Ankunft in Moorbrück - Dem Ende entgegen
◅ | Der fünfte Standort |
|
Zwölf Steine - Der finale Siedlungsplatz | ▻ |
Auch wenn es nach dem relativ angenehmen Marsch zwischen den Standorten IV und V nun wieder in den tiefen Sumpf ging, schien die Aussicht darauf, diese ungemütliche Expedition endlich einem Abschluss entgegenzuführen, die Gruppe zu beflügeln. Auch Bolzer hatte seine Zuversicht und Ortskenntnis vollends wiedererlangt und führte die Ritter zügig mit großen Schritten durch anscheinend relativ gangbares Gebiet am Rande des Pfuhles. Für Pferde oder gar Karren wäre zwar auch hier der Boden zu weich, doch als gut bestiefelte Wandergruppe kam man dank des kundigen Führers gut voran.
Es hätte ein fast angenehmer Ausflug unter diesiger Sonne sein können, wären nicht die unsäglichen Mücken stetige Begleiter geblieben. Wütend erschlug Roban ein besonders hartnäckiges und großes Exemplar:
„Verdammte Viecher! Treiben diese Plagegeister immer ein derartiges Unwesen?“
„Ne, ne, das is’ immer unterschiedlich, je nach Winter oder Sommer – is’ gerade noch ruhich. Im Boron stirbt die Mückenplag, im Rondra bringt se’ dich ins Grab... sagt man bei uns immer.“
„Vermaledeiter Blutsauger!“
Der Koschtaler wischte die Überreste des Angreifers von seinem Arm.
„Ich dachte, diese Viecher wären nur an der Misa so frech – aber diese sind ebenso dreist! Keinen Respekt vor adligem Blut!“
Die nächste Mücke entging nur um Haaresbreite dem tödlichen Schlag und versuchte ihr Glück beim nächsten Ritter. Edelbrecht von Borking fing das Vieh mit einem schnellen Griff, zerdrückte es und schleuderte es angewidert von sich.
„Wenn wir den Sumpf erst einmal trocken gelegt haben, wird auch diese Plage ein Ende finden“, meinte er zuversichtlich. Boromil kämpfte ebenfalls verbissen seit dem ersten Blutstropfen. Wäre es nicht der Hunger auf den roten Lebenssaft, sondern Wissensdurst, der diese Insekten beflügelte, dann wäre es zweifellos die gebildeteste Gegend, die ihm je unterkommen wäre!
Dennoch freute er sich über den Marsch, der sie zum letzten Siedlungsort führen würde. Es war die richtige Entscheidung gewesen, zu Fuß zu gehen. Auch war endlich der sechste Neusiedler eingetroffen! Ob er darauf bestehen würde, die ersten drei Siedlungsplätze noch einmal selbst zu sehen? Wenn er den Vogt richtig einschätzte, würde dieser lieber eine Beschreibung abgeben und, falls das nicht reichen sollte, auf sein Vergaberecht pochen.
Nun kam es darauf an, wie sich Grimm selbst verhielt. War er eher ein draufgängerischer Kämpfertyp oder ein besonnener Charakter, der Dinge im Einvernehmen löste? Der erste Eindruck war freundlich, insbesondere unter Berücksichtigung der Umstände ihres Kennenlernens. Ob sich der arg Gebeutelte auf ein Gespräch einließ?
Doch bevor es dazu kommen konnte, ergab sich eine andere Unterredung. Interessiert musterte Edelbrecht seinen Gefährten vom Kargen Land eine Weile, ehe er sich ihm weiter näherte und im Flüsterton ansprach.
„Auf ein Wort, Boromil!“
Dieser sah verwundert von seinem Arm auf, auf dem er gerade eine weitere Mücke erledigt hatte, und sah den großen Borkinger neugierig ins Gesicht.
„Was gibt’s?“
„Nun, Boromil, in den vergangenen Tagen habe ich mir ein Bild davon gemacht, mit wem ich in näherer Zukunft gut auskommen werde und mit wem weniger, wobei ich natürlich gerne einzuräumen bereit bin, dass die ersten Eindrücke oftmals auch trügen können. Nur allzu gern würde ich meine neue Heimstätte daher in unmittelbarer Nachbarschaft zu dir – und vielleicht auch noch zu Roban, in dessen ungestümen Temperament ich mich mitunter wiederzuerkennen meine - errichten. Nun habe ich natürlich nicht die besten Karten, wenn es darum geht, Standort VI zu dem meinigen zu machen. Daher würde es mich sehr interessieren, wo du zu siedeln gedenkst. Unter Umständen könnte ich mich dann ja mit anderen Standorten begnügen, wenn mir eure Nähe dadurch gewährleistet ist. Allein an dieser unheimlichen Magierturmruine möchte ich wirklich nicht länger als nötig verweilen. Nun, was sagst Du?!“
Boromil verkniff für einen Moment den Mund und suchte nach den richtigen Worten, die er leise sprach.
