Die ersten Tage von Neufarnhain - Aufbau der Siedlung unter Beobachtung

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28. Ingerimm 1032 BF, Neufarnhain

Leubold Garnelinger stand am Ortsrand und wischte sich mit einem großen rotkarierten Stofffetzen den Schweiß aus dem Gesicht. Die vergangenen zwei Monde gehörten zu den wohl anstrengendsten seines gesamten 42 Götterläufe zählenden Lebens. Ach, so grübelte der ritterliche Leibdiener, wäre er doch nicht seiner aufkeimenden Neugierde und diesem elenden Pflichtgefühl gefolgt, sich der Neubesiedlung des Moorbrücker Sumpfes zur Verfügung zu stellen, sondern im kühlen und schützenden Schatten des Garrensander Noioniten-Klosters]] geblieben. Sein neuer Herr, der junge Edelbrecht von Borking hatte sich in den letzten Wochen als wahrer Menschenschinder herausgestellt, befand Garnelinger.

Nahezu ununterbrochen hatten die Siedler schuften müssen, sowohl des Tags als auch des Nachts, sofern es die Witterung nur halbwegs zuließ. Ein geradezu dämonischer Eifer schien von dem Ritter Besitz ergriffen zu haben, der ihn immer weiter zur Eile antrieb. Das Schlimmste war jedoch, dass er, Garnelinger, der einzige zu sein schien, den die Hektik störte. Allen anderen Neusiedlern hatte der Borking beständig ins Gewissen geredet, dass noch vor den Namenlosen Tagen alle notwendigen Vorkehrungen getroffen werden müssten. Hatte der Herr damit im Grunde genommen ja Recht, so zog er daraus die vollkommen verkehrten Konsequenzen und setzte falsche Prioritäten. Zuerst hätte es der Weihung des Ingerimm-Schreins bedurft, dessen war Garnelinger sich sicher, doch hatte sich der junge Edelbrecht bislang uneinsichtig gegenüber seinen gut gemeinten Ratschlägen gezeigt. Empört schnaubte Leubold auf und blickte gen Südwesten auf eine zerfurchte Fläche.

Das erste Bestreben der Siedler und ihres Herrn hatte stattdessen darin bestanden, unter der Anleitung des einfältigen Kalmun Beutelsaum Entwässerungsgräben zu ziehen und die auf dem Transport mitgeführten Gerstensamen auszustreuen. Sogar Wachen hatte Edelbrecht von Borking abkommandiert, die darauf achten sollten, dass kein herumstreunendes Viehzeug, Ranzen oder Raubvögel sich über die Aussaat hermachte. Leubold schüttelte den Kopf; als wenn es nicht gereicht hätte, Jäger in die umliegenden Wälder zu entsenden und auf diese Art und Weise für ihre Ernährung zu sorgen oder Getreide aus den benachbarten Baronien herankarren zu lassen – etwas, das der junge Borking über kurz oder lang sowieso würde machen müssen. Erneut schüttelte Garnelinger den Kopf – er hatte ja schon viel erlebt, aber es schien sein Los zu sein, dass niemand auf ihn hören wollte. Wie damals an jenem Tag, als er seinem letzten Herrn geraten hatte, nicht in dieser stürmischen Nacht hinaus in den Sumpf zu reiten und …

Mit einem Schaudern wandte sich der Diener vom Moor ab und richtete seinen Blick auf das, was bislang hinter ihm gelegen hatte. Vieles hatte sich seit dem Perainemond geändert! Gleich nachdem die Gerste gesät worden war, hatten die Neufarnhainer sich daran gemacht, ihre bisherigen Zelt-Behausungen durch Katen auszutauschen. Dabei hatten alle Siedler gleichzeitig an einer einzigen Wohnstätte gearbeitet. Als Anerkennung für ihre bisherigen unermüdlichen Dienste, so hatten die Siedler beschlossen, wurden als erstes die Zwerge versorgt. Und so wurde das erste Gebäude Neufarnhains, eine schmucke Kate, nahe des Gedenksteins an die „Neufarnhainer Tafel“ errichtet und mit einem Schild verziert. Dieses wies das Gebäude in Rogolan und Garethi als das Haus „Zum Findling“ aus. Die künftigen Bewohner hatten nämlich versichert, dort nicht allein nur wohnen, sondern in seinen Räumlichkeiten auch eine Taverne unterhalten zu wollen. In dieser würden sie selbstgebrautes Bier ausschenken, sobald die erste Gerstenernte eingefahren worden wäre, versicherten die Drillinge Ram-, Rum- und Romlosch, Söhne des Rogtosch, die auch schon einen Namen für das Getränk parat hatten, noch ehe der erste Krug überhaupt serviert war: „Neufarnhainer Zwergenbräu“. Die drei knapp 100 Götterläufe zählenden Angroschim waren immer für einen Spaß zu haben und oft dröhnte ihr lautes Gelächter weit über den Siedlungsplatz.

