Bewährungsprobe am Trolleck - Entscheidung auf der Zwietrutz
Das Trolleck im Ingerimm 1033 nach Bosparans Fall
Trest von Vardock hing am Fels, als ob er nie etwas anderes gemacht hätte. Ruhig und bedächtig kletterte er den Fels hoch.
Sie hatten lange damit zugebracht alle eisernen Gegenstände mit Stofflappen zu umwickeln, bevor sie sich an den Aufstieg gemacht hatten. Ihre Sorge schien unbegründet zu sein. Die Wachen würden sie nur bemerken, wenn sie direkt auf sie blicken würden, aber das würden sie wohl kaum tun, denn Hernobert von Falkenhag ließ seine Leute zum Sturmangriff antreten.
Quälend langsam kletterten sie den Fels hinauf. Was bei Tag für einen halbwegs geübten Kletterer kein Problem gewesen wäre, wurde nun zu einem Albtraum.
Sie hatten eine Seilschaft gebildet, aber wenn es ganz schlimm kommen würde, würden sie alle in den Abgrund stürzen. Baltram von Eichental schwitzte trotz der Kühle des Frühlingsabends. Er wäre lieber daheim auf seinem Gutshof, anstatt hier mitten in der Nacht an einer Bergwand hoch zu klettern. Er hatte sich dem Heerzug angeschlossen, um seinem Onkel, Baron Erlan von Sindelsaum, Bericht zu erstatten. Bisher hatte er sich immer erfolgreich im Hintergrund gehalten, aber als Erbvogt Hernobert ihn direkt angesprochen hatte, ob er sich nicht als gebirgserfahrener junger Ritter dem Unternehmen von Trest anschließen wolle, hatte er keine Wahl gehabt.
Trotz seines leichten Bauchansatzes war er das Klettern gewohnt. Er war zahllose Male auf den Zapfen, den Grauenstein, den Firunszacken, oder einen der vielen anderen Berge in seiner Heimat geklettert.
Nun war er der letzte in der Seilschaft und betete stumm zu Firun, dass seine Vorderleute wussten, was sie taten. Solange niemand Dummheiten anstellte, würde es kein Problem sein, den Abhang zu erklimmen. Mehr Sorgen bereitete ihm schon, was danach kommen würde. Um die Kletterei zu bewältigen trug keiner von ihnen mehr als einen leichten Lederpanzer, oder einen Gambeson. Auch seinen Schild hatte Baltram am Fuße des Berges zurückgelassen. Nun blieben ihm nur noch sein Schwert und die Armbrust, welche er sich über die Schulter geschlungen hatte.
Von Burg Trolleck klangen Rufe und Waffenklirren herüber. Der Kampf hatte dort also schon begonnen. Auch vor Zwietrutz hörte er Rufe, aber noch hatte die gewaltsame Auseinandersetzung hier nicht angefangen.
Als sie endlich den Fuß der Mauer erreichten, war Baltram völlig außer Atem, aber sie waren noch vollzählig und der Feind schien nichts bemerkt zu haben. Die Gruppe ruhte einen Moment aus und wartete auf einen besonders lauten Austausch von Rufen, um einen Sturmhaken über die Mauer zu werfen. Trest von Vardock erkletterte die Mauer als Erster, Baltram bildete den Abschluss.
Oben angekommen blickte er sich rasch um. Die Verteidiger hatten sich an der dem Burgweg zugewandten Seite versammelt. Ein einzelner Posten stand auf dem Bergfried und ein weiterer davor.
Gerade brüllte ein stämmige Frau Drohungen zu Erbvogt Hernobert herunter. Sie zeigte auf die Burg Trolleck.
”Dafür knüpfen wir die Erste auf. Wagt euch nicht an die Burg heran, oder es folgen noch mehr.”
Zwei ihrer Bewaffneten taten wie ihnen geheißen wurde und beförderten eine Magd über den Rand des Torhauses. Baltram meinte ihr Genick brechen zu hören, aber das war wohl nur Einbildung.
”Komm”, flüsterte einer der Vardocker Waffenknechte ihm zu und er riss sich von dem Anblick los. Trest und der Rest der Gruppe huschten auf den dritten Burgturm zu, als der Posten auf dem Bergfried sie entdeckte.
