälfte in ein mehr oder weniger sauberes Tuch aus einer Gürteltasche ein.
Fernando war erleichtert und zufrieden gleichermaßen, er hatte einen Teil seinen Zieles erreicht – er hatte ihr eine Freude gemacht. Doch der schwierigste Teil stand noch aus, das war ihm klar. Er würde ihn sich bis zum Schluss bewahren und das Gefühl in seinem Herzen erst einmal festhalten, bevor er es möglicherweise dann doch wieder verlieren würde.
Ihre roten Finger waren ihm erst aufgefallen, als sie sich das Stück in den Mund gesteckt hatte und er konnte sich aus dem ganzen keinen rechten Reim machen.
„Ist das das Geheimnis?“, wollte er von ihr wissen und deutete auf ihre farbigen Finger, „Das Du lesen und schreiben lernst?“
Sie schüttelte den Kopf. „Ich weiß zwar nicht, warum das geheim bleiben soll, aber ich habe geschworen zu schweigen und ich werde schweigen – keine Sorge!“ Wieder nickte der Knabe bekräftigend. Thyria legte ihre Linke an seine Schulter und griff nach der Tafel, dem Stück Rötel und einem neuen Blatt Papier. Sie bedeutete ihm still zu sitzen und begann zu skizzieren. Da sie nicht weit auseinander saßen, konnte der Junge sehen, wie sie rasch und sicher aus scheinbar wirren Linien sein Antlitz zusammenfügte und dann begann, noch ein paar Schatten anzulegen, indem sie mit dem Fingern die merkwürdige rote Kreide in das Papier rieb. Draußen vor dem Zelt hörte Fernando Gemurmel – offenbar auch Richilds Stimme, doch niemand machte Anstalten, ins Zelt zu kommen.
Aufmerksam und durchaus neugierig betrachtete er Thyria bei ihrer Arbeit und versuchte dabei so still zu sitzen, wie möglich, immerhin zeichnete sie ihn da gerade und er glaubte, dass ihr das helfen würde. Geehrt fühlte er sich und irgendwie auch stolz. Seine Pagenmutter hatte ihm einmal ein Bild von sich selbst gezeigt – damals hatte sie jemand in der Rabenmark gezeichnet und das auch noch mit offenem Haar; sie trug es immer bei sich, ob er jenes auch bekam oder… oder ob es Thyria bei sich tragen würde. Zaghaft blickte er sie an. Irgendwie seltsam, dachte er, sie war anders als die anderen dummen Mädchen, auch wenn er diese Andersartigkeit nicht genau beschreiben konnte und nein, es hatte nichts mit ihren nackten Füßen oder ihrer fehlenden Zunge zu tun. Fernando verstand es nicht so recht, aber irgendwie mochte er sie.
Das Mädchen war gerade fertig und hob Fernando die Tafel mit dem Papier entgegen und tatsächlich kam ihre Sicht auf ihn der Wirklichkeit, die er von seinem Spiegelbild in Wasser oder auf dem polierten Stahl seiner Pagenmutter kannte schon ziemlich nah. Doch sie hatte etwas eingefangen, was er selbst nicht sah: Isolation und Heimweh, die ihm vom Papier nun in seine großen dunkelroten Augen traurig entgegen blickten. Dann ließ sie die Tafel sinken und lauschte.
Fernando war entsetzt und entzückt zugleich. Wie konnte sie nur wissen, wie es in ihm aussah?Etwas verunsicher musterte er sie. Sie war wirklich keines dieser dummen Mädchen, wirklich nicht, denn sie wusste, wie es in ihm aussah, hatte jene Gefühle zu einem Bild vereint, die in seinem Herzen saßen, ganz tief drinnen und die er vermied zu zeigen. Der Knabe hatte sich den Heerzug anders vorgestellt: Heldentaten sollten erbracht werden, das Böse sollte vernichtend geschlagen werden! Ja, so sollte ein Heerzug sein - Glorreich! Siegreich! Ruhmreich! - doch stattdessen Tote in den eigenen Reihen, schon vor Gallys! Sie waren noch nicht einmal richtig losgezogen, da hatte es bereits die ersten Toten in ihren Reihen gegeben und er, ja er wäre ja fast selbst darunter gewesen… Und dann die ständige Angst um die Junkerin! Er wischte sich die nahenden Tränen aus den Augen und lauschte den Stimmen, betrachtet dabei aber nur Thyria – vor allem ihr Gesicht: Nase, Lippen, Augen, Augenbrauen und ihre Wimpern.
Nun erkannte er auch die andere Stimme vor dem Zelt – es war jene der Ritterin, die er kennen gelernt hatte, als er das letzte Mal hier war.
Und der Knabe, der überhaupt nicht wusste, was er eigentlich hier machte - zumindest wenn er ehrlich zu sich selbst war - fühlte sich betrogen – um die Zeit mit Thyria fühlte er sich betrogen.
„Geht es dir manchmal auch so?“, wollte er da vorsichtig wissen und deutet auf sein Abbild, „So wie mir? Weißt du, manchmal da will ich einfach nur nach Hause, aber ich bin mir nicht mehr sicher, wo das ist...“
Sie schüttelte den Kopf – vehement und suchte mit den Augen bis sie es fand: auf einer Gürteltasche ihres an der Seite liegenden Wehrgehenges war die gestürzte gelbe Spitze der Waldbachtal kunstfertig aufgestickt, obwohl die Tasche an sich eher funktional als schön war. Thyria deutete auf das Wappen, legte dann die Hand auf die Brust und deutete wieder auf das Wappen.
„Es ist gut“, erklärte er ihr, „wenn Du Dich nicht so fühlst. Die Junkerin sagt immer, es ist nicht nur wichtig zu wissen, woher man kommt und wohin man geht, sondern man muss auch immer wissen, wo seine Heimat liegt und das ist nicht unbedingt der Ort, an dem man geboren wurde. Ich weiß woher ich komme und wohin ich gehen werde, aber wo meine Heimat liegt, weiß ich noch nicht. Aber da der Hohe Herr von Waldbachtal Dir eine gibt, muss ich mich zumindest schon nicht um Dich sorgen.“
Thyria nickte nun und ein leichtes Lächeln umspielte ihre sonst so undurchdringlichen Züge.
Wohl wissend das seine Zeit mit Thyria zumindest nun zu einem baldigen Ende kommen würde stand er auf und reichte ihr erst einmal das restliche Gebäck: „Das ist für Dich! Es war die ganze Zeit schon nur für Dich!“
Ungläubig sah sie ihn an, doch er trat vor sie, kniete vor ihr nieder, senkte sein Haupt und bat: „Ich habe mich schändlich verhalten, habe dumme Dinge gesagt und über Dich gedacht, kannst Du mir das verzeihen?“ Da hob er seinen Blick und schaute Thyria mit seinen saphirblauen Augen fragend an.
Sie hielt ihre Hand, rot verschmiert und – wie ihm erst jetzt auffiel – zerschunden von den Ereignissen an der Tränke unmittelbar vor seinem Gesicht, zögerte und strich ihm dann seine widerspenstige Haarlocke hinter das Ohr. Ihre rauen Finger glitten an seinen Ohr entlang, dann nickte sie leicht, zog die Hand wieder zurück und reichte ihm sogleich sein gezeichnetes Abbild.
Als sie ihn berührte, fand er das gar nicht so übel, wenn es ein anderes Mädchen gewesen wäre – eines der dummen – dann hätte etwas in ihm geschrien: ‚Igitt, ein Mädchen!‘ Aber bei Thyria passierte nichts, nichts außer, dass die Stelle merkwürdig kribbelte und er das Gefühl hatte sich gleich heftig kratzen zu müssen. Er erhob sich langsam.
„Danke!“, sagte er erleichtert und nahm ihr sein Abbild aus der Hand, „Jetzt geht‘s mir schon viel besser! Ich hatte schon Angst, Du bist mir böse – das hätte ich nämlich nicht ertragen! Vielleicht komme ich dich ja mal wieder besuchen, Du kannst mich im Übrigen auch ruhig mal besuchen kommen und dann kann ich dir...“ Er machte eine weitläufige Handbewegung. „...alles zeigen und Du kannst auch endlich mal meine Pagenmutter kennen lernen!“
Sie nickte bei gleichzeitigem Schulterzucken – eine fast komische Betonung ihrer Unentschlossenheit. Dann erhob sie sich ebenfalls. Der Almadaner konnte ihre Reaktion nicht so richtig deuten, nickte aber und lächelte sie freundlich an.