Ganz anders war dagegen der um wenige Jahre ältere Xolberon, Sohn des Xorgeran, welcher früher als Steinbrucharbeiter in der Baronie Roterz gearbeitet hatte. Meist war er eher mürrisch und in sich gekehrt und ließ die Menschen und seine eigenen Artgenossen in Ruhe. Kam es jedoch vor, dass er sich durch jemanden provoziert fühlte, konnte es leicht geschehen, dass er in wilde Schimpftiraden gegen den Übeltäter ausbrach und nur mit viel gutem Zureden beruhigt werden konnte. Vielleicht besserte sich dieser Zustand, sobald erst das flüssige Brot in der Siedlung zu haben war?! Garnelinger hatte jedoch das Gerücht erfahren, dass Xolberon nur deswegen an diesem Projekt teilnahm, weil er sich in Roterz einer Bluttat schuldig gemacht hatte und schleunigst das Weite hatte suchen müssen, und ging dem Angroscho so gut es eben ging aus dem Weg. Jedenfalls war er sehr froh darüber, dass sich der jähzornige Angroscho meistens auf der Jagd oder als Wache auf dem Feld befand, denn eines musste man ihm lassen: Nützlich machen konnte er sich.

Die Bewohner des „Findlings“ wurden komplettiert durch die Brüder Dorwin und Dwarrin, Söhne des Hogwin, die wie die Drillinge aus dem Bergkönigreich Waldwacht kamen. Auch sie zeichnete vor allem anderen ihr großer Fleiß und ihre Zugänglichkeit aus. Ihr herausragendstes Merkmal waren ihre großen knubbeligen roten Nasen, durch die man sie schon von weitem erkennen konnte. Oftmals hatte Leubold sie noch lange nach der „Großen Tafel“, dem gemeinsamen Abendmahl aller Siedler, beobachtet, wenn er wieder einmal in einer schlaflosen Nacht vor sein Zelt getreten war, wie sie gemütlich vor ihrem Zelt (und später vor ihrer Kate) saßen und ihre Pfeifen schmauchten.

Der Taverne gegenüber lag in nächster Nähe zum Gerstenfeld eine weitere Kate, die seit kurzem von der sechsköpfigen Familie Beutelsaum bewohnt wurde. Das Familienoberhaupt war eben jener Gerstenbauer Kalmun, der dem Borking ins Gewissen geredet hatte, so schnell wie möglich das Feld anzulegen, ein stämmiger Mann mit leicht hängenden Schultern und ausdruckslosem Gesicht. Leubold Garnelinger hatte keine große Meinung von diesem Gesellen, hielt ihn sogar für ziemlich einfältig und träge. Ja, er glaubte sogar erste Anzeichen dafür bemerkt zu haben, die deutlich zeigten, dass Kalmun mit der gestiegenen Verantwortung, die ihm als einzigem Sachverständigen für das Gerstenfeld zukam, schlichtweg überfordert war. Die treibende Kraft in seinem Rücken schien Garnelinger die greise weißhauptige Mutter Kalmuns, Firuna, zu sein, deren keifende Stimme vor allem immer dann zu hören war, wenn sie sich mit ihrer Schwiegertochter Mechtel, einer schlanken großgewachsenen Frau Ende der 20er, lautstarke Wortgefechte lieferte. Während Mechtel von Peraine gesegnet war und ein seltenes Talent für Pflanzen hatte – so hatte sie beispielsweise neben dem Bauplatz ihres Hauses ein Gemüsebeet angelegt, das sie seither fleißig umsorgte – fiel Firuna noch dadurch aus, dass sie sich liebevoll um ihre drei Enkelkinder Arbel, Barine und Nane kümmerte. Gerade den zehnjährigen Arbel im Auge zu behalten war nicht ganz einfach. Da die achtjährige Barine viel mit der vier Götterläufe jüngeren Nane spielte und beide oft auch ihrer Mutter im Gemüsegarten zur Hand gingen, war Arbel häufig außen vor und hatte ausreichend Gelegenheit für Unsinn, so dass es der großmütterlichen Aufsicht bedurfte, um Schlimmeres zu vermeiden. Leubold sah den Tag voraus, an dem der flachsblonde Knabe ertrunken und von Ranzen angefressen aus dem Sumpf geborgen wurde, weil er sich wieder einmal unerlaubt aus Neufarnhain entfernt hatte.

