Ferdoker Finten - Ein altes Gesicht... und ein neuer Plötzbogen
Roban von Plötzbogen dachte angestrengt nach. Die Diener des Hauses wussten, dass er unausstehlich sein konnte, wenn er längere Zeit so vor sich hinbrütete, denn das deutete darauf hin, dass er bei einem Problem zu keiner vernünftigen Lösung kam. Doch bald würde einer von ihnen ihren Herrn aus seinen Gedanken reißen müssen.
Egal, wie er es drehte und wendete: Er landete immer wieder in einer Sackgasse. Ausgerechnet bei der wichtigsten Frage, nämlich dem Ansehen und der Zukunft seiner Familie! Roban lächelte bitter. Dass er eines Tages ihr Oberhaupt sein würde und ihre Geschicke lenken müsste, wer hätte das gedacht?
Doch die letzten Jahre hatten es nicht gut mit den Plötzbogens gemeint: Zunächst war Ernbrecht äußerst unwürdig zu Boron gegangen, indem er betrunken ins Hafenbecken fiel. Danach hatte das Haus seine traditionellen Ämter, nämlich Stadt- und Markvogt von Ferdok, an eine Außerkoscherin verloren. Doch als ob das noch nicht der Schmach genug gewesen wäre, hatte Graf Growin, als die Vögtin einen der Titel abgeben wollte, erneut die Plötzbogens übergangen und ihnen einen Emporkömmling vom Angbarer See vor die Nase gesetzt! Sicher, ein altes Haus, aber wo blieben die Verdienste in jüngerer Vergangenheit, mit der sich der neue Markvogt seine Position redlich erarbeitet hätte? Dieses Vorgehen passte so gar nicht zum Handeln der Plötzbogens, das sich nie auf seine Herkunft verlassen, sondern sich immer brav hochgedient hatte.
"Euer Hochwohlgeboren, hier habt Ihr einen Fehler gemacht! Ernbrecht war kein schlechter Mann, auch wenn er in den letzten Jahren dem Alkohol zu sehr zusprach. Das Haus Plötzbogen hat Euch und der Grafschaft lange Jahre gut gedient und will dies auch weiterhin tun. Erweist einem Mitglied meiner Familie die Ehre, diese gute Tradition fortzuführen..." Wohl an die hundert Male hatte sich Roban diese Worte schon zurechtgelegt. Doch was nützte all das Appellieren in Gedanken? Graf Growin hatte seine Entscheidung getroffen und er war nicht als jemand bekannt, der seine Beschlüsse leichtfertig änderte.
Was wären jedoch die Alternativen, um einen Plötzbogen wieder ins Vogtamt zu hieven? Eine Intrige gegen Growin? Die Götter mochten das verhüten! Wenn eines der alteingesessenen Adelshäuser an die Macht käme, würde es wohl kaum die "hinzugezogenen Hinterkoscher" berücksichtigen. Außerdem müsste es wie ein Schuldeingeständnis wirken, sein Ansinnen durchzusetzen, indem man den Grafen absetzen ließ. Wer das tat, hatte offensichtlich jeden Glauben an die Gerechtigkeit verloren. Es ging doch im Gegenteil gerade darum, den Namen des Hauses Plötzbogen reinzuwaschen und ihm zu neuem Glanz zu verhelfen. Nein, das ging nur mit Graf Growin, nicht gegen ihn!
Ein Mordkomplott gegen Dariana von Albersrode oder Gero vom Kargen Land, um einen der Posten freizumachen? Vielleicht nichts, vor dem einige der verschlageneren Koscher Adeligen zurückschrecken würde, aber gar nicht der Stil von Robans Familie. Die Plötzbogens waren meistens weniger direkt aufgetreten und eher unauffällig aufgestiegen. Sicher, eine unblutige Intrige wäre eine andere Sache... aber auf welche Unterstützer konnte Roban derzeit hoffen?
Es blieb ihm wohl nach wie vor nur übrig, abzuwarten und auf bessere Umstände zu hoffen. Jedoch arbeitete die Zeit gegen ihn. Er selbst wurde nicht jünger und von der nächsten Generation, darunter ein fürstlicher Knappe und die Kutscherin des Erbprinzenpaares, sah vielleicht nicht jeder die Notwendigkeit eines Aufstiegs in das Vogtamt.
Roban war mit seinem Bosparano am Ende. In einem seltenen Ausdruck der Verzweiflung reckte er flehend die Hände zum Himmel. "Herr Praios, lass meinem Haus Gerechtigtkeit widerfahren und die Wahrheit ans Licht kommen! Wir Plötzbogens sind gute Diener der Grafschaft und brauchen nur eine Chance, um uns zu beweisen!"
In diesem Moment klopfte es an die Tür. "Ja?", reagierte Roban unwirsch. "Ich bitte um Vergebung, Herr", äußerte sich ein Diener, sichtlich eingeschüchtert auf den Boden starrend, "aber ein Besucher aus dem Hinterkosch bittet Euch, ihn zu empfangen." "Nun, sei's drum", redete Roban mehr mit sich selbst als mit dem Diener, "ich komme hier sowieso nicht weiter." "Oh, und er hatte ein Empfehlungsschreiben bei sich, das an Euch gerichtet ist." Vorsichtig streckte der Untergebene Roban einen verzierten Umschlag entgegen. Das Siegel wirkte eindrucksvoll – zumindest hatte der Besucher einen hohen Fürsprecher. "Also gut, pass auf: Du wirst den Gast bewirten, solange ich sein Schreiben studiere. Gib ihm ruhig von dem guten Wein, er hat offensichtlich Beziehungen, könnte also wichtig sein."
