Die Spur des Greifen - Goro
Baronie Greifenpass, Kamhütten, Tempel unserer gütigen Etilia, Anfang Firun 1041
Am Morgen verrichtete Nale von Boltansroden in absoluter Stille ihre Gebete. Im Liegen ging das schon lange nicht mehr, der stetig wachsende Bauch war bald im Weg gewesen und auch das Knien fiel ihr nach der bitterkalten Nacht so schwer, dass sie ausnahmsweise stehen blieb – auch im Angesicht des Schweigsamen musste man sich schließlich nicht quälen. Ob es der heiligen Etilia wohl auch so ergangen war?
Der Braniborier nutzte die Zeit, um das Morgenmahl zuzubereiten und Tee zu kochen. Die Baronin war sichtlich froh darüber, sich stärken und wärmen zu können, und begann zu erzählen: „Nach der Krönung unseres neuen Fürsten suchte ich um eine Audienz bei ihm. Sie wurde mir gewährt. Ich unterrichtete also Fürst Anshold persönlich über die Notwendigkeit, den Pass zu sichern und zu befestigen.“
Der Braniborier nickte.
„Hierfür bat ich um seine Unterstützung, denn schließlich ist das hier nicht irgendein Pass, sondern es handelt sich um den Greifenpass und wer immer aus Richtung Efferd kommt, den führt sein Weg zwangsläufig über diesen Pass. Der Kosch täte also gut daran, seine Grenze zu befestigen. Und hat nicht der Heerzug gegen Haffax gezeigt, dass alles möglich ist?“, sie hielt einen Moment inne, „Ich sprach nicht über die Besetzung im Jahr des Feuers durch die Hinterkoscher oder durch die jüngsten Hinterkoscher Umtriebe auf dem Pass, wohl aber darüber, dass es unbedingt ratsam wäre, den Pass zu sichern. Und ich, die ich nun Baronin über den Greifenpass bin, muss für mein Land, meine Untertanen und deren Wohlergehen und Sicherheit sorgen. Im Übrigen genieße ich die volle Unterstützung des Grafen von Ferdok.“ Sie lachte.
„Und der Fürst?“, kam der Braniborier ohne Umschweife auf den Punkt.
„Nun“, druckste sie erst etwas herum, „Es ist nicht so, dass er mich abgewiesen hätte...“
„Aber Unterstützung hat er Euch auch nicht versprochen.“
„Bisher nicht. Aber das wundert mich nicht. Bedenkt: Der Verlust seines Vaters ist noch nicht lange her und an seine Rolle als Fürst muss er sich gewiss auch erst gewöhnen. Die Fußstapfen seines Vaters sind groß, hoffen wir, dass er hineinwächst...“
Betrübt nickte der Geweihte, fügte dann allerdings langsam hinzu: „Auch Fürst Blasius ist gewachsen. Sein Sohn wird gewiss auch wachsen.“
„Wir werden sehen“, hob Nale an, „wie Fürst Anshold sich macht. Ein jegliches hat seine Zeit, so sagt man doch, und alles Vorhaben hat seine Stunde.“
„So ist es, werte Baronin, so sagt man.“
„Nachdem die Audienzen, ich war selbstredend nicht die Einzige, die um eine Audienz bei Fürst Anshold ersucht hatte, geführt worden waren, schickte der Fürst nach uns – dem Grafen von Ferdok, dem Baron von Rohalssteg, dem Baron von Lûr, der Baronin vom Greifenpass, also nach mir, und dem Ritter zu Neuvaloor. Er selbst war es, der uns darum ersuchte, uns dem vierarmigen, menschen- und zwergenfressenden Oger namens Goro anzunehmen und ihn zur Strecke zu bringen. Er war nämlich eine große Plage. Erst letztens hat er einen Zwerg überfallen, hat ihn verschleppt mitsamt seines Maultieres und der Steintafel mit dem Stammbaum seiner Familie. Selbstredend hatte man schon mehrfach versucht, seiner habhaft zu werden...“
„Bisher hat man ihn nie gefunden!“
„So ist es, Euer Gnaden“, stimmte die Baronin zu, „Doch der Fürst glaubte mittlerweile zu wissen warum.“
„Charissia!“, schloss er eilig und als Nale ihn fragend ansah, erwiderte er schulterzuckend: „Ihr habt sie gestern erwähnt! Außerdem: Wenn jemand in solchen Dingen die Finger drin hat, dann doch wohl sie!“
„Oh, ein Fuchs seid Ihr!“, entfuhr es ihr da.