Ganz anders verhielt es sich da mit den drei Söhnen des Webers Sauerbrodt, Jallik, Jalosch und Jargold. Vielleicht auch aus Furcht vor ihrem griesgrämigen Vater Cordo zeichnete die Jünglinge im Alter von 16, 14 und 12 Götterläufen eine Ernsthaftigkeit aus, die sie schon jetzt für besonders heikle Aufgaben prädestinierte. Gemeinsam mit ihrer überaus gelehrten Mutter Rena und ihrer jüngeren, schweigsamen Schwester Hamwiede, die sich oftmals zum Spielen zu den Beutelsaum-Töchtern gesellte, ansonsten aber eher schüchtern gab, lebte die Familie, die plante, schon bald wieder ihrem Weberhandwerk nachzugehen, seit jüngster Zeit in einer Kate nördlich der Taverne, die als drittes Gebäude fertig gestellt worden war.

Westlich davon war eine vierte Kate entstanden, hinter der ein kleines Gebiet eingezäunt worden war. In diesem Pferch sollte, nach dem Willen der Bewohner, schon bald eine Schar von Hühnern leben, Eier legen und die Neufarnhainer des Morgens wecken und zur Arbeit rufen. Cordo Kauzfold aus Salmingen, das Familienoberhaupt, hatte die Reise nach Moorbrück allein mit seinen drei Töchtern Morena, Sepha und Trave antreten müssen, nachdem seine Gemahlin nach kurzer heftiger Krankheit auf Golgaris Schwingen davongetragen worden war. Seitdem entglitt dem gutmütigen, gelernten Hühnerhirten allmählich die Kontrolle über die drei Jungfrauen. Während Trave, die mit ihren 15 Götterläufen die jüngste war, bereits mit Jallik anbandelte, warf die zwanzigjährige Morena beständig verliebte Blicke auf den Ritter von Borking. Gewiss war sie ein reizendes Persönchen, wie selbst Garnelinger zuzugeben bereit war, jedoch als Tochter eines Hühnerhirten alles andere als die richtige Partie für einen jungen Adeligen, der, wie gemunkelt wurde, ohnehin auf Burg Birkendamm ein Liebchen besaß, das er rasch zu ehelichen gedachte.

Als letzter Bau Neufarnhains war bislang eine Kate im Westen entstanden. Diese hätte durchaus bedeutend größer sein können, befand Leubold, stellte sie doch immerhin den Sitz des Ritters dar. Doch Edelbrecht, der sich nunmehr „Edelbrecht von Borking zu Neufarnhain“ nannte, hatte keinen Unterschied zwischen sich und seinen Untertanen machen wollen. Unwillig schüttelte der etikettekundige Leibdiener den Kopf. Nicht nur, dass er nicht allein mit seinem Herrn in der mehr als schäbigen Unterkunft hausen konnte, nein er musste sich den Platz zusätzlich mit dem Intimus des Herrn, dem Ambosszwerg Etosch Gabelbart und dem Angrosch-Geweihten Dwarrosch teilen. Doch damit nicht genug: Die Eheleute Brauwin und Isida Bockbusch machten es sich ebenfalls noch in diesem Hause gemütlich. Zwar waren beide äußerst hilfsbereit und gingen Garnelinger so gut es eben ging bei der Bewirtung des Herrn zur Hand, dennoch wollte sie der Leibdiener nicht dauerhaft in seiner Nähe dulden. Hinzu kam noch, dass sich Isida immer öfter zurückziehen musste, da ihr Leib angesichts ihrer Schwangerschaft weiter angeschwollen war – es wurde erwartet, dass sie noch im Laufe dieses Jahres ihr Kind zur Welt bringen würde.

