Bewährungsprobe am Trolleck - Rat auf Burg Kystral 01
Burg Kystral bei Rhôndur, Baronie Metenar im Ingerimm 1033 nach Bosparans Fall
Die Geräusche des Heerlagers hallten von den Mauern der alten Burg Kystral wieder. Graf Wilbur hatte zu den Waffen gerufen, denn die Lage am Trolleck schien außer Kontrolle geraten zu sein. Baron Balinor zu Bärenfang war mit seinen Getreuen in einem Hinterhalt bezwungen worden und galt seitdem als verschollen. Dazu wurden immer wieder Reisende und Handelszüge überfallen.
Graf Wilbur wollte hier ein Zeichen der Stärke setzen, doch das würde nicht einfach werden. Wilbur war jung und hatte keine ritterliche Ausbildung genossen. Das Feld des Krieges war ihm so fremd, wie sonst kaum einem anderen der Anwesenden. Dazu kam auch noch, dass die Beteiligung seiner Vasallen sehr zu wünschen übrig ließ. Der Feldzug im Wengenholm zog die meisten Barone mit ihren Kriegshaufen an und so konnte sich Wilbur, von seiner kleinen Hausmacht einmal abgesehen, nur auf einige wenige Freiwillige verlassen.
Dem jungen Grafen war nicht bewusst, dass sein Großvater Ermst in aller Heimlichkeit Verbündete angeworben hatte, um ein Scheitern der Unternehmung zu verhindern. Über die geringe Größe des Heeres konnte jedoch auch nicht das markige Auftreten der gräflichen Leibgardisten hinwegtäuschen, die zwar kriegerisch aussahen, aber noch unter Graf Orsino unter dem Gesichtspunkt eines ansehnlichen Äußeren ausgewählt worden waren.
Die Hügelländer Spießgesellen hatten ihre Schilde angeblich hastig überpinselt, als Wilbur sie gerufen hatte. Bis dahin hatten sie nach wie vor das Wappen der erloschenen Grafschaft Schetzeneck geführt und das Jahre nach dem Ende der Grafschaft!
Nun stand Graf Wilbur im Rittersaal der Burg Kystral, während die wenigen Kommandanten und Ritter aus seinem Heer um einen Tisch herum Platz genommen hatten. Auf der Platte war eine Karte der Baronie Metenar und deren näheren Umgebung ausgebreitet worden.
Nach dem Grafen selbst waren gerade einmal zwei Hochadlige Persönlichkeiten anwesend. Baronin Ina Lacara von Metenar fungierte jedoch nur als Gastgeberin und würde dem Heer nicht folgen. Ihr Gatte weilte, wie so oft, im fernen Elenvina am Reichsgericht.
An Graf Wilburs Seite stand noch sein Vogt in Zwischenwasser Hernobert von Falkenhag.
Der Burgvogt der Metenarer Barone Tarosch Sohn des Thrain erläuterte gerade die Möglichkeiten für einen Marsch ans Trolleck.
”Von Kystral aus gibt es eigentlich nur zwei Möglichkeiten für einen Marsch auf das Trolleck. Zum einen über den Rittersteig direkt Richtung Bärenfang. Das ist sicherlich der kürzere der möglichen Wege. Der andere Weg wäre über den Grevensteig bis nach Koschtal und von dort aus dann gen Trolleck vorzustoßen, doch der Weg würde natürlich länger dauern. Eine dritte Möglichkeit wäre vielleicht noch über den einstigen Baduarsteig gen Fürstenhort zu marschieren und dann von dort aus gen Trolleck zu ziehen, doch sind die Bauarbeiten am Baduarsteig noch nicht abgeschlossen und der Weg ist, meines Wissens nach, noch nicht passierbar. Ein Heer hätte wohl keine Chance dort durchzuziehen. Zudem das Heer einen großen Umweg in Kauf nehmen müsste.”
Der Zwerg blickte in die Runde.
Graf Wilbur schien abwarten zu wollen, was seine Gefährten ihm rieten. Dem Grafen war anzusehen, dass er mit der Situation restlos überfordert war. Solche weitreichende Entscheidungen zu treffen war ihm nicht geheuer.
Roban Grobhand von Koschtal hatte sich einen Platz am unteren Ende der Tafel gesucht, nicht zuletzt, weil dort sein Verwandter Answein saß, der Rondra-Geweihte von Rhôndur, der ebenfalls am Feldzug teilnehmen wollte. Ihm entging das Stirnrunzeln Answeins angesichts des zögerlichen Verhaltens des Grafen nicht, und auch er selbst spürte, wie schwer dem Grafen schon diese erste Entscheidung fiel.
Wenn er in einer echten Schlacht seine Streiter derart führte, konnte er zum Rückzug blasen, noch ehe er den eigenen Angriff befohlen hatte.