Als Fernando - von Thyria gefolgt - aus dem Zelt trat, fand er sich tatsächlich Aillyn Faithûr und Richild gegenüber. Die beiden Frauen hatten vor dem Zelt auf den Hockern Platz genommen und redeten leise miteinander. Auf dem Tisch vor Aillyn lagen, in große Blätter des Beinwells eingeschlagen, zwei Honigkringel.
„Die Donnernde mit euch beiden“, hob die junge Ritterin an und fügte an Fernando gewandt hinzu: „...ich werde mich also mit dir in Zukunft um das Privileg streiten müssen, Thyria zu verwöhnen“ Doch ihr schmales Lächeln strafte die Worte Lügen.
Zu Thyria meinte sie fast entschuldigend: „Richild hat gesagt, dass ihre Alte Säerin oder meine Peraine es nicht gut heißt, wenn du zu viele Honigspezereien bekommst – selbst wenn es ein Geschenk ist, soll es maßvoll sein, damit es ein besonderer Genuss ist.“
Aillyn blickte prüfend zu Richild, aber die Ältere nickte nur gutmütig: „Also bleibt mir nur, das Gebäck an dich...“, sie reichte Fernando eines der Gebäckstücke, „...und an Euer Gnaden zu verschenken!“ Das andere reichte sie Richild und erhob sich.
Zwischen den drei Frauen kam sich der Knabe plötzlich schrecklich verloren vor. Mit der Inbrunst eines kleinen Knaben brachte er beim Anblick des gut riechenden Gebäcks hervor: „Habt Dank, aber ich darf nicht direkt vor dem Essen naschen! Das mag die Junkerin nicht und glaubt mir, sie bekommt so was immer raus – immer – und dann gibt es schrecklichen Ärger und ich mag sie einfach viel zu gerne.“ Er wandte sich an die Geweihte, behielt aber Aillyn im Blick: „Euer Gnaden, ich werde kein Naschwerk mehr mitbringen, denn ich möchte Euch, werte Ritterin, schließlich nicht um Euer Privileg bringen und die Herrin Peraine auch nicht zornig machen und deswegen, gebe ich es heute trotzdem an Thyria – ausnahmsweise!“ Und er reichte das Gebäck weiter an Thyria und erklärte: „Man muss es ja nicht gleich alles auf einmal aufessen!“
„Wie kann ich mich bei soviel aufrichtiger Ernsthaftigkeit, Minniglichkeit und Güte nicht dankbar zeigen?“, fragte Aillyn Faithûr und kniete sich kurz vor dem Knaben nieder. Dann erhob sie sich: „Die Zwölfe mit Euch und einen geruhsamen Abend. Euer Gnaden.“
„Wie, Ihr wollt uns schon verlassen? Ich bin untröstlich“, wehte Aeladirs Stimme heran als er auf das Zelt seiner Base zu kam: „Dabei befürchte ich, das Ihr trotz Eurer üblichen Tugendhaftigkeit, meine Waffenmagd mit Honigkringeln verderbt.“
„Ihr solltet Euch lieber fragen, warum andere beginnen, Eure Versäumnisse auszugleichen, Aeladir“, antwortete Aillyn spitz.
„Die Wege der Götter wie auch meiner Zuwendung sind unergründlich, ich erwarte nicht, dass ihr meine Zuwendung zu Thyria versteht.“ Eine leichte wütende Blässe legte sich auf Aillyns Gesicht, doch sie schluckte eine Entgegnung herunter, gestand dem Windhager diesen Punkt zu und nickte ihm zum Abschied, bevor sie davonging.
„Base. Fernando“, grüßte der Erbjunker beide und an Fernando gewandt: „Ulfert hat mir verraten, dass du noch Thyria sehen wolltest.“ Sein Blick ging zu dem Honiggebäck, dass Thyria in ihrer Hand hielt und dann wieder zum kleinen Almadaner zurück: „Was hast du da? Ist das eine Nachricht von deiner Pagenmutter?“
Ein wenig verwirrt blickte Fernando den Windhager an, dann wurde ihm klar, dass er noch immer Thyrias Zeichnung in seinen Händen hielt. So langsam und gefasst er konnte, faltete er das Stück Papier fein säuberlich zusammen, steckte es in sein Wams und klopfte zufrieden auf die Stelle. „Nein“, hob er an und spürte erneut das Glühen auf seinen Wangen, „Das ist… ähm... meine eigene... private Korrespondenz, wenn Ihr so wollt. Aber im Auftrag der Junkerin bin ich wohl hier, soll Euch an das gemeinsame Abendessen mit ihr erinnern und nicht ohne Euch zurückkommen!“ Er nickte mit Nachdruck. „Wollt Ihr noch einmal in Euer Lager gehen, bevor ich Euch zu meiner Pagenmutter bringe?“
Aeladir zog kritisch seine Augenbrauen zusammen, als der Junge so ausweichend antwortete und auch noch errötete – vermutlich wurde er gerade belogen, aber wie es aussah, war das kein Problem, trotzdem entgegnete er etwas härter als beabsichtigt: „Sehr zuvorkommend von der Junkerin – und nein, es besteht kein Anlass nochmal zurückzugehen.“
Der scharfe Ton des Erb-Junkers traf bei Fernando auf absolutes Unverständnis. Was hatte er falsch gemacht? Mochte er etwa nicht, dass er bei Thyria gewesen war? Dann auch noch allein? Skeptisch betrachtete er den Windhager.
Tatsächlich sah der Erbjunker recht adrett aus, wenn man von seinen ungeschnittenen, feuchten Haaren und kurzem Bart absah: er trug statt der lichtgelben Cotte heute eine aus leichter dunkelgrüner Wolle mit spitzem gelb gefassten Ausschnitt und Säumen. Neben einem Dolch als Seitenwaffe und einer kleinen Gürteltasche hielt er unter dem Arm ein kleines Paket, dass in Nessel eingeschlagen war.
„Base...“, er beugte sich zu Richild, küsste sie auf die Stirn und strich Thyria über die Schulter, „… bis später.“
„Die Zwölfe mit Euch – vor allem die Herrin Peraine!“, verabschiedete sich nun Fernando von den beiden Frauen. Er wandte sich um, warf jedoch einen letzten Blick zu Thyria zurück, eher er mit dem Windhager zusammen aufbrach.
„Die Junkerin wird sich sehr freuen, Euch zu sehen, sie hatte schon Angst, Ihr könntet sie aufgrund der jüngsten Ereignisse vergessen! Nicht, dass sie Euch hätte böse sein können – immerhin kann sie sich durchaus vorstellen, was Euch gerade bewegt – aber enttäuscht wäre sie schon gewesen.“, offenbarte der Knabe freimütig.
Der Ritter antwortete nur einsilbig: „Ihre Angst ist unbegründet.“
Der Almadaner deutete auf das Paket: „Soll ich Euch das abnehmen?“
„Nein, danke... es geht durchaus.“
Da schaute der Knabe nur noch verwirrter drein. Was hatte er jetzt denn schon wieder falsch gemacht? Er verstand es nicht und nachzufragen schien ihm wenig sinnvoll, es sah ohnehin nicht danach aus, als würde er ein Gespräch in Gang bekommen, da der Ritter in Schweigen verfiel. Aeladir bedachte die Geheimnisse die offenbar Richild und Aillyn Faithûr miteinander pflegten. Auch Thyria schien dabei eine Rolle zu spielen: ‚Vielleicht nicht auch, sondern besonders sie?...‘.
So blieb Fernando also nichts anderes übrig, als neben dem Windhager herzulaufen und weil der ja von sich aus nicht mit ihm redete , begann er fröhlich ein Liedchen vor sich hinzusummen, denn eigentlich war er gut gelaunt – er hatte sich bei Thyria entschuldigt, sie hatte seine Entschuldigung angenommen, sie hatte mit ihm zusammen etwas des Gebäcks gegessen und ihn sogar gezeichnet, ein Knabe seines Alters konnte nun wirklich nicht mehr wollen!