”Eindringlinge!” rief er und sofort waren alle Augen auf die acht Streiter gerichtet.
”Macht sie fertig!” brüllte die stämmige Frau und die Hälfte ihrer Verteidiger wandten sich um und rannten auf Trest und seine Gefährten zu, oder schossen ihre Armbrüste auf sie ab.
”Dafür knüpfen wir gleich zwei auf!” brüllte die stämmige Frau. ”Ihr dort zieht euch zurück, und ihr Eindringlinge ergebt euch, oder wir knüpfen jeden Gefangenen auf, den wir haben, bevor ihr auch nur daran denken könnt, die Burg einzunehmen.” Bei diesen Worten hielt sie einen schreienden Jungen über die Mauer.
”So edle Ritter, und doch ist euch das Blut Unschuldiger egal?” schrie sie fast verzweifelt. Die Frau hatte sich offensichtlich darauf verlassen, dass die Belagerer nicht angreifen würden, um ein Blutbad unter den Gefangenen zu vermeiden.
Die Gruppe der Eindringlinge hetzte dessen zunächst ungeachtet Richtung Burgturm. Es war allen klar, dass sie auf offener Ebene keine Chance gegen die Übermacht der Räuber hatten. Jedoch erreichten sie den rettenden Turm nicht unbeschadet. Kurz vorher schrie einer der Ritter, Eichbart war wohl sein Name, laut auf.
Es hatte jetzt ohnehin keinen Zweck mehr, leise zu sein, da sie bereits entdeckt worden waren. Daher dachte Boronar vom Kargen Land nicht schlecht von ihm, sondern sah sich direkt an, was diesen getroffen hatte. Ein Armbrustbolzen hatten sein Bein gestreift und offensichtlich eine empfindliche Wunde ausgelöst. Die letzten Schritte hinkte Eichbart mit schmerzverzerrtem Gesicht in Deckung.
Damit war klar, dass ein schneller Ausfall Richtung Burgtor unmöglich war, wollte man den Verletzten nicht opfern.
"Heiliger Argelion!", dachte Boronar, "was ist wohl jetzt am besten zu tun? Verbleiben wir im Turm, können wir uns wohl eine Weile aussichtsreich verteidigen. Allein unsere eigentliche Mission werden wir nicht erfüllen können. Stürmen wir hervor, um Hernobert und den anderen das Tor zu öffnen, riskieren wir, alle getötet zu werden - und umsonst zu fallen, denn wir haben das Überraschungsmoment nicht mehr auf unserer Seite und eine mehrfache Übermacht steht gegen uns."
Derweil antwortete Trest von Vardock der Anführerin der Räuber: "Wir ergeben uns nicht! Wir sehen ja, wie Ihr mit Euren Gefangenen umgeht! Dann lieber durch einen Schwertstreich sterben mit der Aussicht, noch einen von Euch Räubergesindel mitzunehmen! Und was appelliert Ihr an unsere Ehre als Ritter? Wenn Ihr Ehre habt, dann stellt Euch in einem ehrlichen Zweikampf mit mir! Dem Gewinner ergeben sich die anderen."
Man mochte von Trest von Vardock halten, was man wollte: Seine Worte verfehlten zumindest bei den seinen nicht ihre Wirkung. Die anderen sieben Rechtschaffenen nickten grimmig. In dieser Situation war Trest kein eitler Schwätzer. Er warf sein Können selbst in die Waagschale.
Auch bei den Gesetzlosen schien sich etwas abzuspielen.
"Vielleicht ist das wirklich eine gute Idee, Leta. Immerhin verhindern wir damit unnötige Verluste auf unserer Seite und..."
Ein Klatschen unterbrach die Männerstimme. Offenbar hatte Leta einem ihrer Verbündeten eine schallende Ohrfeige verpasst.
"Bist Du verrückt? Ich soll mein Leben riskieren, wo wir die paar Gestalten bereits im Turm festgesetzt haben? Wir sind in der Überzahl, Melcher! Und überhaupt, was fällt Dir ein, Dich hier einzumischen? Ich habe hier das Kommando!"
Der Angesprochene trollte sich, die Wange reibend.
"Ich bin nicht aus dem Steinbruch vor den Peitschenhieben geflohen, um mich hier erneut demütigen zu lassen", murmelte er, doch konnte es keiner hören, der nicht in nächster Nähe stand.