Nachdem er wieder alleine war, ging Roban zu seinem Schreibtisch, öffnete den Umschlag und betrachtete das Schreiben. Als er den Namen des Absenders las, war er sogleich erstaunt: Es war eine von Plötzbogen! Niemand geringeres als Utsinde von Plötzbogen, Vögtin von Oberrodasch, wandte sich an ihren entfernten Koscher Verwandten. Was wohl die Angehörige der Nordmärker Linie von ihm wollte? Gespannt fing er an zu lesen.
"Hochverehrter Verwandter,
viel zu selten sind die Gelegenheiten, bei denen Ihr Koscher und wir Nordmärker Plötzbogens uns sehen können! Doch lassen unsere Lehen, die wir mit praiosgefälligem Pflichtbewusstsein verwalten, wenig Raum für derlei Freuden."
Roban seufzte. Dass Utsinde die Höflichkeit besaß, von ihnen gemeinsam zu sprechen und nicht nur von den Nordmärkern! Im Kosch hatten die Plötzbogens kein Lehen mehr und das musste sie wissen. Aufmerksam las er weiter.
"Jedoch scheint die Zeit gekommen, dass sich das ein wenig ändert. Mein junger Neffe Ungolf hat seinen Ritterschlag bekommen, aber es erwartet ihn kein Erbe hier im Herzogtum. Da Untätigkeit nicht eines Plözbogens Sache ist, habe ich gemeinsam mit ihm überlegt, wie er sich nützlich machen kann. Was liegt näher, als wie einige Verwandte sein Glück im Kosch zu suchen?"
Aha, daher wehte der Wind! Jetzt wurde Roban klar, warum Utsinde so freundlich war. Er sollte sich um einen mittellosen Adeligen kümmern... na, das mochten die Zwölfe verhüten! Doch hatte sie es verdient, dass er ihren Vorschlag zuende las, schließlich war sie eine Verwandte.
"Ich weiß, dass wir Nordmärker nicht bei allen Kosch wohl gelitten sind. Deine Vorfahren, werter Vetter, haben jedoch mit Fleiß und Beharrlichkeit beachtlichen Erfolg gehabt."
Jetzt nannte sie ihn sogar Vetter... nun gut, strenggenommen war er das auch, wenn auch um einige Ecken. Vielleicht wäre Neffe oder Onkel soundsovielten Grades richtiger, aber wer verrechnete all die Generationen der beiden Linien gegeneinander, seit einige Plötzbogens in den Kosch gezogen waren? Im praktischen Gebrauch spielte das keine Rolle. Immerhin schätzte sie richtig ein, worauf die Koscher Plötzbogens, allen voran er selbst, stolz waren.
"Diese Schule erscheint mir die beste für Ungolf zu sein. Was für den einen Plötzbogen gut ist, kann dem anderen nicht schaden!
Außerdem stehen einem Ritter Geduld und Bescheidenheit gut zu Gesicht. Ich habe meinen Neffen daher angewiesen, Euren Anweisungen zu folgen und unter Eurer Anleitung zu lernen, wie man seinen Platz im Leben findet. Er soll Euch unterstützen, wo immer er kann!"
Utsinde versuchte ihm Ungolf als eine Art rechte Hand schmackhaft zu machen. Außerdem schmeichelte sie Roban bezüglich seiner Fähigkeiten. Durchaus nicht ungeschickt! Geduldig widmete sich Roban den letzten Absätzen.
"Solltet Ihr entgegen meiner Erwartungen keine Verwendung für Ungolf haben, so müssen wir Eure Entscheidung akzeptieren. Um Euch nicht wie eine Bittstellerin zu erscheinen, habe ich Ungolf mit einem kleinen Handgeld ausgestattet, dass Eure zusätzlichen Auslagen in den ersten Monden abdecken sollte."
Roban las die erwähnte Summe und nickte anerkennend. Durchaus vernünftig gerechnet. Darauf könnte man sich einigen! Wenn sich jetzt Ungolf nicht als ein völlig untalentierter Tölpel herausstellen würde...
Geschwind überflog Roban die freundlichen Grußformeln, dann legte er das Schreiben beiseite und wies einen Diener an, Ungolf hereinzuführen. Den wollte er nun tatsächlich kennenlernen!
Als der junge Mann den Raum betrat, hätte Roban fast sein Weinglas fallen lassen vor Verblüffung. Ungolf sah Ernbrecht erstaunlich ähnlich! Gut, er war schlanker als Ernbrecht in seinen letzten Jahren, als diesen die ständige Trunkenheit sichtlich aufgeschwemmt hatte, aber damals, als der verstorbene Bruder in Ungolfs Alter gewesen war... es musste ein Zeichen der Zwölfgötter sein! Um eine Chance hatte Roban den Götterfürsten gebeten, und dieser hatte ihm einen Mann geschickt! Eins, die praiosgefällige Zahl!
"Praios, sei gepriesen!", rief Roban laut, jede Zurückhaltung vergessend. Ungolf war sehr angetan ob diesem begeisterten Empfang. "Danke, werter Verwandter, für diese freundliche Aufnahme. Heißt das, Ihr geht auf den Vorschlag meiner Tante ein!" "Und ob ich das werde! Sei willkommen im Hause der Plötzbogens. Und fürs erste: Nenn mich Onkel! Wir wollen doch, dass Dich die Leute hier wie einen richtigen Koscher behandeln." "Sehr gerne, Onkel."