Vor ihnen kam allmählich das Lager seiner Pagenmutter in Sicht. Ein geradezu unwiderstehlicher Geruch nach gut gewürztem Essen lag in der Luft. Sie kamen am abgezäunten Bereich für die Pferde vorbei, denen der Knecht gerade etwas Hafer gab. Fernando warf Raa einen sorgenvollen Blick zu, in seinen Ohren hallte die Drohung seiner Pagenmutter vom heutigen Morgen wieder. Es war eine Drohung gewesen, auch wenn sie es bestritten hatte. Ihr Weg führte nun direkt auf das Sonnensegel zu, unter dem die Tafel gedeckt worden war. Dahinter lagen die beiden Zelte, in das eine konnte man hineinsehen, in das andere jedoch, in dem die Junkerin ihre Bettstatt hatte nicht. Runkel stand an der Feuerstelle und rührte etwas missmutiger als sonst in dem großen Kessel herum. Die anderen Waffenknechte und -mägde waren noch mit den Arbeiten des Tages beschäftigt – Schuhe ausbessern, Kleidung flicken, Bettzeug in die Zelte räumen, Sättel und Zaumzeug fetten, die restlichen Vorbereitung für das gemeinsame Abendessen treffen und alles was eben sonst noch so anstand.
Die Junkerin selbst stand an der Feuerstelle, den Rücken hatte sie Fernando und ihrem Gast zugewandt. Man sah sie nicken und sich angeregt mit ihrem Waffenknecht unterhalten. Sie trug neben ihrem üblichen hochgeschlossenem Unterkleid und der für sie typischen Haube, ein schlichtes, an den Seiten geschnürtes und daher eng am Oberkörper anliegendes Wollkleid im Grün ihres Hauses, auf Höhe der Taille gegürtet, der Schwertgürtel lag mehr oder wenig elegant um ihre Hüfte. Als sie näher kamen, deutete Runkel mit einem Kopfnicken in Fernandos Richtung und die Junkerin wandte sich um.
Auf ihrem Gesicht breitete sich ein liebliches Lächeln aus, als sie den Windhager erblickte.
„Den Zwölfen zum Gruße“, grüßte sie sichtlich gut gelaunt, nickte und ging auf Fernando und Aeladir zu, „Schön, das Ihr endlich da seid.“
Noch etwas missmutig vom vergangenen Tag oben in Gallys, der anstrengenden Suche nach einem Ersatzpferd für Ulfert sowie einem angemessenen Geschenk an die Junkerin zwang sich Aeladir das ‚endlich‘ zu überhören: als ob er jetzt bereits stundenlang zu spät wäre. Etwas gezwungen lächelte er Nale an und verbeugte sich dann – auch um seine gedämpfte Stimmung rasch in den Griff zu bekommen – um ihrer beider Willen.
Etwas gelöster hob er den Kopf wieder: „Es freut mich ebenfalls, Euch zu sehen. Mit diesem kleinen Geschenk möchte ich mich bei Euch für die Einladung bedanken“, er reichte ihr das in Nessel eingeschlagene Paket.
Nale betrachtete es einen Augenblick aufmerksam und schaute dann wieder zu Aeladir auf. „Ich soll es wohl gleich auspacken, nicht wahr?“, wollte sie wissen und machte sich sogleich eifrig und auch durchaus etwas neugierig daran. Das dicke Wachspapier enthüllte einen kleinen Holzzylinder von vielleicht 5 Fingern Höhe, der anscheinend einen Schraubdeckel hatte. Daneben lag auf dem Nessel ein kleiner Tiegel aus Ton: „Da mir Euer weiteres Wohlergehen am Herzen liegt, erhaltet ihr Kleinigkeiten für Leib und Seele. Ein Tiegel mit einer Salbe der Tarnele, die das Wundfieber abhält und hier, trocken im Holz gelagert, ein Badesalz mit dem Duft von frischen Kräutern. Wenn ihr an dunklen Orten kein Bad nehmen könnt, so vertreibt eine kleine Handvoll davon in frischem Wasser gelöst düstere Gedanken...“.
Das machte die Koscherin jetzt dann doch etwas verlegen: „Ach, Ihr hab so viele eigene Sorgen, Aeladir, und dennoch denkt Ihr an mein Wohlergehen! Habt vielen Dank, es wird mir gewiss gute Dienst leisten, obgleich ich hoffe, dass ich nie etwas davon benötigen werde; eine Hoffnung die vermutlich vergebens ist, aber was wären wir ohne die Hoffnung?“ Sie schenkte ihrem Gegenüber einen sanftmütigen Blick und bemerkte etwas irritiert, wie Fernando geradezu bedächtig immer wieder an einer Stelle über sein Wams strich. Sie drückte ihm Aeladirs Gastgeschenk in die Hände und riss ihn damit recht abrupt aus seinen Gedanken.
„Hatte Eure Suche bisher Erfolg?“, wandte sie sich an den Windhager, „Hab Ihr Ersatz gefunden?“
„Die Situation auf dem hiesigen Pferdemarkt ist verzweifelt – so wie es der hinterlistige Nadelstich herbeiführen sollte: bereits jetzt sind viele, die ihr Pferd verloren haben, entmutigt und selbst wenn sie, wie ich das Glück haben, ein anderes Pferd zu erhalten, vollauf damit beschäftigt, die alte Kampfkraft wiederzugewinnen. Sigman von Karrenstein hat mir vorerst das jüngste seiner Rösser gegeben. Doch ich bin nach wie vor auf der Suche nach einem Ersatz für den Fuchs - Ulferts Tier.“
„Mein Vetter und ich werden uns gerne im koscher Lager umhören, der Zusammenhalt hier ist sehr groß - man wird einen ehrbaren Ritter unterstützen!“
„Ich danke Euch für das großzügige Angebot, Euer Wohlgeboren. Obwohl ich glaube, dass niemand in der gegenwärtigen Situation ein erfahrenes Tier, selbst wenn es alt ist, entbehren kann. Aber wir werden sehen.“
Einige Augenblicke schaute sie Aeladir aufmerksam an, wandte sich dann jedoch sogleich an ihren Pagen: „Geh zu den Anderen, sie sollen das Fladenbrot ausbacken und Runkel soll seiner Alvide was zu essen bringen und zusehen, dass sie es auch isst – er soll im Übrigen auch was essen!“
Fernando tat wie ihm geheißen und man hörte, wie er mit seiner Kinderstimme den anderen die Anweisungen der Junkerin überbrachte: „Die Junkerin hat gesagt, dass...“
„Ich habe durchaus Verständnis für Eure Bedenken und auch dafür, dass die Ereignisse Euer Vertrauen erschüttert haben“, hob sie an und ein verstohlenes Lächeln huschte über ihr Gesicht, „doch meint Ihr nicht, dass Ihr die Koscher und vor allem Eure koscher Freunde ein wenig unterschätzt?“
Aeladir legte seinen Kopf etwas schief, irritiert, dass es ihm immer noch nahe ging, wenn sich zwischen ihnen Missverständnisse scheinbar ganz natürlich einstellten – wie damals im Kosch: „Wie ich gesagt habe, wird es sich erweisen. Aber ich möchte Euch, da ihr selbst verletzt seid, weder zu Last fallen, noch eine Aufgabe aufbürden, die nicht die Eure ist. Deshalb habe ich auch keine Erwartungshaltung und kann auch nicht enttäuscht werden.
Vertrauen in meine Leute habe ich selbstverständlich, aber ich weiß, dass Ulfert wie jeder Reiter Zeit benötigt, sich an ein neues Tier und seine Eigenarten zu gewöhnen..“, er zuckte schicksalsergeben mit den Schultern, „...es ist angesichts der bevorstehenden Schlachten eine zusätzliche Prüfung und ich bange darum, dass es mir nicht möglich sein wird, durch den Verlust von Eisenhuf das Leben von Ulfert und Thyria zu schützen. Wenn wir also von Vertrauen sprechen, dann trifft in der gegenwärtigen Situation wohl eher Selbstvertrauen zu.“
„Oh, nein, nicht doch!“, entfuhr es ihr ein bisschen entsetzt und sie ergriff ihn mitfühlend bei der Hand, „Verliert nicht das Vertrauen in Euch selbst! Verliert nicht den Glauben an Euch selbst! Das wird alles – Ihr werdet sehen. Kommt! Ich will Euch etwas zeigen.“ Mit diesen Worten führte Nale ihren Gast vom Geruch des Essens fort in Richtung der Pferde, nahm dort einige Möhren aus der Futterkiste und drückte die Hälfte davon Aeladir in die Hand, dabei erklärte sie lachend: „Keine Sorge, es wird später auch noch etwas Richtiges zu essen geben, aber jetzt erst mal zu den Pferden. Seht ihr den Yaquirtaler dort hinten neben dem Tralloper? Denkt Euch die Teshkaler einfach weg.“ Sie ließ dem Windhager einen Augenblick lang Zeit.