Von der Karte, auf die Graf Wilbur seine Aufmerksamkeit richtete, konnte er wenig sehen, doch er kannte den Weg selbst. Die Vorschläge des Burgvogtes waren vernünftig, und einen Umweg über Koschtal hielt er aus rein militärischer Sicht für unnötig. Andererseits, wenn man mit dem garantiert langsamen Troß über Koschtal reiste, konnte er bestimmt noch einen kleinen Abstecher daheim machen und seine Vorräte an ”flüssigem Proviant” auffrischen – und angesichts ihres wenig entschlossenen Heerführers würde er den wohl brauchen, um seine Kampfmoral zu erhalten!
Als sich einige Zeit niemand der Anwesenden geäußert hatte, ergriff schließlich Gero vom Kargen Land das Wort. Es ging darum, das Verhalten des Grafen in gutes Licht zu rücken und einen Plan zu entwickeln!
"Euer Hochwohlgeboren, Ihr haltet Euch zurück, um zunächst die Meinungen Eurer Untergebenen zu hören, und das ehrt Euch. Viel zu wenige Heerführer zeigen die Tugend des Zuhörens. Darum lasst uns jetzt alle offen sprechen und die Vor- und Nachteile der Wege bereden. Wenn der Burgvogt den Baduarsteig nicht für gangbar hält, so vertraue ich auf seine Meinung. Ich frage also direkt: Was spräche gegen den direkten Weg über den Rittersteig? Und was würden wir bei einem Umweg über Koschtal gewinnen? Denn wenn es nichts Derartiges gibt, ist die kürzere Strecke klar die bessere!"
Der etwa sechzigjährige Ritter vom Kargen Land schaute erwartungsvoll in die Runde.
”Dem stimme ich zu!” pflichtete Answein dem fast Gleichaltrigen zu. ”Wozu Zeit verlieren? Es wäre aber möglicherweise sinnvoll, den geplanten Weg im Voraus zu erkunden, um etwaigen Hindernissen rechtzeitig ausweichen zu können – und um zu verhindern, dass wir wie der Baron von Bärenfang in einen Hinterhalt geraten!”
Roban hob kurz die Brauen und nippte an seinem Bierkrug. Damit konnte er seinen Besuch bei Muttern samt Aufstockung der Schnapsvorräte in den Kamin schreiben. Gleich zwei der erfahrensten Recken hatten sich für den kurzen Weg ausgesprochen, und der Graf schien diesem Rat folgen zu wollen.
Naja, umso rascher war er wieder in Hohentrutz. Er war jetzt schon unruhig, wenn er daran dachte, was seine Siedler wohl ohne seine ordnende Hand anstellen würden.
Etilian von Lindholz-Hohenried war im Schatten des Ritters zu Valpurg bis nahe an das ausgebreitete Pergament herangelangt, welches in der aufgezeigten Gegend vor allem Berge und Wälder darstellte. Geistig fuhr er noch einmal die möglichen Marschrouten des Heeres nach. Da auch für ihn kein Grund ersichtlich war, den längeren Weg einzuschlagen, wandte er sich nach kurzem Zögern an den angroschstämmigen Metenarer:
"Verzeiht die Frage, Burgvogt Tarosch, aber bietet der Weg über Koschtal Vorteile, die durch das reine Studium der Karte nicht ersichtlich sind? Sicherlich seid ihr gut bewandert in den Eigenarten beider Marschwege."
Es hatte den zurückhaltenden Edlen eine gewisse Überwindung gekostet, die Stimme in dieser Runde stolzer koscher Recken zu erheben - und wie befürchtet hefteten sich etliche Blicke auf ihn - aber vielleicht konnte die Antwort des Ambosszwerges dem jungen Grafen die Entscheidung erleichtern.
In diesem Moment polterten ungefragt zwei weitere Ambosszwerge in den kleinen Saal. Argam Sohn des Agram, Edler zu Xennarode aus der Sippe der Stahlschärfer brummte entschuldigen ein: ”Sind wir zu spät?”, und setzte sich dann auf den noch freien Stuhl neben dem angesprochenen Burgvogt Tarosch. Sein Begleiter, Xorrox Sohn des Jorborix stellte sich in Wachthaltung hinter seinen Stuhl.
Auf die herrschende unangenehme Stille aufmerksam werdend, und langsam errötend sprach er schließlich: ”Bitte macht doch weiter, meine Freunde”.
”Beide Wege sind gangbar”, griff Roban ungefragt die Frage Etilians auf. ”Allerdings ist der Rittersteig kein Prachtstück unter den Koscher Straßen, mit Schlaglöchern wie auf einem Rübenacker und dicken Wurzeln. Für einen geübten Reiter kein Problem, aber die Troßfahrzeuge werden wohl ihre liebe Not haben, und die Fuhrleute sich ein paar blaue Flecken am Hintern holen! Da der Weg oft genug bergauf führt, könnte es sein, dass man das ein oder andere Mal helfend in die Speichen greifen muss. Der Grevensteig führt zwar ebenfalls bergan, ist aber in besserem Zustand, das Risiko, dass ein Fuhrwerk an einer Steigung hängen bleibt, wäre also geringer. Von Koschtal führt dann ein brauchbarer Weg zum Trolleck, und der fast nur noch bergab.”
