Der Willen der Götter - und dem Erhören
Unweit des Schlosses Libellensee, Boron 1043
„Sie wird nicht kommen, nicht wahr?“, Zorans Stimme klang brüchig.
Olja von Pul stieg in den Sattel und bestätigte: „Sie wird nicht kommen. Hochgeboren fällt der Abschied schwer.“
Da schluckte der Knabe und erwiderte etwas anklagend: „Mir doch auch.“
„Sie hat ihr Kind verloren. Nun verliert sie Dich“, brachte es die Geweihte auf den Punkt, „Gib ihr Zeit. Ganz gewiss wird sie Dir schreiben.“
„Ich kann aber nicht richtig lesen“, gestand Zoran beschämt ein, „und auch nicht richtig schreiben.“
„Dann wird dies Deine erste Prüfung sein“, erwiderte die Pulerin entschlossen, „Es wird nicht die letzte bleiben. Jeden Tag prüft uns unsere Herrin, ob wir Ihr und Ihrem Dienst auch wirklich würdig sind.“
„Ich dachte immer Rondra-Geweihte kämpfen?“
Laut lachte sie: „Dann wären wir ja nicht viel mehr als bloße Söldner! Nein, nein, Zoran, wir sind viel mehr. Wir sind das Gewissen der Ritterschaft. Wir mahnen. Wir erinnern. Wir sind Vorbild. Wir schützen. Wir dienen. Wir kämpfen – mit Waffen und auch ohne – um jede einzelne Seele.“
Mit großen Augen schaute der Knabe die Knappin der Göttin an, eher er nickte und schließlich auch in den Sattel stieg. Einige Zeit ritten sie schweigend nebeneinanderher.
„Ich weiß, wer es war“, hob Zoran da plötzlich an, „Ich weiß, wen ich da gesehen habe.“
Olja von Pul zuckte ein kaum merkliches Lächeln über die Lippen bevor sie vielsagend erwiderte: „Gut.“
„Soll ich...“, der Knabe hielt einen Moment inne und blickte recht verunsichert drein, „... soll ich‘s... sagen?“
„Nur zu“, forderte die Geweihte ihn auf.
„Es war…“, stammelte der Knabe sichtlich nervös, „Ich glaube... Also... ich denke... War es vielleicht... vielleicht Baduar vom Eberstamm?“
„Was meinst du mit vielleicht?“, hakte die Pulerin nach, „War er es oder...“ Sie fixierte ihren Gegenüber. „... war er es nicht?“
„Ich...“, der Mendener schluckte schwer, „Er war es.“
„Und wie kommst Du darauf?“
„Euer Vademecum. Es gibt einen Eintrag zu ihm. Fernando hat ihn mir immer wieder vorgelesen, inzwischen kann ich ihn auswendig. Es war seine Waffe. Dieser Speer war seine Waffe. Ein magischer Dämonenspeer“, der Knabe hielt einen Moment inne, „Ich habe Fernando nichts gesagt, weil... weil... er ist doch der erst Ritter und... und Stammvater aller koscher Fürsten und... und ein Heiliger der Rondra und... und überhaupt eine Legende! Versteht Ihr? Warum sollte er da mir... ausgerechnet mir... erscheinen?“
„Warum denn nicht?“, wollte Olja da wissen, „Glaubst Du denn, dass er sich weigern würde, einem Knaben zur Seite zu stehen, wenn ihn seine Herrin ausschickt?“
„Rondra... Rondra selbst hat ihn geschickt?“, ungläubig blickte er die Geweihte an.
„Wer sonst sollte es gewesen sein?“
„Rondra selbst hat... ihn geschickt?“, wiederholte Zoran noch weitaus ungläubiger.
Ein vielsagendes Lächeln legte sich über die Lippen der Pulerin. Sie ließ ihren Blick schweifen und er blieb an etwas hängen oder viel mehr an jemanden. Da wurde ihr Lächeln noch breiter.
„Schau“, machte sie den Knaben aufmerksam, „Dort!“
In geraumer Entfernung auf einem Hügel, viel zu weit entfernt um genaueres erkennen zu können, hatte sich unter dem wehenden Banner der Baronie Greifenpass eine Gruppe Reiter versammelt, darunter auch...
„Herrin Nale!“, rief der Mendener mit glitzernden Augen. Erschrocken machte sein Pferd einen Satz nach vorne. Olja griff in die Zügel, hielt das nervöse Tier zurück. „Herrin Nale!“, Tränen begannen über seine Wangen zu rinnen, „Herrin Nale!“