In der Zwischenzeit hatten einige übereifrige Räuber versucht, die in den Turm Geflüchteten anzugreifen, diesen Versuch jedoch mit ihrem Leben bezahlt. Es bestätigte sich, was den Taktikern auf beiden Seiten ohnehin von Anfang an klar gewesen war: Den Turm nahm man schwer ein, aber man brach auch nicht leicht aus ihm heraus.
Als die Anführerin Leta den Befehl gab, die nächsten beiden Geiseln hinzurichten, zuckten die Schlächter von Bolzen getroffen zusammen. Während einer noch einen Todesschrei ausstieß, fiel der anderen stumm über die Burgmauer. Jetzt zahlte sich aus, dass Trest von Vardock auf einige gute Schützen unter seinem Kommando bestanden hatte.
Während die gewöhnlichen Räuber verunsichert waren und Deckung suchten, schlachtete Leta ohne mit der Wimper zu zucken die beiden Geiseln ab. Als sie dem Jungen den Kopf abschlug, lachte sie verächtlich:
"Na, was nützt Euch jetzt Euer Ehrenkodex? Welchen Unterschied macht all Euer Können? Nichts! Daher sage ich noch einmal: Ergebt Euch, um weiteres Blutvergießen zu verhindern!"
In diesem Moment ließ ein dumpfes Poltern die Tore erschüttern. Offenbar waren die Belagerer nicht untätig gewesen und hatten zumindest einen behelfsmäßigen Rammbock fertiggestellt, mit dem sie nun auf die harte Tour gegen das Tor anrannten.
Leta war irritiert - doch nur für einen Moment. Sie wäre nicht Anführerin geworden und geblieben, wenn sie sich von unerwarteten Situation hätte aus der Ruhe bringen lassen.
"Bogenschützen zum Angriff! Steine auf die Belagerer!"
Während die Räuber emsig ihre Befehle befolgten, nahm sie sich die nächste Geisel, eine junge Frau, und setzte ihr einen Dolch an die Kehle.
"Und Ihr da oben, ergebt Euch, oder ihr Blut wird an Euren Händen kleben!"
Baltram von Eichental und der verletzte Eichbart sahen sich mit ernsten Gesichtern an. Sie hatten möglichst viele Geiseln retten wollen - und nun würde wahrscheinlich das Gegenteil eintreten.
"Wir wussten, worauf wir uns einlassen", deutete Boronar vom Kargen Land ihre Mienen richtig. "Es ist wahrlich nicht angenehm, zu erleben, wie Rechtschaffene gemeuchelt werden. Aber wir wissen auch, mit welchen götterlosen Verbrechern wir es hier zu tun haben. Wir müssen hier aushalten, damit wir ein wenig Aufmerksamkeit auf uns ziehen, während die Hauptstreitmacht gegen das Tor anrennt. Vielleicht sind wir das Zünglein an der Waage!"
"Wacker gesprochen!", lobte Trest von Vardock, während draußen der Kampflärm anschwoll. Er klopfte einem seiner Waffenknechte auf die Schulter.
"Solange wir noch Bolzen haben, werden wir diesen Strauchdieben die Verteidigung gehörig schwer machen!"
Dass die acht Recken keine schweren Rüstungen trugen, spielte jetzt keine Rolle. Sie würden ohnehin nur aus der Ferne mitmischen können.
Unten vor dem Tor flogen den gräflichen Truppen inzwischen die ersten Steine und Pfeile um die Ohren. Diese Schüsse und Würfe waren in aller Hektik abgegeben worden, so dass sie nicht trafen. Jedoch war allen klar, dass sich das bald ändern würde.
Umgekehrt schossen einige der Angreifer zurück, als sich die Zinnen zu sehr mit Gesetzlosen füllten. Einer fiel zu Tode getroffen um; die anderen zögerten, die Reihe zu schließen.
"Ihr verdammten Feiglinge!", tobte Leta. "Wenn Ihr nicht spurt, bekommt Ihr es mit mir zu tun! Und glaubt mir, das ist nicht die angenehmere Wahl!"
Während sie einige Kämpfer grob nach vorne schubste, nutzte die Geisel einen Moment der Unaufmerksamkeit und riss sich los, ins Innere der Burg fliehend. Nun gab es keinen Grund mehr für die im Turm befindlichen Kämpfer, sich zurückzuhalten. Zwei Räuber, die Körbe mit neuen Steinen heranschaffen wollten, wurden kurzerhand erledigt. Der Nachschub geriet ins Stocken.