"Um ehrlich zu sein, bin ich ein wenig verwundert darüber, dass so viele von uns vorpreschen und sofort einen bestimmten Standort haben möchten, bevor sie auch nur alle einmal gesehen haben. Dass sich im Verlauf der Besichtigung gewisse Präferenzen herausbilden, ist mir klar. Mir selbst hatte beim Anblick der Karte ein bestimmter Standort einen interessanten Eindruck gemacht. Aber bevor ich offen dem Vogt gegenüber etwas sage, möchte ich doch alle Siedlungsplätze in Augenschein genommen haben. Eine hastige Entscheidung zu treffen, bevor man alle Informationen hat, die man bekommen kann - das liegt nun gar nicht in meiner Familie!"
Hierbei lächelte Boromil. Nun ging er auf Edelbrechts erste Worte ein.
"Ich freue mich, dass Du mein direkter Nachbar werden willst, und gebe Dir Recht mit der Annahme, dass es sich lohnt, jemanden in seiner Nähe zu haben, mit dem man sich gut versteht. Wir wissen zwar inzwischen, dass die Wege zwischen den Siedlungsorten nicht immer gut sind. Oft werden wir also in der Anfangszeit auf uns alleine gestellt sein. Ich denke aber, dass ein guter Nachbar einen größeren Ansporn bietet, einen besseren Weg zur nächsten Siedlung zu errichten. Ich wäre froh, neben Dir zu siedeln. Gleichzeitig möchte ich mich nicht offen darauf festlegen, welchen Standort ich bevorzuge. Wenn wir alles gesehen haben, Alma wieder abgeholt haben und auf Burg Birkendamm zurückgekehrt sind - und mit einer Nacht Schlaf in einem guten Bett - wird sich, so meine ich, ein besserer Überblick ergeben und man kann in Ruhe alles besprechen."
An anderer Stelle hatte sich ein ähnliches Gespräch entsponnen. Reto von Tarnelfurt hatte sich so weit zurück fallen lassen, dass er ein Gespräch mit Roban Grobhand von Koschtal führen konnte, der mit zwergischer Geduld jede erschlagene Mücke zählte.
„Hast du dir schon überlegt, wo du dich niederlassen willst – und neben wem?“ fragte Reto unumwunden.
„Bis dato noch nicht – sechzehn! -, allerdings denke ich ja auch etwas anders als du! Fruchtbare Erde würde ich selbst dann nicht erkennen – siebzehn! -, wenn man mich zum Hals drin eingräbt! Eine Palisade und einen trutzigen Turm werde ich wohl überall bauen können, und hoffentlich auch die Bauern über den ersten Winter bringen!“
Der nächste „Kontrahent“ entging dem ihm zugedachten Schicksal mit einem waghalsigen Flugmanöver – ein saftiger Fluch war der einzige Schaden, den er nahm.
„Du willst doch nicht wirklich diesen Hügel mit den Irrlichtern nehmen?“
Reto hatte das schon einmal gesagt und eigentlich gehofft, dass dieses eine Mal reichte. Roban hob kurz die Brauen.
„Nicht wollen, aber wenn er übrig bleibt...dann muss ich die Palisade halt etwas höher bauen, damit mir die Bauern nicht – HA! Achtzehn! Neunzehn!“, gleich zwei Mücken teilten kurz nacheinander das gleiche Schicksal, „na ja, damit sie mir nicht in den Sumpf rennen und ersaufen wie die Ratten!“
„Du hast wirklich einen merkwürdigen Humor!“ meinte Reto kopfschüttelnd.
„Wie dem auch sei, ich werde mich für dich und deine seltsame Wahl einsetzen, wenn du dies wünscht. Du weißt ja, welchen Siedlungsplatz ich mir wünsche und ich habe gegen weitere Unterstützer nichts einzuwenden, und falls du den von Grimsau zu deinem Nachbarn machst, würde mich das ebenfalls freuen. Wir könnten uns dann ja zu einem guten Schlückchen beim Grimsauer einladen.“
Reto grinste verschwörerisch.