Da lachte er: „Gewiss war es der kleine Wengel, der ihn auf die Spur brachte.“
„Und was für ein Fuchs Ihr seid!“
„Oh, Ihr wollte mich doch nicht etwa veralbern, Euer Hochgeboren? Man sollte es sich lieber nicht mit einem Diener des Herrn Praios verscherzen.“
„Ja, ja, dass hat uns die Priesterkaiserzeit bereits schon zur genüge gelehrt“, erwiderte sie, „Aber nun, Ihr habt recht. Wengel hat den entscheidenden Hinweis geliefert. In Begleitung Charissias war er wohl einst dort im Borrewald. Sie habe mit einem Riesen gesprochen, hat er erklärt, der habe nur gegrunzt, dann habe sie Zeichen auf Steine gemalt und gesungen, wie sie es oft getan habe.“
„Ein Zauber also!“
„Nun, man muss kein Fuchs sein, um das zu erfassen. Aber ja, ein Zauber. Und daraufhin haben wir beschlossen, dass wir uns magische Unterstützung suchen. Wir fanden sie in Form der Gattin meines Vetters Aldare und Morena vom Kargen Land, die allerdings erst später zu uns stieß“, sie trank einen Schluck ihres mittlerweile bereits etwas kalten Tees, „Wir regelten unsere Angelegenheiten und brachen dann am nächsten Tag gen Norden auf. Gemütlich war es nicht, das kann ich Euch sagen. Die Verpflegung ließ auch zu wünschen übrig. Aber wir fanden schließlich in einem Dorf, in dem wir auch Proviant besorgten, eine erfahrene Jägerin, die uns zu jener beschriebenen Stelle geleiten wollte. Es war aber so, dass wir nicht mehr die Einzigen waren, die nach diesem Oger suchten. Sechzehn Köpfe zählte die anderer Jagdgesellschaft, darunter Bolzerich von Uztrutz, Rondriane von Firunshof, Kordan von Pirkensee unter Führung von Emer Angunde von Bodrin-Hardenfels.“
„Sonderlich erfolgreich können die ja nicht gewesen sein, bei so vielen Köpfen wundert mich das allerdings nicht.“
„Waren sie auch nicht. Konnten sie vielleicht auch nicht, denn ob sie wussten, was wir wussten, war uns nicht bekannt, obgleich so manch einer vermutete, die Fürstin oder einer der anderen Anwesenden hätte möglicherweise Jallik von Wengenholm von den jüngsten Ereignissen in Kenntnis gesetzt…“, gab die Baronin zu bedenken, „Wie auch immer. Wir nutzen unsere Informationen und ließen uns von der Jägerin an jenen Ort führen. Zumindest versuchten wir es, denn wir fanden ihn nicht gleich. Es war merkwürdig. Wir gingen und gingen und plötzlich waren wir vorbei. Dann gingen wir wieder zurück und wieder das gleiche. Immer wieder schienen wir den richtigen Weg zu gehen, aber den Ort nicht zu finden. Die Jägerin war sich jedoch sicher, dass wir den Ort schon längst passiert hätten müssen. Aldare warf einen Blick darauf und stellte fest – was wir alle schon zuvor vermutet hatten – da stimmt etwas nicht. Es war der Graf von Ferdok, der sich anbot, sich von ihr so verzaubern zu lassen, dass er es vielleicht doch an diesen verzauberten Ort schaffen könne. Für Aldare war das natürlich eine Kleinigkeit. Ich glaube außerdem, dass sie wieder so schnell als möglich nach Hause wollte. Zwar nächtigte sie mit ihrer Zofe in der Kutsche des Grafen, aber das Essen schmeckte ihr nicht und in dem Dorf, in dem wir unseren Proviant aufstockten, war sie über den Wein, den man in den Proviant packte… nun ja... nicht sonderlich begeistert.“
„Ach, immer diese Horasier!“
„Und eben diese Horasierin hat den Grafen von Ferdok verzaubert. Und der ist wohl auch zu dem Ort gelangt, den Wengel beschrieben hat, aber keiner von uns. Um es uns zu beweisen, hat er Aldare auf seinem Rücken zu jenem Ort getragen. Auch sie hat es wohl gesehen, hat der Graf gesagt, konnte sich dann aber an nichts mehr erinnern. Es war wie verhext!“
„Verzaubert!“, erwiderte der Geweihte.
Nale schaute ihn etwas entnervt an: „Gut, verzaubert. Und weil wir alle erschöpft waren und gerade Aldare sich ein bisschen ausruhen musste, kehrten wir ins Dorf zurück. Am nächsten Tag brachen wir wieder auf. Inzwischen war Morena vom Kargen Land zu uns gestoßen. Die beiden Magierinnen verzauberten uns, dann liefen wir wieder an die Stelle und fanden dieses Mal, was wir suchten. Der Oger und seine Rotpelze griffen uns an, wir setzten uns zur Wehr. Zuerst kämpfen die Rotpelze verbissen, nachdem wir jedoch den Oger zur Strecke gebracht hatten, waren sie plötzlich auf und davon. Wir fanden die Steintafel und noch so einiges mehr – Schmuck und Münzen und allerlei dergleichen. Was wir nicht mitnahmen, verbrannten wir.“
„Und kein Wort darüber, wie die schwangerer Baronin vom Greifenpass den vierarmigen menschen- und zwergenfressenden Oger erlegt hat?“
„Nun, ich war es nicht allein, Euer Gnaden. Wir alle hatten unseren Anteil daran: der Graf von Ferdok, der Baron von Rohalssteg, der Baron von Lûr, der Ritter zu Neuvaloor, die Magistra von Eichstein, Morena vom Kargen Land und selbstredend auch ich, die ihm den Rest gegeben hat, indem ich meine Dschadra in seinen Schädel gestoßen habe – durch sein Augen, wenn ihr es genau wissen wollt.“
„Hervorragend, da wird euer Gatte gewiss stolz auf euch sein! Und der Fürst war es gewiss auch.“
„In der Tat, erhielten wir seinen Dank, weil wir den Oger zur Strecke gebracht hatten, obgleich er dem Ogerkopf, obwohl er geradezu unverschämt lieblich nach Veilchen duftete - ein Werk der Magistra - nicht wirklich viel Aufmerksamkeit schenkte...“