Leta fasste einen grimmigen Entschluss. Sie rechnete damit, dass es einige Zeit dauern würde, bis die Armbrüste erneut gespannt wären. Wenn, dann war jetzt die beste Gelegenheit... sie packte unbeeindruckt den Bogen, den der getötete Bogenschütze fallengelassen hatte, stellte sich so geschickt, dass einige ihrer Streiter ihr Deckung boten, und suchte eine bestimmte Person in dem Getümmel vor Burg Zwietrutz.
Als sie gefunden hatte, was sie suchte, lächelte sie bösartig, zielte konzentriert und schoss kaltblütig einen Pfeil ab.
Hernobert von Falkenhag, der den Angriff koordinierte, hörte nur kurz ein Surren in seiner Nähe und dann einen stechenden Schmerz in seinem rechten Oberschenkel. Er knickte um, während die Männer und Frauen neben ihm entsetzt aufschrien.
"Der Erbvogt ist getroffen!" - "Aus dem Schussfeld mit ihm, schnell!" - "Rückzug!"
Ohne einen einsatzfähigen Anführer fehlte den gräflichen Kämpen die ordnende Hand, um den Angriff effektiv zu machen.
Einige der Ritter hätten sich den Oberbefehl wohl zugetraut, doch keiner mochte ohne weitere Unterstützung wieder angreifen. Die Räuber in Burg Zwietrutz mochten ihrerseits keinen Ausfall wagen. Dafür flogen die Armbrustbolzen entschieden zu zielgenau. Leta sah selbst keinen Sinn darin, weitere Geiseln hinzurichten. Von den Angreifern draußen schaute ohnehin keiner her, der sich hätte abschrecken lassen. Außerdem hätte sie sich selbst ins Schussfeld begeben - wenn sie die Leute im Geheimen umbrächte, würde sie niemanden einschüchtern. Und ganz ohne Geiseln müssten die Grafentreuen keine Rücksicht mehr bei ihren Angriffen nehmen. Eine Pattsituation war entstanden.
Sie löste sich, sobald das behelfsmäßige Banner der Grobhands von Koschtal auf Burg Trolleck wehte. Es wäre vielleicht klüger gewesen, dies nicht gleich laut kundzutun, doch den gräflichen Streitern fiel eine solch schwere Last von den Schultern, dass sie in lautes Jubelgeschrei ausbrachen. Als die berittenen Räuber von Burg Trolleck flohen, blieben sie zwar außer Reichweite der Bogenschützen, wurden aber dennoch bemerkt. Nun schöpften alle neuen Mut.
"Wenn sich die Truppen wieder vereinen, schlägt diesen Halsabschneidern das letzte Stündlein!"
"Wir haben da drüben doch einen guten Heiler - vielleicht kann der Hernobert von Falkenhag wieder schnell auf den Damm bringen."
"Hoffentlich halten die unsrigen oben im Turm durch!"
Als die Verbündeten abgerückt waren, war der Mut der Eingeschlossenen gesunken.
"Nur Mut, Kameraden!", versuchte Trest von Vardock die anderen aufzumuntern. "Solange wir noch bei Kräften sind, werden wir uns so teuer wie möglich verkaufen!"
"Noch ist nichts entschieden", stimmte Baltram von Eichental zu, kam sich selbst dabei jedoch wenig überzeugend vor.
"Wir sollten uns abwechselnd ausruhen", schlug Eichbart vor. "Dann sind möglichst viele von uns frisch, wenn es darauf ankommt."
"Ein guter Vorschlag! Werter Eichbart, Ihr habt die Ruhe am nötigsten. Der Ritter vom Kargen Land und ich halten derweil Wache."
Boronar folgte dem Befehl des Vardockers. Während dieser nach draußen blickte, schickte Boronar ein stumme Bitte zu seinem Lieblingsheiligen.
"Heiliger Argelion, lass es nicht umsonst gewesen sein, was uns acht hier im Turm heute geschieht!"
Eine schier endlose Zeit lang geschah nichts. Dann rief Trest freudestrahlend aus: "Bei den Zwölfen, Burg Trolleck ist unser!"