Trotz des begrenzten Raumes in der Kate sah Leubold die beiden Angroschim nur selten. Etosch Gabelbart, den Ritter Edelbrecht als künftigen Verwalter auserkoren hatte, führte meistens die Jagdgesellschaften an oder beaufsichtigte die Baumaßnahmen, während der ernste Angrosch-Geweihte, der sich bislang kein einziges Mal aus seiner Ruhe hatte bringen lassen, meist in stummer Zwiesprache mit seinem Gott befand und nach einem geeigneten Bauplatz für den zu errichtenden Schrein suchte.

Leubold Garnelinger blickte noch einmal prüfend von Gebäude zu Gebäude und rief sich jeden einzelnen Einwohner Neufarnhains in Erinnerung. Alles in allem eine zufriedenstellende Auswahl, die Ritter von Borking getroffen hatte, obwohl das ein oder andere faule Ei darunter war, wie Garnelinger fand. Stampfend setzte sich der Leibdiener in Bewegung zu – es wurde allmählich Zeit für die abendliche Tafel und er hatte noch kein Wasser geholt. Ach, wäre er doch nur in Garrensand geblieben…

Hätte er gewusst, was der Baumstumpf neben dem Weidengebüsch dachte, der eigentlich gar kein Baumstumpf war, sondern ein altes, faltiges Weib, hätte er sich noch weit inniger nach Garrensand zurückgewünscht. Wink noch ein bisschen mehr mit deinem roten Lappen, dachte das Weib, dass es meint, du gibst ihm ein Zeichen mit Blut. Ja, und schau dir die Hütten und Felder gut an. Morgen holt sich vielleicht schon der Sumpf die erste Kate. Die Gerste fault schon, wo das Moor an ihr nagt. Wenn du wüsstest, womit ich die Moorwürmer verjage, die an den Wurzeln fressen, du würdest das Brot nicht essen, das davon gemacht wird – wenn es denn dazu kommt –, und das Bier nicht trinken, das – vielleicht – daraus gebraut wird. Aber es verjagt sie wenigstens, vielleicht überlebt ihr sogar den Winter. Und schau dir die Leute an, deine Brüder und Schwestern im Schicksal. Bald kommen die Fiebermücken und holen das erste Kind, das zweite holen die Rantzen, nein, nicht den flachsblonden Bub da, den wohl eher nicht, aber das Träumerle da oder den größeren Burschen, wenn er Schilf schneiden geht. Das dritte holt sich der Alp oder die Angst oder das tiefe Moor. So wie beinahe schon diesen Angroscho, der herumläuft wie auf festem Fels und nicht weiß, daß sein Väterchen Angrosch schwach ist hier und die Feuer aus Torf manchmal Schwaden übers Land legen, in denen ein Hund oder Mensch irre wird oder erstickt, und der nicht weiß, was sich hier durch Stollen windet, gefüllt mit Wasser, Fäulnis und Morast. Hat nicht kürzlich die Hütte deines Ritters schon geknarrt, als wehe ein starker Wind? Kein Wind, es war ganz ruhig in jener Nacht, es waren die Balken und Pfosten, die sich senkten, habt ihr wirklich gemeint, der Boden sei hier fest? Selbst ein Kind wollt ihr hier zur Welt kommen lassen, man meint, ihr legtet es drauf an, die Lauernden mit einem Opfer zu stärken...

Niemand war mehr in der Nähe, und der Baumstumpf erhob sich, das alte Weib, schulterte sein Bündel Schilfgras und Ried, murmelte etwas, den Finger mahnend gegen ein kleines dunkles Schlammloch erhoben, und stapfte davon. – Hätte sie gekonnt, hätte sie alle diese Siedler ins nächste Noionitenkloster geschickt, vor allem aber den jungen Ritter, den Vogt, den Grafen und wer sonst noch hinter dem Plan steckte, den Moorbrücker Sumpf wieder zu besiedeln!