Der Säugling im Fels

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Ausgabe Nummer 71 - Rahja 1044 BF

Der Säugling im Fels

Wie das Schwurbundfest zu einem neuen Wettkampf kam

STEINERNES TAL, Ingerimm 1044 BF. Wie jedes Jahr versammelten sich vom 6. bis 8. Ingerimm die Vertreter der Wengenholmer Sendschaften im Steinernen Tal westlich der Angenburg, um im Ring die Anliegen des Landvolkes vor und mit dem Grafen zu besprechen, Streite zu schlichten und gemeinsam das Schwurbundfest zu feiern.

Über die Verhandlungen gibt es nicht viel zu berichten, es sei denn, unsere Leserschaft interessiert, ob der Almkäse auch mit Schafsmilch angesetzt werden darf oder ob die Groinhager die Ilmenstieger anständig grüßen müssen, wenn diese durch ihr Dorf zur Angenburg wandern.

Spannendes ereignete sich aber während der Wettkämpfe, die das Treffen umrahmen. Wir wollen unsere städtischen oder gar höfischen Leserinnen und Leser nicht langweilen mit der Frage, wer das Fass am schnellsten rollte oder am lautesten ins Tal hinab brüllte. Doch den letzteren Wettbewerb, das sogenannte Bergrufen, unterbrach ein erstaunlicher Zwischenfall.

Die Sendrin Ulwide Bocksbart aus Adlergang hatte gerade auf der Wiese hoch über dem Steinernen Tal Aufstellung genommen und tief Luft geholt, um das traditionelle „Höret, o höret“ anzustimmen, da erscholl aus der Felswand zu ihren Füßen lautes Säuglingsgeschrei. Verblüfft eilte sie zum Rand der Wiese und spähte hinab, während unten im Tal alles nach oben starrte. Tatsächlich, auf einem schmalen Vorsprung auf halber Höhe der wohl siebzig Schritt hohen Felswand, welche die Bergler den Grimmwall nennen, waren die Ärmchen und Beinchen eines strampelnden Kleinkindes zu sehen. „Wie mochte es dort hingekommen sein?“, dachten die meisten, doch Ulwide dachte nur „Gleich wird es runterfallen!“ und machte sich sogleich daran, zu dem Vorsprung hinunterzuklettern. Denselben Gedanken hatte auch Ettel Blumbold aus Wildertrutz, der unverzüglich von unten die Felswand in Angriff nahm.

Nun ist der Grimmwall schrecklich steil und an manchen Stellen brüchig, und mancher gelöste Stein polterte zu Tale, während sich die beiden Kletterer so schnell wie möglich, aber so vorsichtig wie nötig dem Vorsprung näherten. Nicht auszudenken, wenn ein Stein unter dem Fuß der Sendrin bröckelte und auf das Kind stürzte! Die ganze Schwurbundsgesellschaft war mittlerweile zusammengelaufen und hielt stumm den Atem an, bis Graf Jallik befahl, zu den Göttern zu beten.

Endlich, kaum zu glauben: Ettel zog sich im gleichen Moment auf den Vorsprung, als Ulwide ihre Füße aufsetzte. Zugleich aber verstummte das Geschrei, und als die beiden Sendriche sich umschauten, war von dem Säugling nichts mehr zu sehen. Einen schrecklichen Augenblick fürchteten sie, das Kind sei doch noch gestürzt, gar von ihnen hinabgestoßen worden. Doch nein, als sie ins Tal blickten, war da kein Blut, kein zerschmetterter Körper, nur die gebannte Menge, aus der schon erste Jubelrufe erschollen.

Groß war das Erstaunen, als Ulwide und Ettel mit leeren Händen herunterstiegen. Vom Säugling sei keine Spur zu finden gewesen, berichteten sie, nicht einmal Speichelflecken. Stattdessen lagen auf dem Stein zwei ausgerissene Edelweißblüten – ein weiteres Mysterium, blüht diese Blume doch nur viele hundert Schritt weiter oben am Berg. Ein feiner Spalt im Felsen fand sich auch, doch zu klein für ein Kind – eine Maus müsste froh sein, wenn sie darin nicht stecken bliebe, erklärte Ulwide dem KOSCH-KURIER.

Natürlich hob nun das große Rätselraten an, was hinter diesem Ereignis steckte. Ein Kobold habe das Kind gestohlen und kurz abgelegt, dann wieder zu sich in die Höhle geholt, mutmaßten die einen. Das Ganze sei ohne Zweifel ein Streich des Rabbatzmanns, behaupteten die anderen. Die Adlerganger argwöhnten gar, jemand habe so der Sendrin Ulwide den sicheren Sieg im Bergrufen stehlen wollen, denn nach ihrer anstrengenden Kletterpartie schaffte sie es nur noch auf den siebten Rang.

Baron Kordan von Geistmark, als Wengenholms Scharmeister anwesend, bot an, das Geheimnis durch seinen Hofmagier untersuchen zu lassen. Doch da waren sich die Sendriche einig: Einen Zauberer wollten sie nicht im Steinernen Tal! Auch kam man schnell überein, dass ein so außerordentliches Erlebnis gebührend gewürdigt werden müsse. Von nun an soll jedes Jahr ein Wettklettern im Grimmwall an den Säugling, der sich in Luft auflöste, erinnern.

Stordian Mönchlinger