Boronar hastete an seine Seite, um es selbst zu sehen, während die anderen erwachten und schnell aufstanden.
"Jetzt kann es nicht mehr lange dauern.", nickte Baltram, der neuen Mut gefasst hatte.
Als die Truppen von Burg Trolleck heranzogen, dachte Hernobert von Falkenhag zuerst, er wüsste schon, wem er das Kommando geben würde. Doch Dorinde von Cellastein wurde als gefallen gemeldet und Angbart von Salzmarken-See und Gero vom Kargen Land, denen er den Oberbefehl sonst hätte geben können, waren beim Grafen zurück auf Burg Trolleck geblieben.
Auch war der Heiler nicht anwesend, der ihn vielleicht wieder so hätte herrichten können, dass er selbst wieder die Truppen hätte anführen können. Die Sache schien verfahren.
Da traten zwei der Moorbrücker Neusiedler vor, die auch schon dem Kriegsrat beigewohnt hatten. Sie waren beide noch etwas jung, doch hatten sie schon im Osten gekämpft und den Schrecken des Krieges gesehen. Hernobert von Falkenhag gab kurzerhand Roban Grobhand von Koschtal den Oberbefehl; immerhin war es das Banner seiner Familie gewesen, das über Burg Trolleck das Räuberbanner abgelöst hatte. Außerdem schien ihm der Ritter ohnehin nicht allzu sehr zu bändigen zu sein. Hoffentlich wusste er, was als Anführer von ihm erwartet wurde, und rannte nicht ungestüm mit dem Kopf gegen die Wand.
Den anderen Ritter, Reto von Tarnelfurt, ernannte der Erbvogt zum Stellvertreter. Damit würden die Truppen zumindest nicht kopflos, falls diese Räuberanführerin wieder einen gezielten Schuss abgab. Der Graf angeschlagen, Dorinde tot, und er selbst außer Gefecht gesetzt.
"Ihr Zwölfgötter, was gebt Ihr uns für schwere Prüfungen mit auf den Weg!", dachte sich Hernobert, während sich die nunmehr vereinten Streitkräfte des Grafen gemeinsam Burg Zwietrutz zuwandten.
Die Räuber wussten, welche Stunde ihnen nun geschlagen hatte, denn auch sie hatten den Bannerwechsel auf Burg Trolleck und die Flucht zu Pferde der dortigen Anführer mitbekommen. Sie warfen nun alles in die Schlacht, was ihnen noch zur Verfügung stand, Armbrustbolzen aus dem Turm hin oder her.
”Weiter! Nicht nachlassen!”
Wieder und wieder krachte der improvisierte Rammbock – eigentlich nur ein Baum mit ein paar daran genagelten Lederriemen – gegen das Tor. Aber im Kosch baute man seit jeher überaus solide, und das Burgtor von Zwietrutz machte da keine Ausnahme.
Immerhin hatte man sich einigermaßen gegen die Angriffe von den Zinnen geschützt. Was auf Burg Trolleck dafür geeignet schien, war kurzerhand mitgenommen worden, und jetzt hielten die Angreifer nicht nur Schilde, sondern auch Tischplatten und komplette Türen über ihre Köpfe, auf die nichtsdestrotrotz ohne Pause Steine, Pfeile und Bolzen hinab prasselten.
”Ewig können wir uns hier nicht halten!” brüllte Reto von Tarnelfurt über den Lärm des Kampfes hinweg. Er stand direkt neben Roban, den Schild über den Kopf, und schielte vorsichtig an diesem vorbei nach oben. Ein knirschendes Geräusch ließ ihn die Deckung aber gleich wieder hochnehmen.
Roban starrte etwas betreten auf den Armbrustbolzen, der sich direkt vor seiner Nase durch die Tischplatte gebohrt hatte, die er mit einem Spießgesellen als Schutz trug.
”Da hatte die Herrin Rondra mal wieder den Daumen dazwischen”, murmelte er mehr zu sich selbst, gab im Stillen aber Reto recht. Ewig würde sie nicht Glück haben. Schon einige ihrer Streiter waren getroffen worden, und irgendwann würden zu viele verwundet oder gar tot sein, als das man das Tor noch länger hätte berennen können. Es musste etwas passieren.