„Der Tralloper, Calli, ist meiner und weil er nicht duldet, dass wir jetzt gleich eines der anderen Pferde verwöhnen und er nichts bekommt, bekommt er halt auch was, wir wollen ja nicht so sein, aber passt auf – er stibitzt gern!“ Sie fügte noch etwas erklärend hinzu: „Ihr glaubt doch nicht wirklich, dass ich meine Hilfe anböte, ohne bereits einen Plan zu haben?“
„Nur verstehe ich ihn leider nicht...“, meinte Aeladir leise und ging mit der Handvoll Möhren an den schwarzen Teshkalern vorbei auf den noch größeren Tralloper zu: „...was also ist Euer Plan?“
Vorsichtig reichte er dem mächtigen Streitross einige Möhren und nutzte den Moment als der Tralloper zubiss und gleichzeitig dem kleineren Yaquirtaler eine Möhre zuzustecken. Doch der Tralloper ließ sich nicht beirren, dabei hatte er seine Möhre noch immer im Maul und versuchte dennoch eine weitere aus der Hand des Windhagers zu stibitzen, Nale merkte das jedoch rechtzeitig und schimpfte das Tier aus: „Lass das! Musst du eigentlich immer allen zeigen, dass du mir auf der Nase herumtanzt? Kannst du dich denn nicht einmal benehmen? Wieso bist du eigentlich immer so schrecklich eifersüchtig?“
Nale baut sich vor ihrem Schlachtross auf und befahl: „Geh zurück! Los, zurück! Zurück! Zeig doch das du auch folgen kannst! Zurück!“ Dann begann das Tier rückwärts zu gehen und Nale bewegte sich auf ihn zu, als sie weit genug von Aeladir entfernt waren, blieb sie stehen und mit ihr auch ihr Pferd. „Bleib!“, sagte sie und ehe sie den Windhager zu rief: „Schaut Euch den Yaquirtaler an!“ Sie warf die Möhren vor Calli auf den Boden, welche er sich sogleich mit den anderen Pferden würde teilen müssen und ging zu Aeladir zurück.
„Ein schönes Tier, nicht wahr? Zugegeben, wenn er sich bewegt, dann erinnert er mich zumindest immer an einen Storch“, sie machte vor, was sie meinte und ging ein paar Schritte, zog dabei ihr Kleid bis zu ihren Knien hinauf, offenbarte dabei ihre Stiefel und ein bisschen ihrer weißen Strümpfe und ahmte den Schritt eines Storches nach, „was ein bisschen komisch aussieht, weil er so einen hohen Schritt hat.“ Nun stand sie wieder neben ihrem anderen Almadaner und strich dem hübschen Rappen gedankenversunken über den Hals. „Ich weiß, er ist nur ein mittelschweres Streitross und gewiss kein Ersatz für Euren Eisenhuf, aber ich überlasse ihn Euch gerne.“ Nale hatte sich nun wieder Aeladir zugewandt und fühlte sich verpflichtet, hinzuzufügen: „Leihen, meine ich natürlich.“
Der Windhager schluckte – Regen und Traufe lagen wie üblich dicht beieinander: Gurvan war ebenso wie der Yaquirtaler hier mittelschwer und in seiner Situation der beste Ersatz, den er sich vorstellen konnte. Für Ulfert jedoch, war jedes dieser Rösser zu edel. Er konnte sich also entscheiden, entweder Sigman oder Nale zu brüskieren, und versuchte deshalb Zeit zu gewinnen, um einen weiteren Punkt auszuschließen, der ihm Sorgen bereitete: „Ich weiß nicht, was ich sagen soll – wie ist sein Name?“ Er hoffte inständig, dass dies nicht Fernandos Ross war.
„Raa“, entgegnete sie und nickte, „wie das Rahsegel. Mit Nando teilt er seine Herkunft – beide kommen aus der Baronie Valpokrug aus Almada.“
„Mein Waffenknecht Ulfert sagte mir, dass Euer Page ein Yaquirtaler reitet…“. Nale nickte.
Der Windhager unterbrach sich errötend und nahm erneut Anlauf: „Ich bin Euch sehr dankbar für Euer Angebot, doch ich hoffe, Ihr habt Euch nicht hinreißen lassen, da ich vorhin Schwäche gezeigt habe. Ich kann Euer Angebot nicht annehmen, da dieses Pferd...“, er klopfte kurz auf Raas Flanke, „… zu edel ist für meinen Waffenknecht. Zudem fürchte ich um Euren guten Ruf, wenn Ihr mir ein derartiges Entgegenkommen zeigt. Ich möchte Euch nicht brüskieren…,“ er sank vor ihr auf ein Knie: „...Euer Angebot ehrt mich, aber… Ich kann nicht.“ Noch immer rot vor Scham blickte er zu ihr auf.
Es dauerte einen Moment ehe Nale Aeladirs Gestik, Mimik und Worte zusammenfügen konnte und als sie begriff was hier gerade vor sich ging, war ihr das ganze nicht nur mindestens genauso unangenehm wie ihm, sondern ihre Wangen wurden auch fast genauso rot.
„Entschuldigt!“, bat sie geradezu flehentlich und zog den Windhager etwas schwerfällig auf die Beine, „Entschuldigt! Ich wollte… also ich wollte… Ich hätte es nicht vorschlagen… also… Euch nicht in diese Situation… also… niemals hätte ich… Entschuldigt! Lasst es uns vergessen, ja?“
Erleichtert drückte er ihre Hand und fügte dann nur hinzu: „Gerne...“, und befreiter grinsend, „...aber Ihr habt schöne Pferde.“ Er lachte vor Erleichterung. „Sollen wir zurück gehen?“
Nale versuchte sich an einem Lächeln, doch die Kränkung war ihr deutlich anzusehen. Zurückweisung ertrug sie kaum oder eher überhaupt nicht. Die beiden wurden jedoch vom Ruf der anderen aus dem Lager erlöst: „Wenn die adeligen Herrschaften was warmes essen wollen, dann sollten sie sich JETZT zu Tisch begeben!“ „Ach, Runkel“, seufzte Nale leise, froh der Situation irgendwie entkommen zu können, „Höflich und zuvorkommend wie immer! Wir sollten uns dann wohl zu Tisch begeben.“ Also war es doch nicht überstanden – kindisch kam ihm sogleich seine Erleichterung vor und der Impuls, ihr mit einem Lachen nachgegeben zu haben. Gleichzeitig beschlichen ihn düstere Befürchtungen für den weiteren Verlauf des Abends.
An der Tafel aber hatten sich bereits alle versammelt, die Tonschalen waren mit köstlich riechenden Eintopf gefüllt, der Duft von frisch in der Pfanne ausgebackenem Brot lag in der Luft.
Fernando war der einzige, der noch nicht Platz genommen hatte und sich auch nicht an den angeregten Gesprächen bei Tische beteiligte. Mit einer großen Holzschale in Händen empfing er die Junkerin und ihren Gast, über seinem rechten Schulter lag ein weißes Stück Leinen und erklärte dem Windhager: „Jeder muss sich die Hände waschen, bevor er bei Tisch platz nehmen darf und da Ihr am heutigen Abend Gast an der Tafel der Junkerin seid, steht es Euch sogar zu das Tischgebet zu sprechen.“ Was eine große Ehre war, fügte der Knabe in Gedanken hinzu und ergänzte sicherheitshalber: „Falls Ihr dies wünscht.“ Auffordernd sah der Knabe Aeladir an.
„So, lasst uns der Herrin der Gastfreundschaft danken, für die Gaben, die wir vor uns sehen und empfangen werden. Bei den unsterblichen Göttern aber bitte ich, die Sturmbringerin und die Alte Säerin voran, darum, dass alle hier an dieser Tafel wohlbehalten in ihre Heimat zurückkehren.“ Aeladir beugte abschließend sein Haupt, um das schlichte Gebet zu beschließen – dann tauchte er seine Hände in die dargebotene Holzschale, trocknete sie am Leinentuch und reichte es Nale. Die aber hatte Mühe an sich zu halten und versuchte das Lachen, welches ihrer Kehle zu entrinnen versuchte, zu unterdrücken, wobei sich ein roter Schimmer über ihre Wangen legte – da hatte der Windhager wohl etwas missverstanden, aber sie wollte ihn nicht dafür bloßstellen. Eigentlich fand sie es ja ganz… hm… niedlich - seine Unbeholfenheit war irgendwie niedlich - und wie hätte er es auch besser wissen können?