„Und falls dir das mit den Blutsauger erschlagen keine Freude mehr bereitet, wende dich doch an Bruder Perainfried, er hat Mirbelstein dabei, und stinken tun wir sowieso allesamt.“
Rumpel hatte sich seit dem Standort fünf noch stiller verhalten und sich noch weiter zurück fallen lassen, so daß er den Schluß des Zuges bildete. Er schaute sich um, und in seinen Blick lag was wie Abschied …
"Alles in Ordnung? Macht Euch Euer Bein zu schaffen, so dass wir zu schnell sind?" fragte Boromil, dem nicht entgangen war, dass Rumpel manchmal einen Gesichtsausdruck dachte, der sich als nachdenklich oder traurig deuten ließ. Rumpel schaute etwas überrascht, daß der Ritter ihn ansprach. Dann schüttelte er den Kopf und lächelte.
„Nein, Hoher Herr von Kargen Land! Mein Bein ist schon seit Jahren gewohnt zu laufen, und mag ich auch ein alter Mann sein, zu schnell lauft ihr nicht!“
Wieder kehrte sein Blick zu der Sumpflandschaft zurück. Dann zurück zu Boromil.
„Verzeiht, hoher Herr, aber ich habe schon lange nicht mehr mit Menschen gesprochen. Wißt ihr, der Moorbrücker Sumpf ist trotz seiner Lebensfülle ein gefährlicher Ort für Menschen. Und selbst der Mensch ist in dieser trügerischen Landschaft oft des Menschen Feind...“
Ein Blick zum Sumpf, nicht voll Mißtrauen, sondern voller Erinnerung, wie es dem Ritter vom Kargen Land schien...
"Da sprecht Ihr leider allzu wahr, wenn auch direkt, wie es gute koscher Art ist! Erst vor wenigen Tagen erzählte mir Bolzer, unser Sumpfführer, vom Schicksal des Ritters Hardger Kusi von Mönchbach. Dessen ehemaliges Gut soll einer der neuen Siedlungsplätze sein, so kamen wir auf das Thema. Von einer Räuberbande ins Moor getrieben... eine schreckliche Sache! Und seine Tochter ist gefallen... ich muss sagen, dass mir diese traurige Geschichte sehr zu Herzen geht, obschon ich ihn nicht kannte. Es ist doch sehr betrüblich, wenn die Gesetzlosen über die Rechtschaffenen gewinnen, selbst wenn dies nur für einen Moment so bleibt. Mit Verlaub, die Begegnungen mit den Irrlichtern und den Sumpfranzen oder der verlorene Weg mitten im Sumpf haben mir weniger Angst gemacht als die Vorstellung, mir könnte es ebenso ergehen wie dem Ritter von Mönchbach."
Einen Moment krampfte sich Rumpels Hand um den Griff seines Wanderstabes, den jeder Sumpfbewohner bei sich trägt. Einen Augenblick schien es, als ob er aufbrausen wollte, dann wandte er sich freundlich dem Ritter vom Kargen Land zu.
„Und doch gibt es Menschen im Sumpf, die den Gesetzen der Götter Wert beimessen. Seht mich an! Ich verlor fast alles in diesem Sumpf, fast sogar mein Leben. Doch ein freundlicher Mann rettete mir das Leben, er konnte weder auf Belohnung noch auf Wiedergutmachung hoffen, denn er hatte selbst eine schwere Krankheit. Kaum war ich von Borons Schwelle, raffte es ihn dahin! Der gute Hektor war niemals außerhalb des Sumpfes und kannte mich nicht. Allein den Geboten der Götter folgend, nahm er mich auf, als ich zerschunden vor seiner Tür auftauchte.“
"Ihr müsst entschuldigen, ich wollte nicht alle Bewohner des Sumpfes gleichermaßen bewerten. Ihr sprecht wahr, denn wie sagt man: In der Nacht ist eine Kerze heller als die Sonne. Euer Retter Hektor wird für seine selbstlose Tat in den zwölfgöttlichen Paradiesen aufgenommen worden sein!"
Kurz über eine Pfütze springend nahm Rumpel das Gespräch weiter in die Hand.
„Und ihr wollt den Moorbrücker Sumpf besiedeln? Sagt, welche Stellen habt ihr zur Auswahl? Zwei habe ich ja schon gesehen, und die nächste wohl auch. Klippbrühl erwähntet Ihr, hohe Herr. Und wo noch?“
"Nun, ich weiß natürlich nicht, wie sehr Ihr in Moorbrück herumgereist seid, doch ich möchte mein bestes versuchen, um Euch die anderen Orte zu beschreiben. Der zweite Siedlungsort liegt im Vergleich zu den Ruinen von Klippbrühl auf der anderen Seite des Birkenhaines, ebenfalls nicht weit von der Warna entfernt. Dort gibt es eine größere flache Stelle und der Boden ist - mindestens zum Teil - lehmig. Der dritte Platz liegt von Eurer Kate etwa so weit weg wie der vierte. Dort hat es einen größeren Hügel. Allerdings hatten wir ebenfalls eine unangenehme Episode mit Irrlichtern, die uns fast ein Pferd gekostet hätte! Zwischen diesem Ort und Eurer Behausung hatten wir den Weg verloren, das Pferd des Vogtes versank - und dann griffen auch noch Ranzen an! So war uns Eure Gastfreundschaft höchst willkommen, und seid versichert, dass Ihr einen Teil des Guten, was Euch Hektor getan hat, an uns weitergegeben habt!"