Sein Blick ging an Reto vorbei. Dort lag ein regloser Körper in den Kleidern einer einfachen Magd. Kaum zwanzig Sommer mochte sie gezählt haben, als ihr Leben am Fuß der Mauern endete. Noch so ein junges Leben für nichts vergeudet. Wie oft hatte er das schon gesehen?
”Wir müssen ihre Verteidigung irgendwie aushebeln!” brüllte Reto und riss ihn damit aus seiner dumpfen Grübelei. Roban starrte ihn an wie eine Erscheinung.
”Helke, halt das mal!” rief er dann, zerrte eine der Spießgesellinnen an seinen Platz und eilte davon, zunächst in kurzen Sprüngen von Deckung zu Deckung, dann aufrecht und im gestreckten Galopp bergab.
”Was ist denn in den gefahren, Wohlgeboren!” fragte Helke und blickte dem Ritter hinterher. ”Der wird doch nicht kneifen?”
”Ein Koscher Ritter kneift nicht!” fuhr Reto sie so laut an, dass sie erschrocken zusammen fuhr und die Tür für einen Moment so schief hielt, dass ein von der Mauer geworfener Stein vor ihre Füße kullerte.
”Wenn der Herr Grobhand von Koschtal zum Lager zurück kehrt, so hat er einen guten Grund dafür!”
Reto blickte dennoch etwas skeptisch drein, während Helke eine rasche Entschuldigung murmelte. Hoffe ich zumindest, fügte er in Gedanken hinzu.
Alles brannte an diesem Tag. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel. Der Schweiß brannte in Robans Augen. Seine Lungen brannten mit jedem Atemzug, und seine Füße bei jedem Schritt. Dennoch lief er nicht langsamer, trieb mit atemlos gekeuchten Rufen die Fuhrknechte an, die er beim Troß mit Flüchen und Fußtritten zusammen getrieben hatte. Er selbst schleppte neben seinen Waffen eine schwere Spitzhacke, die Knechte einen großen Sägebock, mehrere schwere Kisten und einen mannslangen, mit Eisenringen verstärkten Balken.
Völlig außer Atem erreichte er erneut den Heerhaufen vor dem Torhaus. Hinter ihm schrie einer der Fuhrknechte auf, als ihn ein Pfeil in den Bauch traf.
”Macht Platz! Weg mit dem Rammbock!” schrie Roban mit sich fast überschlagender Stimme. Die Leute starrten ihn an, als sei er den Noioniten entsprungen. Nur zögernd ließen die vordersten Streiter den Rammbock sinken.
”Weg mit dem Ding, sonst fresst ihr es!” herrschte er sie an. Verwirrte und unwillige Blicke trafen ihn, als er unter dem schirmenden Dach bis an das Tor trat.
Noch ungläubiger starrte man ihn an, als er die Hacke schwang und die schwere Stahlspitze mehrfach in das Holz trieb. Es dauerte einige Schläge lang, bis erste Stücke heraus brachen.
”So braucht Ihr Tage!” rief jemand hinter ihm, doch er achtete nicht darauf. Rasch blickte er durch das erste kleine Loch.
Zu hoch.
Noch einige Male krachte Stahl gegen Holz, dann endlich lag die Öffnung genau richtig. Mit weiteren Hieben vergrößerte Roban das Loch im Tor. Keine Sekunde lang dachte er an den Geschosshagel, der von oben auf die Angreifer prasselten. Die gelegentlichen Schreie der Getroffenen hörte er kaum.
”Das Zeug nach vorn! Die Kisten hierhin”, er deutete schwer atmend auf zwei Stellen vor dem Tor, ”den Bock drauf, dann den Balken durch die Lücke!”
Jetzt endlich erhellten sich die ersten Gesichter. Eilig stapelte man die Kisten, setzte den Bock darauf, wuchtete den Balken durch die Öffnung, unter den Riegel hinter den Torflügeln.
”Zugleich!” klang es aus den Reihen jener, die sich mit aller Kraft an den Balken hängten, doch so sehr man auch zog, der Riegel rührte sich nicht.
Dafür rührte es sich umso mehr auf den Zinnen.
Warnrufe erklangen, dann klatschte etwas dickflüssiges hinab unter die Leute, die am Balken hingen.