„Oh, Aeladir!“, entfuhr es ihr, sie musste sichtlich schmunzeln, wusch sich eilig ihre Hände und ergriff das Tuch, „Wie können wir uns nur immer so missverstehen? Das Tischgebet wird bei Tisch gesprochen, mit allen zusammen, versteht Ihr? Und nicht, wenn man vor der Waschschüssel steht. Ich hätte es Euch erklären sollen, entschuldigt, ich bin nicht gewohnt, Fremde – also ihr seid eigentlich kein Fremder, eben nur nicht mit meinen Gepflogenheiten vertraut – an meiner Tafel zu haben...“
„So scheint es...“, meinte Aeladir, „...bei uns ist es üblich, das einer das Gebet im Stehen für die anderen spricht. Aber wie dem auch sei...,“ er zuckte mit den Schultern, „...letztlich sind es nur verschiedene Wege zum gleichen Ziel.“ Fragend blickte er zu Nale und Fernando, wo er also Platz nehmen sollte. Neben der Junkerin am Kopf der Tafel, wie es einem ehrbarem Gast eben zustand.
Fernando übernahm das Tischgebet – Nale wollte kein unnötiges Risiko für weitere, wenn auch niedliche Missverständnisse einräumen – und das Essen begann.
Zwei Plätze an ihre Tafel blieben allerdings leer, hinzu kam Fernando, der neben der Tafel stand und aus einem abgewetzten Buch vorlas. Die anderen aßen schweigend und lauschten aufmerksam dem Vortrag: „Ein armer Mann hatte so viele Kinder, dass er sie schon jetzt nicht mehr durchbringen konnte. Da schenkte ihm seine Frau ein weiteres. Er wusste jedoch nicht, was er mit diesem anfangen sollte, so legte er sich in seiner Betrübnis nieder und schlief ein. Da träumte ihm, er sollte vor das Tor gehen und so ging er vor das Tor. Dort traf er eine alte Frau. Sie versprach ihm genug zu essen für seine Familie, verlangte dafür nichts, wollte nur zu gegebener Zeit wieder kommen. Der Mann willigte ein.
Als der Knabe zwölf Götterläufe zählte, da erkrankte sein Vater schwer, so schwer, dass sich niemand mehr Rat wusste. Da erschien die Frau, die sich erstaunlicherweise überhaupt nicht verändert hatte, beugte sich über den Mann und sagte an den Knaben gewandt: ‚Wenn ich nur wüsste, ob der Tod bei seinem Haupt oder bei deinen Füßen steht, dann könnte ich Auskunft darüber geben, ob er noch zu retten ist, wirst du mir helfen es herauszufinden?‘
Und der Knabe willigte ein und tat alles, was sie ihm sagte, tat alles, wonach sie verlangte, um seinen Vater vor dem Tod zu bewahren. Und so konnte er errettet werden, doch der Pakt zwischen dem Knaben und ihr ward besiegelt. Da sprach sie zu ihm: ‚Jetzt sollst du ein Medicus werden; du brauchst nur Acht zu geben, wenn du zu einem Kranken gerufen wirst und du siehst den Tod zu seinem Haupt stehen, so hat‘s nichts zu sagen, lass ihn dann an dieser Flasche riechen, und salb‘ ihm die Füße damit, so wird er bald wieder gesund sein; steht der Tod zu den Füßen, dann ist‘s aus, dann will er ihn haben, und untersteh dich, ihm helfen zu wollen.“ Damit gab sie ihm die Flasche, und er ward ein berühmter Medicus; er brauchte nur den Kranken zu sehen, so sagt’ er schon voraus ob er wieder gesund werde oder sterben müsse. Er heiratet eine wunderschöne Frau und die Götter schenkten ihnen ein Kind. Und alles ging der Dinge weg, so wie es sein sollte. Über alle Grenzen hinweg wurde er als Medicus bekannt und so wurde auch bekannt, dass er alle Kranken retten konnte, denn nur bei wenigen sah er den Tod zu ihren Füßen stehen, doch dann wurde er zum Grafen gerufen, der an einer schweren Krankheit darnieder lag; wie der Medicus eintrat, sah er den Tod zu den Füßen des Grafen stehen, und da konnte seine Flasche nichts mehr helfen. Doch ihm graute vor der Wahrheit, denn die Tochter des Grafen hatte ihm gedrohte, wenn er nicht alles täte, um ihren geliebten Vater zu retten, würde er dies mit seinem eigenen Leben bezahlen und so fiel ihm ein, er wollte den Tod betrügen, packte also den Grafen, und legte ihn verkehrt, so dass der Tod an seinem Haupt zu stehen kam; es glückte und der Graf wurde gesund. Wie der Medicus aber wieder zu Haus war, kam die Frau zu ihm, machte ihm böse grimmige Gesichter und sagte: ‚Untersteh dich, den Tod zu betrügen!‘ Bald darnach ward des Grafen schöne Tochter krank, niemand auf der Welt konnte ihr helfen, der Graf weinte Tag und Nacht und ließ nach dem Medicus schicken, der auch ihn geheilt hatte. Da kam der Medicus und sah den Tod zu den Füßen der Grafentochter stehen, doch weil er vor ihrer Schönheit ganz in Erstaunen war und der Graf sie ihm zur Frau versprach, vergaß er alle Warnung und auch Frau und Kind, drehte sie herum und ließ sie an der heilenden Flasche riechen und salbte ihr die Fußsohlen. Kaum war er wieder zu Haus, da stand die Frau mit einem entsetzlichen Gesicht vor ihm und sagte: ‚Nun kommt die Reihe an die deinen!‘ Sie berührte Frau und Kind, welche augenblicklich tot zu Boden sanken, den Medicus jedoch ließ sie am Leben. Über ihm kreiste ein riesiger schwarzer Vogel mit blutrotem Schnabel.“
Einen Moment hielt der Knabe inne: „Der Vogel ist ein Nirrave und die Frau muss dann… ähm… Thargunitoth gewesen sein? Aber was ich nicht verstehe, warum haben die denn kein Rahjalieb benutzt, wenn die schon so viele Kinder gehabt haben?“
Alle Blicke wanderten zu Nale. Nale wandte ihren zu Fernando. Fernando ließ den seinen verunsichert und hilfesuchend zugleich über alle Anwesenden gleiten. Der Knabe hatte sehr wohl bemerkt, dass etwas nicht stimmte, das Rot im Gesicht seiner Pagenmutter verriet es deutlich. Sein Blick blieb an Aeladir hängen, geradezu flehend sah er ihn an.
Doch der blieb still sitzen und würde die goldene Regel nicht brechen – soweit ihm noch in Erinnerung war, sollten die Mahlzeiten der Junkerin schweigsam eingenommen werden. Das Schweigen half ihm zudem, die stille Wut über seine Zurücksetzung durch Nale zu überwinden.
Außerdem dachte er nicht daran, die Stimmung noch weiter zu vergiften, indem er hier in der Öffentlichkeit Nales ureigene Verpflichtung übernahm: sie war die Pagenmutter und so war es auch an ihr, Fernando für seine vorlaute Art und Neugier zu maßregeln oder seine Frage zu beantworten. Immerhin hatte er dem Pagen bereits vor zwei Praiosläufen im Zwiegespräch geraten, sich im Schweigen zu üben...
So wandte er den Blick von dem tugendhaften Trauerspiel ab und aß langsam weiter.
Der verwunderte Blick in Nales Gesicht wandelte sich erst in Erstaunen, dann in Entsetzen und schlug schließlich in eine Art Wut oder Zorn über. „Fernando Núñez von Graytenau“, hob sie nun mit harscher Stimme an und der Knabe war sich nun sicher, dass das kein gutes Ende haben würde, „Was – bei allen zwölf Göttern – ist eigentlich los mit Dir?“
„Das darf ich nicht sagen!“, platzte es aus diesem heraus, noch bevor er sich überhaupt klar war, was das für Konsequenzen haben würde, denn so fragte seine Pagenmutter verständlicherweise: „Und warum solltest Du mir das nicht sagen dürfen?“
„Weil ich sonst tot...“, plapperte er weiter, begriff aber dieses mal, dass er das hätte nicht sagen sollen und kam trotzdem nicht darum herum, „...bin!“
„Wie bitte?“, die Stimme der Koscherin wurde lauter, „WER sagt das?“
„Ihre Gnaden von...“, hob der Knabe an und wollte sich gerade daran machen zu erklären, da fiel ihm aber Nale ins Wort: „Diese Trajekerin! Erst nistet sie sich bei meinen Brüdern ein und tut - ich will es lieber nicht wissen - und dann…“
„...von Waldbachtal“, gelang es Fernando schließlich herauszuwürgen.
Aeladirs Löffel sank in seine Suppe, als er nun doch aufblickte; also war da vorhin doch irgendwas vorgegangen, wie er schon vermutet hatte.