Sie gingen einige Schritte weiter und mussten wieder einer Pfütze ausweichen, als Boromil noch etwas einfiel.
"Wenn ich richtig verstanden habe, war es Hektors Kate, die Ihr nun bewohnt. Ihr erwähntet, dass Ihr schwer angeschlagen wart und fast alles verloren hattet, als Ihr ihm begegnet seid. Was ist damals geschehen?"
Rumpel schwieg. In seinem Blick schwang ein innerer Kampf: Schmerz, Wut und Scham schienen es zu sein. Dann schien der Mut wieder in die alten Züge zu kommen.
„Es waren Räuber! Sie haben mich überfallen. Und ich konnte nichts für meine Schutzbefohlenen tun...“
Seine kräftige Hand umspannt seinen Wanderstab mit eisernen Hand, daß die Knöchel weiß hervortraten. Einen Moment schaute Boromil den Mann neben ihn an und ein Gedanke stieg in ihm auf...
Rumpel schien es zu bemerken und seine Hand legte sich auf die Schulter des Ritters.
„Ich sehe, dass euer Verstand scharf ist! Und ich denke, ich werde bald eure Frage beantworten, die Ihr stellen wollt!“
Rumpels Worte nahmen einen bittenden Klang an.
„Doch wartet bitte mit eurer Frage, bis ich bereit bin, sie zu beantworten. Gebt mir nur noch diese Nacht!“
"So sei es", erwiderte Boromil knapp, der die Dringlichkeit der Bitte verstanden hatte.
Reto von Tarnelfurt hatte sich wieder ein wenig von Roban abgesetzt, um mit Perainfried wohl schon erste theoretische Pläne zu schmieden – für Edelbrecht von Borking eine gute Gelegenheit, den Abstand seinerseits wieder etwas zu verringern.
„Ich hoffe, Euch stört die Anwesenheit eines Armbrustträgers nicht“, grinste er breit, um jeden Verdacht, er könne das Streitgespräch wieder aufnehmen wollen, im Keim zu ersticken.
„Stören?“
Die Ablenkung rettete einem vorwitzigen Stechtier das Leben.
„Mich stört weder Eure Waffe noch Eure Sicht der Welt. Jeder muss wählen, welchem Gott er das meiste Vertrauen schenkt und wessen Gebote er zuvorderst befolgen will. Ich wählte Rondra – Ihr offenbar den Götterfürsten Praios, und der hegt meines Wissens keinen Groll gegen eine Armbrust“, Roban wandte den Blick kurz von Edelbrecht ab, „ZWEIUNDDREISSIG!!“
„Wenn Ihr so weiter macht, habt Ihr diese Landplage bis zum letzten Standort vom Antlitz Deres vertilgt“, lachte Edelbrecht über die fast schon zwergische Beharrlichkeit, mit der Roban jede Mücke in Reichweite attackierte.
„Wie gesagt, mich stört Eure Armbrust nicht, aber wer Rondra dient, darf damit allenfalls jagen gehen“, nahm Roban den Faden wieder auf.
„Außerdem hatte der Herr Goldmund von Koschtal um ein Schwert gebeten – keine Ahnung, wie der zur Armbrust steht. Ist Eure Zwergenarbeit?“
Der Koschtaler warf einen prüfenden Blick auf die Waffe, die noch immer über Edelbrechts Schulter ruhte.
„Scheint mir fast so!“
„Überzeugt Euch selbst!“
Edelbrecht reichte die Armbrust nicht ohne Stolz weiter. Roban nahm sie prüfend in die Hände, spannte sie mit geübten Bewegungen, ging kurz in Anschlag und zog den Hahn ab.
„Nicht übel. Gut ausgewogen, und ein ordentlicher Zug. Das schlägt durch einen Harnisch wie durch ein Fliegennetz! DREIUNDDREISSIG!!“
Er gab Edelbrecht die Armbrust zurück, der sich fragen musste, wie ein Mann, der eine Armbrust so sehr verachtete, ein derart fundiertes Wissen über diese Waffen besaß.