”Öl!” schrie jemand panisch. Roban starrte auf seinen Arm, wo ihn ein tüchtiger Schwall getroffen hatte. Er erwartete mörderische Hitze, die ihn erbarmungslos versengen wollte – aber sie kam nicht. Die Brühe war allenfalls handwarm. Auch die anderen Getroffenen hatten das bemerkt. Unsicheres Grinsen, hämisches Gelächter machte sich breit.
”Anfänger!” ”Vollidioten!” ”Typisch Außerkoscher!” klang es aus den eigenen Reihen, und schon stemmte man sich wieder in den Balken. Dieses Mal schien der Riegel sich ein wenig zu bewegen.
”Noch einmal!” schrie Roban, als erneut ein Warnruf erklang.
”Weg! ALLE WEG!” Die Stimme des Tarnelfurtes überschlug sich vor Schreck.
Roban warf sich einfach zur Seite. Etwas prasselte wie Kieselsteine auf ihr Schutzdach, und wo es auf das zuvor herab gefallene Öl traf, züngelten sofort Flammen empor. Glühende Holzkohle war es, die von den Zinnen geschüttet wurde.
Keine zwei Sekunden vergingen, und zwei schreiende Körper waren fast völlig in Flammen gehüllt, schlugen um sich, auf zahlreichen anderen tanzten kleinere Brände auf den Kleidern, den Haaren, der gesamte Bereich vor dem Torhaus war ein einziges Flammenmeer.
Panik griff um sich, und es war nur Reto von Tarnelfurt zu verdanken, dass sie nicht um sich griff. Mit seinem Mantel erstickte er die Flammen bei einem der brennenden Männer, andere taten es ihm gleich.
”Lampenöl!” sagte Roban leise mit einem Blick auf die Zinnen. Von wegen Anfänger.
”Wieder ran!” kommandierte er, als die letzten Flammen erstickt waren. Erst zögernd, dann entschlossen gingen die Waffenknechte erneut zu Werk.
Doch auch der Feind blieb nicht untätig. Statt Öl und Holzkohle waren es jetzt wieder Pfeile, die eingesetzt wurden.
Neben Roban schrie Helke auf, als sich ein Geschoss in ihre Schulter bohrte. Der Mann vor ihm erstarrte in der Bewegung, als ein Pfeil fast senkrecht in seinen Schädel schlug. Das Gedränge am Balken verhinderte, dass man das Schutzdach über ihnen wirklich schließen konnte.
Aber das half jetzt alles nichts. Wo einer der ihren fiel, trat ein weiterer an seine Stelle. Man zog und zerrte an dem Balken, und mit jedem Mal schien der Riegel sich weiter zu heben.
Dann endlich gelang es: immer weiter drückten sie ihren Hebel hinab, trotz der Versuche der Belagerten, den Riegel im Inneren fest zu halten.
Mit einem Mal verschwand das Gegengewicht, polternd fiel der Riegel, und mit ihm purzelten jene zu Boden, die auf der anderen Seite am Balken gehangen hatte.
Jubel wollte aufbranden, ebbte aber sofort wieder ab, als die Schützen von der Mauer herab zwei der am Boden liegenden trafen. Dafür drängten die ersten gegen die Torflügel, drückten sie nach innen auf.
”Halt!” Roban wollte aufspringen, die Vorstürmenden zurück halten, aber es war zu spät. Kaum, dass die Flügel aufschwangen, flogen schon Pfeile und Bolzen aus dem Inneren und hielten erneut blutige Ernte in ihren Reihen.
”Die Deckung runter!”
Die nächsten Geschosse prallten an ihrer Wehr ab, unter der sie jetzt vorrückten. In der Enge des Torhauses kamen sie nur langsam voran. Aber sie kamen voran!
”Jetzt seid ihr fällig! Auf Golgari sind Plätze für euch frei – und wir werden euch beim Aufsteigen helfen!” rief Roban in den Burghof.
Heute waren einige Rechnungen fällig, und er würde sie eintreiben helfen!
”Dann hoffe ich, dass ihr unser Begrüßungsgeschenk angemessen findet!” erwiderte eine höhnische Frauenstimme, die Roban schon mal gehört hatte.
Der Hinterhalt am Fluss! Dieses Weib hatte Befehl gegeben, auf Answein zu schießen. Etwas prallte dumpf gegen seinen Schild. Instinktiv hielt er ihn etwas höher. Sein Blick fiel auf das, was dagegen geprallt war.