„...von Waldbachtal“, wiederholte Nale langsam, schüttelte ihren Kopf und warf einen kurzen fragenden Blick zu Aeladir hinüber, „Was redest Du denn da für einen Unsinn! Hast Du getrunken oder bist Du auf den Kopf gefallen oder was? Rück endlich raus damit!“
„Ich musst Ihr versprechen, nix zu sagen!“, beteuerte er und zitterte am ganzen Leib, weil er nicht ertragen konnte, dass seine Pagenmutter wütend auf ihn war, „Ich hab‘s geschworen. Geschworen nicht zu sagen, was ich in ihrem Zelt sehe...“
Einen Augenblick war Nale sprachlos, denn sie konnte sich nur eine einzige Sache vorstellen, über die Nando ihr nichts erzählen durfte – nur eine einzige Sache und die war… Warum nur konnte sie mit dem Knaben über alles sprechen, aber ausgerechnet über DAS nicht? „Nando“, hob sie mit rauer Stimme an, „es war doch nichts Unschickliches, was du da gesehen hast...“
„Hä?“, der Knabe schien vollends verwirrt, „Unschicklich? Ihr meint, so was wie mit dem Baron gestern, der plötzlich nackt war?“
Der Windhager war hin und hergerissen, entweder aufzuspringen und zu gehen, da sich die ganze Szene hochpeinlich entwickelte, oder die Demontage der Tugendhaften zu genießen. Er entschied sich vorerst für die Gratwanderung des Verbleibens und richtete seinen fragenden Blick auf Nale.
Diese, obgleich ihr die Schamröte im Gesicht stand und nicht nur Aeladir sie fragend anblickte, überging die letzte Frage ihres Pagen einfach und sagte: „Setz dich hin, iss und halt ansonsten den Mund, kommt ohnehin heute nichts sinnvolles raus!“ Doch während sich Fernando eifrig über seine Schale Eintopf hermachte, denn dann würde ihm schon nichts verhängnisvolles herausrutschen, blickten alle anderen Nale immer noch an. „Gut! Ich habe verstanden“, Nale nickte, „wir sollten mal ein paar ernste Wort mit Eurer Base sprechen, Aeladir!“ Sie verlor jedoch kein Wort über den gestrigen Abend und wirkte nun erstaunlich beschäftigt mit dem bisschen Eintopf, den sie noch in ihrer Schale hatte.
Der Erb-Junker schüttelte unwillig den Kopf, da ihm gründlich der Appetit vergangen war und wartete darauf, dass die Tafel aufgehoben würde.
Das tat Nale dann kurze Zeit darauf und während ihre Waffenknechte und -mägde Spielkarten und Würfel auspackten um sich die Zeit bis zur Nachtruhe zu vertreiben, zog die Junkerin es vor sich mit Aeladir in eines der Zelt zurückzuziehen um dort in Ruhe reden zu können, schließlich hatten sie sich ja aus einem bestimmten Grund getroffen – es gab da ja Dinge zu klären, jetzt noch mehr als je zuvor. Sie saßen sich gegenüber auf dem Boden, so wie es bei der Boltansrodenerin üblich war, unter ihnen weiche Felle und wartete auf den Tee, den die Junkerin versprochen hatte.
„Entschuldigt“, hob Nale dann geradezu verzweifelt an, als sie beide endlich alleine waren, „Diesen Abend habe ich ganz anders geplant, so sollte das alles nicht laufen… Der ganze Tag war schon so… durchwachsen. Ich weiß auch nicht, was gerade los ist… Entschuldigt bitte! Ihr müsst mich für eine grässliche Gastgeberin und Pagenmutter halten...“
Aeladir wollte diese Frage nicht beantworten – zu oft hatte er bei Nales plötzlichen Stimmungswechseln ein erneutes Missverständnis am Hals. Stattdessen entgegnete er also: „Was macht Euch denn so sehr zu schaffen?“
„Die Widrigkeiten des Heerzugs“, entgegnete diese etwas verwirrt, „und das was ein jeden von uns erwartet. Wissen wir denn, ob wir noch einmal nach Hause zurückkehren werden?“ Sie zuckte mit den Schultern. „Freunden, die man findet. Beziehungen, die man knüpft. Keiner vermag zu sagen, ob das alles nicht ein jähes Ende findet. Ob die Enden lose bleiben werden, sich verlieren oder ob wir daraus ein festes Band knüpfen können, eines, welches überdauert und jeder Belastung stand hält.“ Sie winkte ab. „Ich hör mich an, als wäre es meine erste Schlacht. Als wäre ich Knappin an der Hand meines Schwertvaters und wüsste nicht, wie das ganz hier vonstatten ginge. Aber ich weiß es und es macht mir Angst. Zum ersten mal bin ich nicht allein, zum ersten mal habe ich eine Verantwortung, bei der ich nicht weiß, ob ich ihr gewachsen bin. Was ist mit Nando, frage ich mich immer wieder, wenn mir etwas zustößt?“ An die Möglichkeit, dass ihm etwas zustoßen könnte, dachte sie nicht, die hatte sie aus ihren Gedanken verbannt.
Aeladir blickte sie erstaunt an: „Habt Ihr mit seiner Familie keine Regelung für diesen Fall getroffen? Solche Dinge gestalten sich doch meist einfach, zumal ihr ja Verwandte auf dem Heerzug habt und die Almadaner auch bald eintreffen werden. Ihr macht Euch sorgen, was mit ihm passiert – bemüht Euch lieber am Leben zu bleiben, sonst kosten Euch die Sorgen dasselbe.“
„Wie recht Ihr doch habt!“, stimmte sie Aeladir zu und nickte, „Und dennoch… Nur weil man nicht darüber nachdenkt, heißt das noch lange nicht, dass Golgari einen nicht doch holen kommt. Und doch… Ihr scheint nun wirklich nichts von Eurer Zuversicht verloren zu haben.“ Sie besann sich einen Augenblick. „Vielleicht sollten wir uns endlich dem Grund unseres Treffens zuwenden?“ Auffordernd schaute sie ihn an.
„Ich muss gestehen, dass ich aufgrund der Ereignisse der zurückliegenden Praiosläufe, den Faden verloren habe. Helft mir bitte auf die Sprünge, da ich nicht mehr genau weiß, was wir klären wollten“, brachte Aeladir ihrem Blick entgegen.
Nale war sich nicht sicher, ob der Windhager das nun doch ernst meinte oder ob er sie prüfen wollte. Sie versuchte aus seine Miene schlau zu werden, aber es gelang ihr nicht so recht. Hatte er nicht auf eine Unterredung mit ihr gedrängt? Und jetzt wollte er sich an nichts mehr erinnern können? Vielleicht waren es tatsächlich die Ereignisse, er schien wirklich nicht er selbst zu sein.
„Also“, begann sie, „sorgt Euch nicht, es würde gewiss auch anderen in Eurer Situation so ergehen und da ihr Euch hier in der Gesellschaft einer Freundin befindet – sorgt Euch erst recht nicht! Ich weiß nicht genau, was Ihr alles mit mir zu besprechen hattet, aber von meiner Seite aus geht es um einen Brief, der zwei Siegel erhalten musste, bevor er seinen Weg zu mir fand...“
„Ich habe Eurem Pagen bereits gesagt, wie es sich verhalten hat, aber ich tue das gerne auch für Euch. Ich hatte den Brief bereits in Flachstein – noch im Phex Mond als sich die Streiter des Alten Landes sammelten – geschrieben. Da sich allerdings keine Gelegenheit bot, ihn einem schneller reisenden Händler mitzugeben, behielt ich den Brief, um ihn Euch zukommen zu lassen. Und diese Gelegenheit sah ich durch das Erscheinen Eures Pagen gekommen. Nun hatte sich allerdings in meiner Tasche das alte Siegel auf der Reise gelöst, so dass Euer Page darauf bestand, dass der Brief neu gesiegelt werden müsse, damit er Euch unter die Augen treten könnte...“, Aeladir hob in einer einladenden Geste die Hände: „...ist damit Eure Frage beantwortet?“
„Ja“, entgegnete Nale, obgleich es in keinster Weise der Wahrheit entsprach und der Windhager nebenbei die ganze Geschichte nur teilweise richtig erzählt hatte, denn Fernando hatte nie gefordert, dass der Brief neu gesiegelt wurde. Ob sie ihm raten sollte, seine Korrespondenz besser zu verwahren? Sie tat es nicht und versuchte sich an einem Lächeln. „Wisst Ihr, ich bin ein bisschen vorsichtig. Es gibt einige, die gerne meine private Korrespondenz mitlesen würden - allen voran mein werter Vater und meine Brüder. Glaubt mir, es ist mir gewiss so unangenehm wie Euch. Also vergessen wir das.“ Sie machte eine versöhnliche Geste und bedachte den Windhager mit einem weichen Blick. Aeladir konnte sich nicht vorstellen, warum man erpicht sein sollte, die Briefe von Nale zu lesen, bislang hatten sie bestenfalls freundschaftliche Belanglosigkeiten ausgetauscht. Aber vielleicht mochte das ja mit anderen – wie dem Baron von Hlutharswacht – auch anders sein; er spürte einen Stich und eine brennende Neugier, die er allerdings sogleich unterdrückte. Er hatte keine Ansprüche und nach den Ereignissen des heutigen Abends war er sich auch langsam nicht mehr sicher, ob Nales Anziehungskraft alleine ausreichte: Zu kompliziert waren ihm die gemeinsamen, von Missverständnissen gekrönten, Gespräche, zu neugierig oder geschwätzig Familie oder Page. Und doch fühlte er sich zu ihr hingezogen, das stand außer Frage.