Erst jetzt bemerkte Roban, dass alle Blicke auf ihn gerichtet waren, und einige dieser Blicke schienen zu fragen, wer zum Gehörnten dieser junge Ritter war, der da so mir nichts, dir nichts das Wort ergriff und scheinbar schon eine Entscheidung bezüglich des Weges gefällt hatte.
”Natürlich kann man auch den Rittersteig nehmen”, fügte er rasch hinzu. ”Ist mühseliger, aber mit ein wenig Glück spart man ein, zwei Tage. Falls man einen guten Teil des Trosses statt auf Fuhrwerke auf Packtiere lädt, wäre der Rittersteig in jedem Fall die bessere Wahl, die ja sowieso Hochwohlgeboren treffen muss und nicht ich mit meinem vorlauten Maul!”
Roban war mit jedem Wort leiser geworden und spülte die letzten Silben mit einem Schluck Bier hinunter. Wenn er nicht lernte, seine lose Klappe zu halten, würde er sich eines Tages noch um Kopf und Kragen reden.
Burgvogt Tarosch ergriff nun das Wort und wandte sich an Etilian.
”Gegen den direkten Weg spricht an und für sich nichts. Er mag etwas rumpelig sein, aber da kommt man schon durch, auch mit Trosswagen. Es wäre nur bedenkenswert die Anmarschroute so zu wählen, dass man es den Schurken nicht zu einfach macht, dem Heer einen Hinterhalt zu legen. Die Vogelfreien haben sicherlich mitbekommen, dass sich das Heer hier in Kystral sammelt und werden Vorkehrungen getroffen haben. Auf den Kopf gefallen scheinen die jedenfalls nicht zu sein, wenn man sich anschaut, was sie mit den Bärenfanger Truppen gemacht haben. Es wäre daher vielleicht sinnvoll einen Weg zu nehmen, den sie nicht erwarten würden. Andereseits verlangsamen die Trosswagen und die gräfliche Kutsche natürlich den Marsch.”
Manche Anwesende verzogen dabei verächtlich den Mund und erinnerten sich, dass der Graf sich seit einem Vorfall auf Grauensee weigerte, ein Pferd zu besteigen und daher in der Kutsche reiste.
”Vermutlich haben sie aber Posten aufgestellt, um alle Wege zu überwachen und sind flexibel genug, um ihre Position zu wechseln. Einen großen Unterschied wird es also kaum machen.”
Reto von Tarnelfurt war sich nicht sicher, ob er sich wirklich zu Wort melden sollte; er war sich noch nicht einmal sicher ob er an diesem Feldzug teilnehmen sollte. Erstens würde sein direkter Lehnsherr Graf Growin sicher bald mit seiner Anwesenheit beim zweiten Wengenholm-Feldzug rechnen, zum anderen gab es in Therbunja viel zu tun und er hatte sich dort im letzten Jahr nicht sehr lange aufgehalten. Doch mit hinterlistigen, feigen und heimtückischen Gegnern hatte er in Ilsur genug Erfahrungen gemacht und so konnte er sein teils zu vorlautes Mundwerk nicht halten.
”Verzeiht Graf Wilbur, ich glaube den Weg, egal welchen wir nehmen, kennen wir gut genug. Ich halte es für wichtiger etwas über unseren Gegner in Erfahrung zu bringen. Was wissen wir über den Hinterhalt in den Baron Balinor zu Bärenfang geraten ist? Mit wie vielen Männer war der Baron unterwegs? Verfügt der Gegner über Bogenschützen, vielleicht sogar Armbruster? Wäre dies der Fall, so wärt Ihr ein einer normalen Kutsche nicht ausreichend geschützt. Trolleck ist, wie die Karte zeigt, komplett von Wald umgeben, da wir dort hindurch müssen benötigen wir eine gut gerüstete Vorhut, wenn wir nicht Opfer der gegnerischen Fernkämpfer werden wollen.”
Erst nun bemerkte Reto, dass es der Etikette nicht ziemte, einem Grafen so viele Fragen auf einmal zu stellen. Er biss sich förmlich auf die Lippen und entschuldigte sich in untertänlichem Tonfall, ”Verzeiht meine vielen Fragen, Euer Hochwohlgeboren.”
Roban musste sich ebenfalls auf die Lippen beißen, um nicht allzu unverschämt zu grinsen. Der Aufenthalt in Moorbrück schien die Zunge mehr zu lockern als fünf Maß Ferdoker! Erst schwätzte er los wie ein Waschweib, jetzt war es Reto, der einen regelrechten Redeschwall in Richtung des Grafen losließ.
Zugleich war er froh, dass der Tarnelfurter das ausgesprochen hatte, was er selbst gern gefragt hätte. Denn bis dato hatte eigentlich noch niemand wirklich gesagt, wie ihr Gegner aussehen würde. Vogelfreie, Wegelagerer, gut und schön, aber über ihre Zahl und Ausrüstung, Organisation, mögliche Anführer, Strategien und Stützpunkte hatte man noch kein Wort verloren.
Und da Reto diese Fragen bereits gestellt hatte, lief er selbst nicht Gefahr, sich ein zweites Mal das Maul zu verbrennen!