Ausdruckslose Frauenaugen blickten ihn an. Wo der Hals in die Schultern übergehen sollte, war nur ein blutiger Rand.
Die Welt schien hinter einem roten Vorhang zu verschwinden. Mit einer fast bedächtigen Bewegung ließ Roban die Riemen des Schildes vom Arm gleiten und zog den Hammer aus dem Gürtel. Sein Blick richtete sich auf die Frau, die für all dieses Elend verantwortlich war, inmitten der ihren, bereit, ihre Haut so teuer wie möglich zu verteidigen. Zu ihren Füssen lag noch der kopflose Körper.
Glühender Zorn brannte alle Angst, alle Zweifel aus seinem Inneren, als er die Waffen hochriss.
”DÛR KOSCHIMA BOROD EGRAI!”
Er stürmte los.
Graf Wilbur wusste kaum wie ihm geschah, als er den Berghang des Trolleck herunter sprengte und sein Ross dann gen Zwietrutz wandte. Von seiner alten Angst war nicht mehr viel zu spüren. Wilbur genoss das Gefühl von Freiheit. Von irgendwoher packte er ein Banner und preschte an den Reihen seiner überraschten Streiter vorbei, die gerade dabei waren, durch das Tor zu stürmen.
”Auf ihr Koscher, stolz voran!” rief Wilbur heiser und die Männer und Frauen nahmen seinen Ruf sofort auf. Dass der sonst so verzärtelte Graf mit wehendem Banner an ihnen vorbeipreschte, heizte den Kampfeswillen des Waffenvolkes sichtlich an.
"Der Graf reitet in die Burg! Jetzt gilt es oder nie!", rief Trest von Vardock, legte die Armbrust ab und zog sein Schwert. "Wer kann, mir nach!"
Mit diesen Worten stürmte er aus dem Turm heraus ins Getümmel. Die anderen folgten ihm - bis auf Eichbart, der aufgrund seines verwundeten Beines nicht laufen konnte. Er hielt die Stellung und spannte weiterhin seine Armbrust, um wenigstens noch die letzten Bolzen für die gute Sache zu verschießen, wenn er schon nichts anderes tun konnte.
Bald waren alle in Mann-gegen-Mann-Gefechte gegen die Räuber verwickelt: Trest von Vardock, Boronar vom Kargen Land, Baltram von Eichental und an anderer Stelle Reto von Tarnelfurt ebenso wie Roban Grobhand von Koschtal.
Auf dem Burghof bot sich Wilbur ein Bild des Grauens. Kämpfer beider Seiten lieferten sich ein blutiges Hauen und Stechen. Roban Grobhand von Koschtal schien den Angriff anzuführen. Wo war nur Hernobert?
Aber für lange Gedanken blieb Wilbur keine Zeit. Er hatte Mühe, sich auf seinem Ross zu halten und dabei auch noch gleichzeitig das Banner in seiner Hand zu führen.
Sein Ross stieg und keilte aus. Vor Wilbur sprangen die Kämpfenden aus dem Weg und mit einem Mal fand er sich hinter dem Getümmel wieder. Erst jetzt sah er, dass Angbart von Salzmarken-See und einige andere Reiter hinter ihm gewesen waren.
Die Kämpfe endeten langsam. Einer nach dem anderen warfen die Vogelfreien die Waffen nieder und wurden überwältigt.
Eine kleine Gruppe Gesetzloser hatte sich Geiseln aus dem Kerker geschnappt und versuchte, sich damit den Weg freizupressen. Doch ihr Kampfgefährte Melcher wies sie scharf an "Die Waffen runter" und warf seine demonstrativ fort, worauf sie es ihm gleichtaten. Er wusste, wann er verloren hatte.
Selbiges galt nicht für Leta. Bis zuletzt lieferte sie sich einen mit aller Verbissenheit geführten Zweikampf mit Roban Grobhand von Koschtal. Es brauchte mehrere Kämpfer auf der Seite des Grafen und einige beruhigende Worte Retos von Tarnelfurt, damit der Ritter einhielt, sowie einige gespannte und direkt auf sie gerichtete Armbrüste, um Leta dazu zu bringen, sich zu ergeben. Doch dann war alles Kämpfen vorbei.