„Ansonsten...“, sie seufzte, weil sie nicht wusste, worüber er mit ihr hatte sprechen wollen, „Wenn Ihr Kummer habt oder Sorge, Aeladir, ich hör‘ Euch gerne zu und ich - im Gegensatz zu kleinen geschwätzigen Pagen - kann sehr wohl schweigen!“
Der Ritter nickte langsam. „Habt dank für dieses offene Wort, doch es sind keine Sorgen hinzugekommen...“, meinte er lahm und hoffte gleichzeitig, dass der Tee bald kam.
Stumm nickte sie. Die abwehrende Haltung des Windhagers nahm sie persönlich und konnte ihn doch nicht darauf ansprechen – sie war nicht gut in solchen Dingen. Fernando brachte den Tee und Nale würdigte ihn keines Blickes, weswegen er gleich wieder verschwand. Nun hielt sie ihren Becher Tee in Händen und starrte auf den aufsteigenden Dampf und weil sich so langsam unangenehme Stille über sie und ihren Gast breitete, wollte sie dann wissen: „Wie seid Ihr eigentlich zu Eurer Waffenmagd, Thyria, gekommen?“
„Sie fand mich in Schwarztobrien…. und rettete mich“, gab er ohne Umschweife zu. „Ich war mit anderen Berittenen auf einem Erkundungsritt in Transysilien, wo wir auf ein Dorf trafen, das gerade von Schwarzen Rittern des Dunklen Herzogs niedergebrannt wurde. Die Schwarzen Ritter waren nicht das erste Mal dort, ihr Vater war Schwarzschmied und wurde wohl bezichtigt, den dem Tobrischen Widerstand zu unterstützen. Nach und nach wurde die Familie zu Tode gebracht, Thyria gefoltert und die Zunge herausgeschnitten. Als wir uns trafen, war sie die Letzte… auch im Dorf waren nicht mehr viele lebendig...“, Aeladir schluckte, als er in die düstere Erinnerung abglitt, die in rascher Folge schrecklichste Bilder heraufbeschwor.
„Fast wären wir tot gewesen, als ich gegen den letzten der Ritter zu unterliegen drohte, wäre sie nicht gewesen. Sie hat mich gerettet. Uns alle...“.
Nale nickte mitfühlend und versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln.
Erst als wieder die Stille im Zeltinneren spürbar wurde, blickte er Nale wieder an: „Warum liebt Ihr Fernando wie Eurer eigenes Blut?“
Die Frage hatte Nale nun wirklich nicht erwartet. Nachdenklich blickte sie ihren Gast an. Liebte sie denn Fernando wie ihr eigenes Blut? Sie hatte keine Kinder und die Liebe zu ihren Geschwistern, ihrem Vater und ihren andern Verwandten, darunter ihr Vetter, war eine andere als die, die sie ihrem Pagen entgegenbrachte, aber wie anders war sie denn genau?
„Mir ist durchaus bewusst“, gestand die Koscherin da ein, „dass viele behaupten, die Beziehung zwischen ihm und mir sei zu eng, geradezu mütterlich. Aber warum heißt es wohl ‚Pagenmutter‘ oder ‚Schwertmutter‘? Bedauerlicherweise ist es nicht allen Kindern vergönnt eine behütete Kindheit verbringen zu dürfen, eine Kindheit die von Liebe, Wärme und Zuneigung geprägt ist und dem Wissen, dass immer jemand da ist, der sie schützt, der sie hält und ihnen zuhört.“ Sie schluckte schwer und schien sichtlich betrübt. „Ja, so ist das...“.
„Niemandem von Adel ist dies vergönnt... diejenigen, die eine ritterliche Ausbildung erhalten, werden bereits mit 8 oder 9 Sommern zu anderen Häusern gegeben und unsere jüngeren Geschwister – oder wie bei mir Verwandten – etwas später zu den Geweihten. Selbst die meisten Edeldamen und Höflinge weilen zum eigenen Besten fern von der eigenen Heimat.
Eure Angst Fernando zu verlieren, ist nur allzu verständlich, wenn ihr ihm eine behütete Kindheit bieten wollt. Aber Ihr lauft Gefahr, doppelt zu leiden.“ Es war deutlich anzumerken, dass der Ritter der Meinung der Vielen zuneigte. „Die Götter mögen behüten, aber Ihr könntet Ihn vor der Zeit verlieren. Sicherlich werdet Ihr ihn allerdings freigeben müssen, wenn er den Ritterschlag von Euch dereinst empfängt. Wie wollt Ihr dann loslassen können, wenn er in die Welt hinaus ziehen will?“
„Es geht mir nicht ums Festhalten, sondern ums Bewahren“, versuchte sie zu erklären, aber hielt es für besser nicht weiter darauf einzugehen, „und so steht es für mich außer Zweifel, dass ich ihn eines Tages gehen lassen werde - Es gibt keinen Anfang ohne ein Ende! – es macht mir keine Angst und bereitet mir auch keinen Kummer. Vielleicht gerade weil bis dahin noch viel Zeit vergehen wird, vielleicht aber auch weil ich hoffe, das ich bis dahin eine eigene Familie haben werden, einen Mann, der mich unterstützt und eigene Kinder, um die ich mich zu sorgen habe.“ Damit schien das Thema für sie beendet. „Ich werde mir jedoch Eure Ratschläge zu Herzen nehmen“, versicherte sie ihrem Gast und nickte bekräftigend, doch hatte sie nicht vor, irgendetwas zu ändern, die Argumente kannte sie schließlich alle. Nale fand es zudem auch mehr als unverschämt, dass Aeladir sich das Recht herausnahm, sich in ihre Verpflichtung einzumischen, was sie sich zumindest noch nicht anmerken ließ.
Aeladir nickte. Sie war ein Sturkopf – soviel stand fest, aber hier und jetzt, gab es für ihn nichts weiter zu sagen. Er nahm einen großen Schluck Tee, verzog kurz das Gesicht, da er sich den Mund an der noch immer heißen Flüssigkeit verbrannt hatte und blieb schweigsam, da die Unterhaltung mit ihr heute unerquicklich war.
Dieses Mal ertrug Nale die Stille. Sie hatte ohnehin das Gefühl sagen zu können, was sie wollte, er würde ihr alles Übel nehmen, alles falsch verstehen und das schmerzte sie, auch wenn sie nicht genau verstand warum und es ärgerte sie auch, weil er sich das Recht herausnahm über sie zu urteilen ohne sie wirklich zu kennen. Nun waren sie also wieder am selben Punkt angelangt wie damals auf Wasserburg Eichstein. Gut, dachte sie, einen letzten Versuch will ich wohl unternehmen. „Was ist los mit Euch?“, wollte sie wissen und bedachte Aeladir mit einem weichen Blick, „Ihr könnt mir weiter grollen, dann brauchen wir aber nicht hier beieinanderzusitzen und uns anzuschweigen oder aber Ihr redet endlich!“ Erwartungsvoll schaute sie ihn an.
„Ich fühle mich zu Euch hingezogen, aber ich verstehe Euch nicht! Dieses Unvermögen Euch zu verstehen, macht es mir sehr einfach, meine Gefühle im Zaum zu halten – und letztlich tragt Ihr dazu bei: Ihr wollt mir ein Freund sein? Dann verhaltet Euch bitte auch wie einer. Weniger widersprüchlich und so, dass ich Euch und Eure Beweggründe verstehen kann. Schweigen mag ja dem Dunklen dienen, aber den meisten Menschen weniger – mit Ausnahme Eures Pagen“, nun hielt er inne.
Ungläubig schaute sie ihn an. Hatte er da gerade hingezogen gesagt? Er fühle sich zu ihr hingezogen? Erwartete er jetzt etwa auch eine Rahjasnacht mit ihr? Wollte er ihr jetzt etwa auch seine Liebe gestehen? Warum nur schienen alle Männer um sie herum ihren Verstand zu verlieren? So langsam begann sie zu glauben, dass es an ihr lag, aber was machte sie falsch?
„Es tut mir aufrichtig leid“, konnte Nale da nur entgegnen und zuckte geradezu verzweifelt mit den Schultern, „aber das... überfordert mich gerade… sehr sogar… und… und… warum nur zweifelt Ihr an… an meiner Freundschaft zu Euch?“
„Die Antwort ist einfach: Ich kenne Euch noch immer viel zu wenig. Erinnert Ihr Euch an daran, dass wir auf Eichstein gemeinsam die Turmtreppe hinaufgingen und Ihr sagtet: ‚...ihr maßt euch an, über einen fremden Menschen zu urteilen?‘
Dass wir uns recht fremd sind, daran hat sich bis heute nichts geändert, Nale. Noch immer haltet Ihr bestimmte Teile Eurer Vergangenheit vor mir verborgen, die mir sehr wichtig erscheinen, um Euer widersprüchliches Verhalten zu verstehen.
Nicht dass wir uns wieder falsch verstehen: es steht Euch natürlich zu, genau das zu tun – es ist Eure Entscheidung. Umgekehrt fällt es mir dann aber schwer, Euch Freund zu nennen, nur weil wir mit einander bekannt sind.
Nach meiner Meinung bedarf es Eurer Öffnung und eines Zeichens Eures Vertrauens, damit sich zwischen uns eine Freundschaft entwickeln kann. Und wer weiß - ich habe Euch ja gerade gesagt, was ich empfinde und Ihr denkt wohl über eine eigene Familie nach. Vielleicht könnt Ihr mich ja ebenso in Betracht ziehen wie den Baron – aber nochmal, das ist ganz Eure Entscheidung“, schloss Aeladir und fügte dann etwas heiser hinzu: „Da Ihr gerade von meinen Eröffnungen überfordert seid – wofür ich mich entschuldige – möchte ich mich zurückziehen, damit Ihr Zeit habt, abzuwägen… was Ihr selbst wollt.“
Er erhob sich und verbeugte sich.
Eilig stand sie auf, ergriff ihn am Unterarm, hinderte ihn so mit sanftem Nachdruck am Gehen und schaute ihn mit ihren blauen Augen an. „Ihr braucht Euch nicht zu entschuldigen“, erklärte sie, „die einzige, die sich hier zu entschuldigen hat, das bin ich – für mein Unvermögen, für meine Widersprüchlichkeit, für meine Art und Weise wie ich bin. Ich bin gewohnt, die Dinge mit mir selbst und den Göttern, vor allem mit dem Ewigen, auszumachen. Und natürlich werde ich irgendwann eine Familie gründen, aber jetzt kann und will ich mich weder damit beschäftigen, noch darüber nachdenken, denn ertrüge ich es nicht noch einmal, einen von Herzen geliebten Menschen zu verlieren, von dem mir doch nichts weiter bleibt als die Erinnerung, die flüchtige Erinnerung, die jeden Tag mehr und mehr verblasst, bis nichts mehr übrig ist, ganz so als hätte der andere nie gelebt...“
Langsam löste sie ihren Griff und wandte ihren Blick von ihm. „Deswegen binde ich die Menschen um mich herum so eng an mich, dass viele glauben, es sei zu eng – viel zu eng – weil ich nicht ertragen kann, sie zu verlieren!“
„Ihr trauert noch, da noch Liebe in Eurem Herzen ist“, ernst blickte Aeladir sie an. „Wer immer Euch in der Vergangenheit gewonnen hat, Mann oder Frau, ist zu beneiden, dass Eure Gefühle noch immer so stark sind, dass selbst die Lebenden nicht dagegen ankommen. Was ihr aber über die verblassende Erinnerung gesagt habt, halte ich für falsch.
Es mag Euch zwar so vorkommen, dass sie verblasst, aber diese andere Person ist noch immer in Eurem Herzen und wird es immer sein. Ihr seid so wie Ihr heute seid, da es den anderen gegeben hat und ihr Euch für ihn oder sie entschieden habt.
Das Leben ist doch wie eine Straße ohne Wiederkehr: Jede Abzweigung könnt Ihr nur einmal gehen und alles was Euch auf dem Weg begegnet, nehmt Ihr mit. Glück, Liebe und Trauer, Schmerz. Nichts davon ist gut oder schlecht, es ist einfach - und macht etwas mit uns.
Mir scheint, dass Eure Trauer so groß ist, dass sie Euch von der Liebe, die Ihr einst gespürt habt, abschneidet: auch wenn das Bild Eures Geliebten verblasst, so hätte er doch vermutlich nie gewollt, dass Ihr derart leidet. Das ist ein Schmerz, den Ihr Euch selbst zufügt. Wie ich bereits im Kosch zu Euch sagte: versucht bitte, die Trauer zu überwinden und den Verlust anzunehmen, zu Eurem eigenen Wohl und zum Besten Eurer Lieben. Denn wie Ihr selbst geschildert habt, bindet Ihr die Menschen so eng an Euch, und warum? Ich glaube aus Angst vor dem Schmerz und der Trauer.
Deshalb wünschte ich auch, ich könnte Euch Trost spenden, doch scheinen mir die Geweihten des Unausweichlichen dafür die Richtigen zu sein – einst hörte ich die Worte eines Ordensbruders: ‚Weint, weint ihr Menschen, und wenn ihr geweint habt, lächelt.‘ Damals habe ich es nicht verstanden, heute aber schon“, hoffnungsvoll drückte er ihre Hand und ließ sie dann sanft wieder los.
„Ja“, sagte sie nur erstickt, „all dies weiß ich und trotzdem… Von jemanden zu lassen, den man auf die eine oder andere Weise... geliebt hat, ist schwer, manchmal zu schwer, als das eine Seele wie die meine es ertragen könnte… und... auch wenn ich genug Beistand finden würde, so will ich ihn nicht!
Es gibt Dinge, die brauchen Zeit und manchmal brauchen sie eben mehr Zeit, man kann es nicht erzwingen! Und Zeit, so sagt man doch, heilt alle Wunden – meine hat sie auch nach all den Götterläufen nicht geheilt. Ja, es scheint mir gar so zu sein, dass besonders diejenigen gerne ihr Leben verlieren, die mir nahe stehen… als wäre... meine bloße Anwesenheit, der bloße Umgang, die bloße Nähe zu mir Grund genug, um sie aus ihrem Leben zu reißen...“
Sie hielt einen Moment inne, strich sich die nahenden Tränen aus den Augen und fuhr dann fort: „Deswegen sollte mir gerade jetzt niemand zu nahe kommen – niemand soll sein Leben für mich geben müssen und weder will ich jemanden im Kummer und Schmerz zurücklassen, noch soll jemand dies mit mir tun.
Und wenn das hier alles vorbei ist und ich noch immer mein Leben habe, dann will ich nach jemanden suchen, der mein Leben mit mir teilt – meinen Kummer und Schmerz genauso wie Freude und Glück – jemand, der mir den Halt und die Sicherheit bietet, die ich brauche, um vielleicht dann doch mit dem Vergangenen abzuschließen. Bis dahin jedoch soll es mir eine Mahnung sein...“.
Sie versuchte sich an einem aufmunternden Lächeln. „Ein jeder von uns hat die Last seiner Vergangenheit zu tragen.“
„So ist es“, pflichtete Aeladir bei. „Doch ich hoffe, Ihr könnt es zukünftig etwas hoffnungsvoller.“ Er legte eine kurze Pause ein und fuhr dann fort: „Seid herzlich bedankt für das traviagefällige Mahl und die Aussprache, doch ich werde Euch nun verlassen. Möge Euch Marbo segnen und Rondra lenken, Nale.“ Diese nickte nur.
„Ich wünsche eine gute Nacht.“
„Das wünsche ich Euch auch!“, erklärte sie nun und fügte mit leiser Stimme hinzu: „Aber vergesst nicht, wer damals auf Wasserburg Eichstein an Eurem Bett saß - so was tut man nicht für einen Fremden… Und jetzt geht um kümmert Euch um die Euren – sie brauchen Euch!“